Der Tritt über die Schwelle

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 30, 2024

Mit:
Geseko von Lüpke
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AUSGABE:
Ausgabe 42 / 2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Wege in eine andere Wirklichkeit

Als Journalist, Autor und Begleiter von Visionssuchen vertieft sich Geseko von Lüpke seit vielen Jahren in rituelle Räume als Tor in eine symbolische Wirklichkeit, das uns allen offensteht. Er plädiert für einen mündigen Umgang mit solchen transformativen Prozessen.

evolve: Du hast durch deine Überlegungen zu einer emanzipativen Gesellschaftsgestaltung und zu einer sinnerfüllten Lebensgestaltung deinen eigenen Zugang zu Ritualen gefunden. Wie hat sich dieser Zugang für dich geöffnet?

Geseko von Lüpke: Ich bin auf der einen Seite Journalist und Publizist und setze mich mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen auseinander. Parallel dazu habe ich mich mit inneren Wachstumsprozessen beschäftigt und konnte diese beiden Spuren in mir lange nicht zusammenbringen. Durch die Begegnung mit Lehrern der Tiefenökologie wie Joanna Macy, Arne Naess und John Seed und den Kontakt zur Visionssuche, die ich seit über 25 Jahren praktiziere, haben sich rituelle Räume aufgetan. Diese Räume haben sich für mich als mindestens genauso inhaltsreich und differenziert herausgestellt wie theoretische intellektuelle Konstruktionen. Ich hatte immer mehr den Eindruck, dass uns durch unsere Sozialisation die rituelle Realität und der Zugang zur Transzendenz weitgehend verschlossen sind. Wir erfahren es als etwas Fremdes, Gefährliches, Irritierendes, rational nicht Verstehbares. Deshalb spielt es in unserer Alltagsrealität kaum eine Rolle. Aber es sind Wirklichkeitsräume, die eine enorme Wirkung für unseren Wachstumsprozess haben und die durchaus intellektuell verstanden werden können.

Rituelle Räume

e: Was bedeutet es, einen rituellen Raum zu betreten? Was ist das für ein Raum?

GvL: Rituale sind überall in unserem Alltag präsent, aber meistens nicht bewusst. Man denke an den roten Teppich beim Staatsbesuch, den jemand betritt und damit eine besondere Bedeutung erhält. Man denke an kirchliche Rituale mit Weihwasser, wo durch Gesten ein Moment besonders aufgeladen wird. Oder die zeremonielle weiße Kleidung der Ärzte in Krankenhäusern, die ihnen eine besondere Aura verleiht. Das sind Rituale, die uns gar nicht mehr auffallen, die aber trotzdem mit Symbolen die Realität und Aufmerksamkeit verändern, indem sie besondere Räume kreieren.

Wenn man mit Ritualen bewusst arbeitet, dann findet ein Wechsel in der Wirklichkeitsebene statt. Deshalb spreche ich von rituellen Räumen und einer Schwelle, die wir dafür übertreten müssen. Über eine bewusste absichtsvolle Ausrichtung können wir so einen rituellen Raum schaffen, der sich zeitlich und räumlich von der Alltagsrealität abgrenzt. Wie durch eine Tür können wir jederzeit aus unserer Alltagsrealität in eine rituelle Welt eintreten, wenn wir das bewusst tun. Diese Welt existiert als Möglichkeit immer parallel. Wir können sie betreten, um aus dem linearen Zeitmodus in einen ewigen Zeitmodus, aus dem rationalen in einen archetypischen Bereich einzutreten, oder um aus unserem Mikrokosmos Anschluss an den Makrokosmos zu finden. Das steht uns jederzeit zur Verfügung, aber es ist wesentlich zu sagen: »Jetzt betreten wir einen rituellen Raum«, um den Wechsel wahrnehmbar zu machen. Wenn wir uns dieses Wechsels bewusst sind, können wir uns auch nicht im rituellen Raum verlieren, sondern bewusst zwischen diesen Wirklichkeitsebenen, die nebeneinander existieren, hin und her wechseln.

e: Beim Alltagsbewusstsein können wir uns leicht darüber verständigen, wovon wir sprechen. Wenn wir einen rituellen Raum betreten, wenn wir über diese Schwelle gehen, sind wir offensichtlich woanders. Wo kommen wir da an und warum ist das bedeutsam?

GvL: Für mich ist es eine Art ›Seelenraum‹ jenseits unserer alltäglichen Begrenzungen. Rituale brauchen eine Ausrichtung. Es braucht ein Motiv, um ein Ritual zu machen. Wir müssen zwischen Ritualen und Gewohnheiten unterscheiden. Auch zwischen leeren Zeremonien und bedeutungsvollen Ritualen. Bestimmte kirchliche Zeremonien oder Richterroben im Gericht sind eigentlich keine Rituale, sondern sinnentleerte zeremonielle Symbole. Wenn wir aber ein tiefes, aufgeladenes, bedeutungsvolles Ritual feiern wollen, dann braucht es eine Absicht, ein Motiv und eine Bewusstheit, die unsere Aufmerksamkeit bündelt.

»Wenn man mit Ritualen bewusst arbeitet, dann findet ein Wechsel in der Wirklichkeitsebene statt.«

Der Ruf nach einem Ritual kommt nicht aus unserem Intellekt oder Ego, sondern ist immer ein Ruf der Seele. Die Seele verlangt nach der Inszenierung eines Konfliktes, einer Erkenntnis oder einer Manifestation. Sie will einen kreativen Akt aus der unsichtbaren, wortlosen Innenwelt in die materielle Außenwelt transportieren. Und dafür ist das Ritual ein Prozess, der mit viel Bedeutung gefüllt ist und wie ein Pflock des Konkreten innere Prozesse im Außen manifestiert. Wir verbinden das Transzendente mit der Alltagswirklichkeit.

Symbolische Wirklichkeit

e: Ist es nicht so, dass dieser rituelle Raum auch eine besondere Beziehung zum Symbolischen hat, dass hier ein symbolischer Raum betreten wird, in dem im Gegensatz zu unserem Alltagsbewusstsein die lebendige Kraft von Symbolen uns auf eine Weise anspricht, die seelisch bedeutsam wird? Ist das bewusste Betreten des Raums mit der Kraft des Symbolischen ein Aspekt der Wirkung von Ritualen?

GvL: Symbole sind die Werkzeuge des Rituals. Im rituellen Raum macht man symbolische Erfahrungen, erzählt symbolische Geschichten und vollzieht symbolische Dramen. Symbole im rituellen Raum machen es möglich, die Tiefe unserer Gefühle an die Oberfläche zu bringen. Man denke an so ein Symbol wie eine Handvoll Erde, die wir ins Grab werfen. Das ist ein kleiner Akt, aber ein tiefes, tiefes Symbol. So geben Symbole und ihr ritueller Gebrauch bestimmten Aspekten Bedeutung und strukturieren unsere Wahrnehmung. Sie schaffen den Bezug zur Welt und ordnen das eigene Handeln im Ritual in einen größeren Zusammenhang ein. Wir verdichten die große Welt im Ritual symbolisch auf diesen kleinen rituellen Raum. Und die Erfahrungen dort haben Wirkung im Außen.

e: Der Theologe Paul Tillich hat eine Theorie über die Symbole entwickelt, die für mich sehr wichtig geworden ist. Er sagt, dass ein Symbol an dem, was es symbolisiert, teilhat. Es deutet nicht nur auf etwas anderes, sondern es ist schon Teil von etwas anderem. Wenn ich mich in einem Ritual auf ein Symbol ausrichte, nimmt es mich mit in eine transzendente Ebene. Ich betrete einen Raum, den ich im Alltag so nicht betrete und der mich verändert. Kannst du mit diesem Verständnis von Symbolen etwas anfangen?

GvL: Ja, für mich ist das Ritual ein Prozess, den wir auf der einen Seite betreten, in einem rituellen, kreativen Akt durch einen Transformations- und Erkenntnisprozess gehen und auf der anderen Seite des Rituals wieder aus dem rituellen Raum austreten und uns verwandelt haben. Neben der horizontalen gibt es eine vertikale Ebene, die Achse der Symbole, in denen die Rituale lebendig werden und unsere Gesten mit Bedeutung aufladen.

Die Symbole können völlig unterschiedlich sein, sie sind nicht festgelegt. Für jemanden, der im Wald ein Symbol gestaltet, mag ein sonst profaner Tannenzapfen, ein Ast oder eine Feder große Bedeutung haben. Die Form der Symbole ist also Teil des kreativen, theatralischen, rituellen Dramas. Eben durch Symbole wird in einem rituellen Raum etwas Unsichtbares sichtbar.

Symbole sind das Mittel, mit dem wir das innere Seelische und Heilige auf ein bestimmtes Symbol projizieren und nach außen transportieren. Damit erhält das Symbol eine Bedeutung in dieser speziellen rituellen Aufführung.

Jede rituelle Aufführung ist einmalig. Gleichzeitig haben sich viele Rituale über tausende von Jahren erhalten. Initiations- und Übergangsrituale sind wahrscheinlich die frühesten Rituale. Darin gibt es eine feste Struktur, die uns Sicherheit gibt, gleichzeitig ist die Aufführung jeder einzelnen Initiation einmalig. Es gibt also einen festen Rahmen und einen einzigartigen künstlerischen Ausdruck. Die Symbole sind ein inte­graler Bestandteil des Ganzen, denn ohne Symbole würden wir es wahrscheinlich gar nicht schaffen, das unsichtbare, transzendente Wissen oder den heiligen Impuls in uns sichtbar zu machen für uns und die Zeugen eines Rituals. Denn ein Ritual ist umso machtvoller, je mehr es bezeugt wird. Wenn wir es allein machen, hat es häufig eine Wirkung, die schnell wieder verschwimmen kann. Unter Zeugenschaft hat es eine größere Wirkung, denn die Manifestation ist größer.

Mündige Rituale

e: Mir scheint, wir haben als postmoderne Menschen eine eigentümliche Beziehung zu Ritualen. Einerseits gibt es eine gewisse Romantik, und wir wissen, dass uns Rituale über Jahrtausende als Menschheit begleitet haben. Aber unsere Identität, die in der Aufklärung entstanden ist, hat etwas stark Anti-Rituelles. Mit der Reformation und dann mit der Aufklärung sind rituelle Akte eigentlich ins Abseits geraten. Gleichzeitig gibt es jetzt eine Art von Renaissance, ein neues Bedürfnis nach Ritualen. Wie erlebst du diese Dynamik?

»Der Ruf nach einem Ritual ist immer ein Ruf der Seele.«

GvL: In einem integralen Verständnis haben wir die Möglichkeit, dieses uralte Werkzeug, das bis an den Beginn des menschlichen Bewusstseins zurückgeht und sich dann in verschiedenen Formen über die Jahrzehntausende ausgeprägt hat, bewusst zu nutzen. Heute ist wesentlich, dass wir uns nicht zu Opfern einer rituellen Magie machen, sondern dass wir dieses Werkzeug in einem kritischen Bewusstsein so nutzen, wie es uns und der Heilung der Erde dient.

Wegen der Manipulation durch Rituale wurden diese in den letzten 70 Jahren voller Misstrauen abgelehnt. Im Nationalsozialismus wurden Menschen durch den Einsatz von rituellen Symbolen in unbewusste, prärationale Räume hineinmanipuliert, wo sie ihre Selbstreflexion ein Stück weit verloren haben. Rituale können also missbraucht werden. Insofern müssen wir heute mit Ritualen bewusst umgehen.

e: Du gehst davon aus, dass wir bewusstere Umgangsformen mit Ritualen entwickeln können. Was meinst du damit?

GvL: Sie wirken auf die Tiefenstrukturen der Psyche und brauchen Respekt. Wir sollten mit Ritualen nicht herumzuspielen. ­Malidoma Somé, der Dagara-Schamane, sagte, dass ein Ritual eine klare Zielrichtung braucht, denn es sei wie ein Pfeil, den wir abschießen. Wenn wir den irgendwohin schießen, kann er Unheil anrichten und Menschen verletzen. Wichtig ist also die bewusste Gestaltung und Ausrichtung eines Rituals. Oft ist es sinnvoll, sich an rituelle Spezialisten zu wenden und sich nicht als Amateur in ein großes Ritual hineinzuwagen, wenn man nicht genau weiß, was es für Wirkungen entfalten kann.

e: Du sprichst also davon, dass es eine mündigere Umgangsform mit Ritualen gibt. Worin besteht diese Mündigkeit?

GvL: Die Mündigkeit besteht darin, dass wir heute durch die moderne Bewusstseinsforschung die Möglichkeit haben, diesen Prozess, der lange Zeit als pure Magie, Aberglaube oder psychische Manipulation abgelehnt wurde, zu verstehen. Durch die ethnologische Forschung an archaischen, magischen, schamanischen Kulturen wissen wir mehr über den dramaturgischen Aufbau von Ritualen und wie sie auf die Psyche wirken. Wir haben das bislang meist nicht verstanden, und ihre Wirkung war uns unheimlich. Heute können wir diese rituelle Struktur begreifen und uns diesen Schatz kultureller Überlieferung wieder zunutze machen.

Transformative Erfahrungen

e: Hast du eine Vision, wie wir das verwirklichen könnten?

GvL: Es wäre spannend, wenn religiöse Institutionen, in denen Rituale oft zu entleerten Zeremonien verkommen sind, und Menschen, die am Bewusstsein forschen, ihr Wissen weitergeben würden. Es könnte eine Form von modernem Religionsunterricht geben, in dem der Umgang mit Ritualen erklärt wird. Es könnte eine Aufgabe der Kultur sein, diese rituellen Räume verfügbar und als etwas ganz Selbstverständliches nutzbar zu machen, weil sie unseren Wahrnehmungs- und unseren Wirklichkeitsraum enorm erweitern. Sie bieten uns Möglichkeiten, eigenständig Räume des Heiligen zu betreten, für die wir keine Priester, Kirchen und Spezialisten brauchen, die unsere Wirklichkeitswahrnehmung auf eine bestimmte Ideologie oder Konfession reduzieren. Rituale können heilige Räume öffnen und darin heilen.

»Durch Symbole wird in einem rituellen Raum etwas Unsichtbares sichtbar.«

e: Du selbst begleitest seit 25 Jahren Menschen bei der Visionssuche. Was fasziniert dich an diesem rituellen Prozess?

GvL: Die Visionssuche ist ein umfangreiches, zwölftägiges Ritual, das auf uraltem Wissen aufbaut. Es hat eine festgelegte Struktur: Abtrennung von der normalen Welt, Eintritt in eine Schwellenwelt, Reintegration des Wissens aus der Schwellenwelt und Rückkehr in die Alltagswelt. Die Visionssuche ist ein Übergangsritual zwischen Lebensphasen: Man begibt sich aus der naturfernen modernen Zivilisation zurück in eine Anbindung an das größere Ganze, in die uns umgebende Mitwelt – den Wald, die Wildnis. Man tritt in einen rituellen Auszeitraum ein, in dem man sein ganzes Leben reflektiert und sein Narrativ umschreibt oder ergänzt. Man bekommt eine andere Zeitwahrnehmung, wenn man vier Tage fastend im Wald sitzt. Gleichzeitig geht ein endloser, ewiger Raum auf, und die profane Welt wird im Ritual geheiligt, weil wir uns mit der Welt neu verbinden.

Es ist ein tiefer Transformationsprozess, in dem man durch alle möglichen Bewusstseinsprozesse und Bewusstseinsebenen reist, die Möglichkeit hat, diese verschiedenen Dimensionen zu integrieren, Altes abzuschließen und sich in eine neue Lebensphase zu initiieren. Das ist ein sehr großes rituelles Format. Aber es gibt auch Rituale, die wir innerhalb einer halben Stunde durchführen können und die trotzdem eine tiefe Wirkung entfalten. Wichtig ist die grundsätzliche Ausrichtung, die Absicht, die Motivation, der innere Ruf und der Wille, mit einem Ritual nichts außer mir selbst zu beeinflussen. Und es braucht großen Respekt vor diesem Werkzeug, das uns das Universum zur Verfügung stellt, um wie in einem Kunstwerk der Seele Ausdruck zu geben und zu wachsen.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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