Vom Wissen zur Weisheit

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Porträt
Publiziert am:

April 30, 2024

Mit:
Rufus Pollock
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AUSGABE:
Ausgabe 42 / 2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
Diese Ausgabe erkunden

Rufus Pollocks Weg zum Wesentlichen

Jedes Mal, wenn ich zutiefst verloren war«, erzählt mir Rufus ­Pollock nur wenige Minuten nach Beginn unseres Gesprächs, »hat großes Leid mein Wachstum beschleunigt.« Ich erreiche ihn im Gemeinschaftsprojekt Life Itself, das er und seine Frau Sylvie Barbier 2014 gegründet haben, um der Frage nachzugehen: »Was ist gelebte Weisheit?«

Solch tiefgreifende Fragen nach Sinn und dem Wirken in der Welt begleiten ihn, solange er zurückdenken kann. Schon früh fragte sich Rufus: »Wer sind wir und was tun wir, warum sind wir hier? Warum sehen wir einander nicht in die Augen, warum sind wir nicht zutiefst miteinander verbunden?«

Rufus wurde in England auf einem Bauernhof geboren und wuchs in einer unkonventionellen, intellektuell anregenden Umgebung auf. Seine Eltern waren eine »ungewöhnliche Kombination« aus einer Mutter, die als Landwirtin eine Pionierin des ökologischen Landbaus war, und einem Vater, der als Anwalt arbeitete. Sie vermittelten ihm die Werte von intellektueller Bildung und konzentrierter Arbeit. Die Diskussionen am Esstisch mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester waren tiefschürfend: Fragen wie »Wann hat Shakespeare gelebt?« und »Welche Argumente gibt es für und gegen die Todesstrafe?« waren an der Tagesordnung.

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Er hatte schon immer einen unstillbaren Wissensdurst. Und, so sagt er: »Ich war verhaltensauffällig, erhielt aber keine Diagnose.« Im Alter von 12 Jahren begann er sich für höhere Mathematik und Neurowissenschaften zu interessieren und brachte sich das Wissen aus Lehrbüchern selbst bei. Mit 14 Jahren hatte er einen ersten Aha-Moment: Er erkannte, dass Regeln von Menschen gemacht sind und nur Konventionen darstellen. Er begann sich zu fragen, warum er zum Beispiel Lehrern gehorchte. Menschen, so seine Überlegung, haben nur Macht, weil wir sie ihnen geben. Zunehmend langweilte er sich in der Schule, schwänzte Stunden oder flog aus dem Unterricht. Er zog es vor, sich selbst Fächer wie Teilchenphysik, fortgeschrittene Mathematik und Geschichte beizubringen, die an seiner Schule nicht gelehrt wurden.

»Wie können wir Pionierarbeit für das neue Paradigma leisten, von dem alle reden?«

Bei der Vertiefung seines Interesses an den Neurowissenschaften stieß er auf die Psychopharmakologie und las in einem Lehrbuch über Psychedelika. Er war sofort fasziniert. Nach weiteren Nachforschungen – was in den Zeiten vor dem Internet im ländlichen England nicht einfach war – experimentierte er mit LSD. Bei einem einschneidenden Erlebnis im Alter von 16 Jahren erlebte er einen tiefgreifenden Identitätsverlust, ihn beschäftigte die Frage »Was ist es, das beobachtet?« Dies war ein wichtiger Schritt auf Rufus’ Weg zur intensiven Erforschung unserer Identität, des Bewusstseins und der Struktur der Wirklichkeit.

Es war ein »gescheiterter Durchbruch«, wie er die Momente nennt, in denen er in ein tieferes Verständnis eintrat, nur um dann wieder in konventionelle Denkweisen zurückzufallen. Er war mit diesen Erfahrungen völlig allein. Außerdem war es eine Herausforderung, die Erkenntnisse aufrechtzuerhalten: »In gewisser Weise betrachte ich Psychedelika als einen Erleuchtungskonsum. Man nimmt dieses Mittel und hat eine intensive Erfahrung, aber sie kann ohne eine Struktur oder Praxis, die sie aufrechterhält, sehr schnell wieder verpuffen.« Auf der Suche nach Antworten las er über den Buddhismus – doch seine ersten Erfahrungen mit einem trockenen Lehrbuch waren nicht sehr inspirierend. Nichtsdestotrotz war dies der Beginn einer Meditationspraxis, die er seit über 20 Jahren beibehalten hat.

Die Frage nach dem Sinn trieb Rufus weiterhin um. »Warum sollte man eine Universität besuchen«, fragte er sich an der Schwelle zum Erwachsensein, »nur weil die Leute das so machen?« Er hatte den starken Wunsch, stattdessen Schafhirte und Dichter zu werden, aber diese Idee brachte seinen Vater zum Lachen. Ein paar Monate später studierte Rufus schließlich doch Mathematik in Cambridge. Nach einem Bachelor- und einem Masterabschluss in Mathematik, einem Jahr der Studienunterbrechung, in dem er Romancier werden wollte, und einem Master- und einem Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften, folgte ein angesehenes Forschungsstipendium. Sein akademischer und beruflicher Werdegang zeigt einen ständigen Balance­akt zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und seinem inneren Drang, die tieferen Fragen des Lebens zu verstehen.

»Das Internet kam auf, und der Übergang von der physischen Produktion mit Materie zur metaphysischen Produktion mit Bits war die größte Veränderung der Produktionswirtschaft in der Geschichte der Menschheit. Ich sah eine Chance, das Wesen der Wirtschaft zu verändern, indem alle Informationen frei und offen zugänglich wurden.« Rufus’ Entscheidung, auf einen herkömmlichen Karriereweg zu verzichten (er wurde von Hedge-Fonds angeworben) und stattdessen 2004 die Open Knowledge Foundation zu gründen, unterstreicht sein Engagement für die Nutzung von Informationen zum gesellschaftlichen Wandel. Sie verdeutlicht aber auch die Herausforderungen, die es mit sich bringt, Veränderungen innerhalb bestehender Strukturen zu bewirken.

Ein Jahrzehnt später gestand sich ­Rufus endlich ein, was er insgeheim schon lange wusste: Offenes Wissen führt nicht zu einem offenen Geist. Der Besitz von Informationen verändert die Menschen nicht; es ist unsere Fähigkeit, uns auf kollektive Weisheit einzulassen und unsere Vorstellungen wirklich zu ändern. »Das intellektuelle Denkvermögen ist nur ein kleiner Teil einer tiefgreifenden Veränderung, welcher die Menschen dazu bringt, anders zu handeln«, sagt Rufus. 2014 wurde zu einem Jahr des Loslassens, als seine erste Ehe in die Brüche ging, sein Vater eine tödliche Diagnose erhielt und er sich von der Open Knowledge Foundation zurückzog. Diese persönlichen Prüfungen dienten als Katalysatoren für tiefgreifendes persönliches Wachstum und eine Neubewertung der Prioritäten. Als Rufus später im Jahr Sylvie, seine zweite Frau, kennenlernte, wurde Life Itself schnell zu einem Raum für die Erforschung des Zusammenlebens sowie für Projekte und Initiativen, die einen gelebten Wandel hin zu einer weiseren und gesünderen Welt unterstützen.

Life Itself beruht auf der Erkenntnis, wie wichtig es ist, persönliche Einsichten in das eigene Handeln und den eigenen Beitrag zur Gesellschaft zu integrieren. »Wie kann man weiser leben, Präsenz und Sinnfindung integrieren, meditieren und etwas in der Welt bewirken? Wie können wir spirituell erwachen und es mit einer Familie und einem Job verbinden?«

Rufus’ Vision ist eine tiefgreifende soziale Transformation, die über den traditionellen Aktivismus hinausgeht. Bei Life Itself, das schnell über Rufus und Sylvie hinauswuchs, erkannte man, dass die Auseinandersetzung mit den inneren Dimensionen des Wandels entscheidend ist, um eine nachhaltige gesellschaftliche Wirkung zu erzielen. Life Itself fördert eine Gemeinschaft von Menschen, die sich dem inneren Erwachen und dem gesellschaftlichen Engagement verschrieben haben und den Grundsatz verkörpern, dass wahre Veränderung von innen kommt. »Wie können wir Pionierarbeit für das neue Paradigma leisten, von dem alle reden? Wir wollen tatsächlich versuchen, ein erwachtes Leben in der Welt zu führen und eine soziale Bewegung für tiefgreifende Veränderungen aufbauen. Wie können wir eine Bewegung schaffen, die durch Zusammenbrüche und Erschütterungen hindurch stark bleibt, insbesondere angesichts der Klimakrise? Ich habe die Antworten nicht, aber mein Traum ist, zu solch einer Bewegung beizutragen.«

Diese Philosophie und die Handlungen, die sie umsetzen, laden uns ein, nach innen zu schauen, uns mit unseren eigenen Kämpfen und Einsichten zu konfrontieren und mit einem erneuerten Engagement zu einer Welt beizutragen, die unsere höchsten Ideale und tiefsten Einsichten widerspiegelt. Für Rufus gibt es zwei falsche Geschichten, die für ihn und andere zu Leiden führen: der Gedanke, dass »ich nicht erwünscht bin und dass ich etwas in Ordnung bringen muss«. Er hält inne und fährt fort: »Ich möchte mich weiterhin dafür einsetzen, etwas zu bewirken, aber nicht aus einer Haltung des Leidens und der Reaktivität heraus, sondern nur aus einer Haltung der Wirksamkeit. Es gibt immer eine Spannung zwischen dem Wunsch, etwas zu bewirken, und der Demut vor der eigenen Möglichkeit. Kurz gefasst: einfach weiterspielen.«


www.lifeitself.org

Audio zum Thema:

Rufus Pollock in Radio evolve:

www.t1p.de/d05s6

Author:
Miranda Perrone
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