Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 15, 2024
evolve: In der momentanen Situation treffen wir auf viel Unbekanntes. Neben der Herausforderung, neue Visionen für die Zukunft zu entwickeln, stellt sich die Frage, wie wir mit der Demokratiekrise umgehen können. Was ist hilfreich und notwendig, um dieser Situation zu begegnen?
Tomas Björkman: Unser demokratisches System hat uns über einige hundert Jahre gute Dienste geleistet. Es hat der Gesellschaft und der Mehrheit der Menschen in der westlichen Gesellschaft Wohlstand gebracht und nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Ausbreitung in der ganzen Welt dazu beigetragen, die Welt relativ friedlich zu halten. All das scheint jetzt zusammenzubrechen. Und ich glaube, dass man einen wichtigen Einblick in diesen Zusammenbruch des demokratischen Systems gewinnen kann, wenn man die spirituelle Dimension in die Analyse einbezieht.
Unter der spirituellen Dimension kann man natürlich vieles verstehen, ich würde mindestens zwei Aspekte einbringen: Das eine ist die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ausrichtung, des »True North« oder der Wertebasis einer Gesellschaft. Unser demokratisches System im Westen stützte sich lange auf die traditionellen westlichen Ideale, eine Kombination aus christlichen Werten und denen der griechischen und römischen Philosophie. Im Laufe der letzten 50 Jahre haben die Säkularisierung und das postmoderne philosophische Denken der westlichen Welt diesen Leitstern, unsere Wertebasis, die wir für selbstverständlich hielten, verdrängt.
Als metamoderner Denker sieht Tomas Björkman unsere Kultur in einem grundlegenden Übergang. Nur wenn wir diesen Wandel verstehen, finden wir die Orientierung, die unserem gesellschaftlichen Handeln eine sinnvolle, friedliche, lebensdienliche Richtung gibt.
evolve: In der momentanen Situation treffen wir auf viel Unbekanntes. Neben der Herausforderung, neue Visionen für die Zukunft zu entwickeln, stellt sich die Frage, wie wir mit der Demokratiekrise umgehen können. Was ist hilfreich und notwendig, um dieser Situation zu begegnen?
Tomas Björkman: Unser demokratisches System hat uns über einige hundert Jahre gute Dienste geleistet. Es hat der Gesellschaft und der Mehrheit der Menschen in der westlichen Gesellschaft Wohlstand gebracht und nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Ausbreitung in der ganzen Welt dazu beigetragen, die Welt relativ friedlich zu halten. All das scheint jetzt zusammenzubrechen. Und ich glaube, dass man einen wichtigen Einblick in diesen Zusammenbruch des demokratischen Systems gewinnen kann, wenn man die spirituelle Dimension in die Analyse einbezieht.
Unter der spirituellen Dimension kann man natürlich vieles verstehen, ich würde mindestens zwei Aspekte einbringen: Das eine ist die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ausrichtung, des »True North« oder der Wertebasis einer Gesellschaft. Unser demokratisches System im Westen stützte sich lange auf die traditionellen westlichen Ideale, eine Kombination aus christlichen Werten und denen der griechischen und römischen Philosophie. Im Laufe der letzten 50 Jahre haben die Säkularisierung und das postmoderne philosophische Denken der westlichen Welt diesen Leitstern, unsere Wertebasis, die wir für selbstverständlich hielten, verdrängt.
Ein weiteres Problem ist die rasante Entwicklung der Technologie. Das liberale demokratische Wirtschaftssystem hat die technologische Entwicklung immer weiter vorangetrieben. Die Herausforderungen und Möglichkeiten, mit denen wir heute durch die Explosion der künstlichen Intelligenz konfrontiert sind, stellen das demokratische System vor große Herausforderungen, genauso wie die Einführung der sozialen Medien vor zehn Jahren. Jetzt haben wir ein veraltetes demokratisches System und Institutionen, die sich nicht schnell genug bewegen und mitentwickeln.
»Die vorherrschende Weltsicht versteht nicht, wie wichtig die innere Entwicklung ist.«
Dazu kommt, dass das Leben in einer so schnelllebigen und zunehmend internationalen und multikulturellen Welt größere Anforderungen an uns als Individuen stellt, ein solches Umfeld kognitiv und emotional verstehen und darin handeln zu können. Das wird noch wichtiger in einer demokratischen Gesellschaft, in der das gesamte politische System darauf beruht, dass eine wesentliche Mehrheit der Bevölkerung in der Lage ist, die Welt zu verstehen und mit ihrer Komplexität emotional und kognitiv umzugehen. Und deshalb in der Lage ist, ihre demokratischen Rechte und Pflichten sinnvoll auszuüben.
Inmitten des Übergangs
e: Wie können wir diese Herausforderungen meistern?
TB: Wir befinden uns in einem grundlegenden Wandel, der unsere kulturelle Weltsicht und unser Paradigma betrifft. Die Menschheit hat im Laufe der Zeiten schon viele Übergänge erlebt: von der Vormoderne zur Moderne durch die Aufklärung und die industrielle, wissenschaftliche Revolution. In jüngerer Zeit haben wir uns der postmodernen Kritik an den Mängeln des Projekts der Moderne zugewandt.
In der vormodernen Welt fungierte die Religion als Nordstern, in der Moderne war es die Wissenschaft, und in der postmodernen Welt ist es meiner Ansicht nach der Markt. Wir lassen den Markt über den Wert der Arbeit eines Investmentbankers oder einer Krankenschwester entscheiden. Alle Werte laufen in der postmodernen Welt auf das Finanzielle hinaus. Selbst die Politik wird bestimmt durch finanzielle Werte, Kampagnenfinanzierungen und Marketingkonzepte.
In dieser Situation brauchen wir einen Wandel in unserem Weltbild. Auch wenn wir aus der postmodernen Erkenntnis wissen, dass unsere Weltanschauungen und unsere Nordsterne von uns Menschen sozial konstruiert sind, brauchen wir sie dennoch. Eine Gesellschaft ohne eine solche Wertebasis wird auf Dauer nicht überleben.
Auf welche Art von Nordstern würde eine metamoderne Weltanschauung ausgerichtet sein? Es ist eine Weltsicht, die die prämoderne, moderne und postmoderne Weltsicht integriert und transzendiert. Zunächst einmal ist es wichtig zu verstehen, dass jeder metamoderne Nordstern immer nur ein vorläufiger wäre: eine Proto-Weltanschauung, die den dynamischen Veränderungen im Zuge des Wandels der Gesellschaft, nicht zuletzt aufgrund der technologischen Entwicklung, unterläge. Und doch ist es wichtig, sich zumindest auf einen vorläufigen oder temporären Nordstern zu einigen. Einer der Leitpunkte, die uns helfen können, einen Nordstern zu finden, ist die Einsicht, die in vielen religiösen Weltanschauungen deutlich geworden ist: die Möglichkeit und die Notwendigkeit der inneren Entwicklung des Menschen. Man kann das spirituelle Entwicklung nennen und es als Teil unseres spirituellen Instinkts betrachten, als Mensch zu wachsen und zu reifen. Es braucht keinen religiösen Rahmen, um diese lebenslange Reise der Reifung und des Wachstums zu verstehen. Die gegenwärtige entwicklungspsychologische Denkweise und Forschung zeigt, dass sich alle Menschen ihr Leben lang auf einer inneren Entwicklungsreise befinden. Das hängt mit unserem inneren Kompass und unserer Fähigkeit zusammen, eine Wertebasis nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in uns selbst zu finden, um uns mit etwas Größerem und grundlegend Menschlichem zu verbinden.
»Die Metamoderne ist ein Projekt der Wiederentdeckung und Integration von Weisheit aus der Vergangenheit.«
Für mich besteht der Nordstern der Metamoderne darin, eine Gesellschaft mitzugestalten und ständig weiterzuentwickeln, die so vielen ihrer Mitglieder wie möglich hilft, ihr Potenzial an innerem Wachstum und Entwicklung zu verwirklichen. Der Entwicklungspsychologe Robert Kegan spricht von der Notwendigkeit, bewusst entwicklungsorientierte Organisationen zu schaffen, die die innere Entwicklung all ihrer Mitglieder unterstützen. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und eine bewusst entwicklungsorientierte Gesellschaft schaffen, die den Menschen in seiner Entwicklung wirklich ernst nimmt.
Innere Entwicklung fördern
e: Und die Initiative der Inner Development Goals ist ein Versuch, darauf zu reagieren?
TB: Ja. Das Projekt »Inner Development Goals« ist der Versuch, einen vereinfachten Rahmen dafür zu schaffen, was die innere Entwicklung des Menschen mit sich bringen könnte. Es benennt 23 innere Fähigkeiten und Fertigkeiten, die laut wissenschaftlicher Erkenntnis entwickelt werden können. Wir unterteilen sie in die fünf Dimensionen der Entwicklung unseres Seins, unseres Denkens, unserer Beziehungsfähigkeit, unserer Fähigkeit zur Zusammenarbeit und unserer Fähigkeit zum Handeln. Die Entwicklung dieser inneren Fähigkeiten bereitet uns als Einzelne, aber auch als Gruppen darauf vor, kognitiv und emotional in der Lage zu sein, in einer komplexeren und sich rasch verändernden Gesellschaft zu leben, zu denken, in Beziehung zu treten, zusammenzuarbeiten und zu agieren. Wenn wir vielen Menschen helfen und sie darin unterstützen können, diese Fähigkeiten zu entwickeln, werden wir die Demokratie stärken, damit sie auch in einem komplexen und sich schnell verändernden globalen Umfeld funktionieren kann.
e: In dem Bild, das du zeichnest, gehst du davon aus, dass uns in einer Situation wie dieser die Entwicklung einer inneren Wachstumsdynamik ermöglicht, die beiden von dir genannten Herausforderungen zu bewältigen. Es scheint, dass der Stresspunkt der Gesellschaft, der auch ein Teil des Zusammenbruchs der Demokratie ist, den gegenteiligen Effekt zeigt. Siehst du von der individuellen wie von der kollektiven oder institutionellen Seite her Strategien, die der Fragmentierung der Gesellschaft, die wir in der modernen Demokratie gerade erleben, entgegenwirken, um diesen Wendepunkt für inneres Wachstum zu schaffen?
TB: Die Idee der Bedeutung von innerem Wachstum und Entwicklung für das gute Funktionieren der Demokratie ist nicht neu. In Lene Andersons und meinem Buch »Das skandinavische Geheimnis« erzählen wir die Geschichte der Entwicklung der nordischen Demokratien und welche wichtige Rolle diese Komponente der inneren Entwicklung und Volksbildung dabei spielte. Wir zeigen auf, dass der Prozess, der vor 150 Jahren in leicht unterschiedlichen Varianten in Dänemark, Norwegen, Schweden und später in Finnland ablief, als Fallstudie dienen kann. Die Vorteile dieser Programme wirken sich in den nordischen Ländern noch heute aus.
Aufbauend auf den deutschen Idealisten und Bildungsphilosophen wie Schiller, Herder, von Humboldt oder Hegel basierten sie darauf, dass unser Geist keine rationale Maschine ist, wie die Philosophen der Aufklärung dachten, sondern ein empfindliches, organisches System, das ein Leben lang entwickelt werden kann, und dass diese Entwicklung zum Wohle des Einzelnen, aber auch zum Wohle der Gesellschaft gefördert werden kann. Diese Entwicklung ist nie ein individueller Prozess, sondern findet immer in einem gesellschaftlichen Kontext statt. Dieser Blick auf die Welt macht deutlich, dass die Entwicklung innerer Fähigkeiten – und deren innere Verankerung und Stärke – der Demokratie dienlich ist.
Das Problem besteht heute darin, dass die vorherrschende Weltsicht in den westlichen Gesellschaften nicht versteht, wie wichtig die innere Entwicklung ist. Wir haben uns so sehr auf die äußere Welt konzentriert und auf das, was sich eindeutig in Zahlen messen lässt. Und Entwicklung ist eine so komplexe, organische Erfahrung, dass es sehr schwierig ist, sie wissenschaftlich und empirisch zu untersuchen, weil sie sehr individuell ist, wir uns auf unterschiedlichen Entwicklungspfaden befinden und weil sie auch ein kollektiver Prozess ist.
»Wir brauchen eine Kultur, die das demokratische System unterstützt.«
Überraschend viele Unternehmen erkennen heute die Notwendigkeit, die innere Entwicklung ihres Top-Managements zu unterstützen, einige sogar für all ihre Mitarbeitenden. Erstaunlicherweise werden diese Konzepte also eher von Unternehmen als von anderen gesellschaftlichen Akteuren aufgegriffen. Das mag daran liegen, dass Unternehmen sich in einem wettbewerbsintensiveren Umfeld befinden als beispielsweise Hochschulen oder Behörden. Und sie haben erkannt, dass sie angesichts der hohen Burnout-Raten bei Führungskräften und Mitarbeitenden in Schlüsselpositionen alles tun müssen, sie darin zu unterstützen, die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten zu entwickeln, um in dieser Welt zurechtzukommen.
Ein gemeinsamer Schöpfungsprozess
e: Wie siehst du die Notwendigkeit, den Nordstern beziehungsweise die Grundsätze dessen, was es bedeutet zu reifen, neu zu definieren? Oder glaubst du, dass diese Kategorien noch intakt sind, weil sie auf den Paradigmen unserer Weltsicht der letzten 200 Jahre beruhen?
TB: Im Laufe der Paradigmenwechsel, die wir als Menschheit und als westliche Zivilisation durchlaufen haben, wurden viele wichtige menschliche Erkenntnisse verworfen. In spirituellen, indigenen und westlichen philosophischen Traditionen gibt es eine Menge Erkenntnisse, von deren Wiederentdeckung wir profitieren würden.
Das Projekt der Metamoderne ist ein Projekt der Wiederentdeckung und Integration von Weisheit aus der Vergangenheit. Und es ist die Einsicht, dass die Welt, in der wir heute leben, eine grundlegend andere ist als noch vor 20 Jahren. Sie wird sich in den nächsten zehn Jahren erneut grundlegend verändern. Während wir also aus der Vergangenheit lernen, müssen wir verstehen, dass diese alten Erkenntnisse in eine neue dynamische internationale multikulturelle Gesellschaft integriert werden müssen. Möglicherweise müssen wir die großen Weisheiten und Einsichten der vergangenen Jahrhunderte und sogar Jahrtausende durch eine völlig neue Weisheit ergänzen. Das ist eine kulturelle und philosophische Aufgabe. Es wird ein menschliches, kollektives, gemeinsam geschaffenes Werk sein, das in den verschiedenen Teilen der Welt viele verschiedene Umsetzungen erfahren wird.
Eine wichtige postmoderne Erkenntnis ist nicht nur die Akzeptanz, sondern die Wertschätzung einer multikulturellen Welt. Ich hoffe, auch die Zukunft wird multikulturell sein, aber es werden integrierte, sich gemeinsam entfaltende Kulturen sein müssen, um Frieden zu ermöglichen. Wir müssen die Welt, die Erzählungen, unsere Weltanschauungen kollektiv als menschliche Konstruktionen sehen – und sie nicht abwerten, weil sie menschliche Konstrukte sind. Wir können den Prozess der Mitgestaltung neuer Weltsichten und Kulturen wertschätzen, die in der Lage sind, eine globale Zivilisation in einem sich schnell verändernden technologischen Umfeld zu stützen. Das ist unsere kollektive Herausforderung. Die Erkenntnis, dass wir alle Teil dieses gemeinsamen Schöpfungsprozesses sind, gibt meinem Leben nicht nur einen Nordstern, sondern auch einen Sinn, der mich über die nihilistische, postmoderne Tendenz der heutigen Gesellschaft hinausführt.
Bewusste Mitgestaltende
e: Wenn ich eine etwas schwierige Frage stellen darf: Du warst gerade auf einer längeren Reise in China. Eine Denkmöglichkeit ist, dass dies nicht die Krise der Demokratie ist, sondern das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen. Das Organisationsprinzip demokratischer offener Gesellschaften ist, so könnte man argumentieren, in der ökologischen Krise und technologischen Entwicklung nicht konkurrenzfähig. Zeigt diese Krise, an welchen Stellen wir radikal überdenken müssen, was Demokratie in einer offenen Gesellschaft leisten kann?
TB: Viele Menschen erkennen heute, dass die westliche Demokratie in einer Krise steckt. Die Frage ist vielleicht, ob sie gerettet werden kann oder ob dies das Ende der Demokratie ist, wie wir sie kennen. Ich denke, sie kann gerettet werden. Wir müssten die Demokratie neu erfinden, um weniger wettbewerbsorientiert und weniger polarisierend zu sein und uns mehr auf Zusammenarbeit und gemeinsame Gestaltung zu konzentrieren. Wie können wir von einem System, das Politiker und Medien den Anreiz gibt, Konflikte zu schaffen – manchmal künstliche Konflikte, nur um sich zu positionieren – zu einem System übergehen, das die Zusammenarbeit und das Finden ganzheitlicher Lösungen fördert? Wie können wir ein politisches System schaffen, in dem das Wohl unserer Gesellschaft Vorrang vor den kurzfristigen Gewinnen meiner Partei oder meines politischen Kandidaten hat?
Wir müssen die Demokratie neu erfinden und uns dabei bewusst machen, dass Demokratie nicht nur ein institutionelles System ist. Sie ist auch eng mit der Kultur verbunden. Wir brauchen eine Kultur, die das demokratische System unterstützt. Wir brauchen eine verjüngte demokratische Kultur. Das hängt mit unseren inneren Fähigkeiten zusammen, uns als bewusste Mitgestaltende sinnvoll an diesem kulturellen Prozess beteiligen zu können. Einer der wichtigsten Aspekte bei der Neuerfindung der Demokratie besteht für mich darin, mehr Menschen dabei zu helfen, sich mit ihrem eigenen inneren Kompass, ihren wahren Werten zu verbinden und diese tieferen Werte von den oberflächlichen Werten unserer Konsumkultur zu unterscheiden. Und das ist eine zutiefst spirituelle Aufgabe.