Gelebter Glaube

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Interview
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Tilmann Haberer
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Neue Formen des Christlichen

Mit Büchern wie »Gott 9.0«, »Von der Anmut der Welt« und zuletzt »Kirche am Ende« hat sich der Theologe und Seelsorger Tilmann Haberer mit einer Erweiterung christlichen Glaubens beschäftigt. Prägend war dabei für ihn der integrale Blick auf die Religion. Wir sprachen mit ihm über die Entfaltung seines Glaubens und wo er heute Kräfte der Erneuerung sieht.

evolve: Wie begann dein Weg zum christlichen Glauben?

Tilmann Haberer: Ich bin in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen und derjenige von uns vier Geschwistern, der sich am wenigsten von diesem christlichen Kontext absetzen musste. Ich habe Theologie studiert und war immer auf der Suche nach einer authentischen geistlichen Erfahrung. Während des Studiums habe ich eine klassische Bekehrung erlebt und im Rahmen einer charismatischen Veranstaltung mein Leben Jesus übergeben. Ich habe dann aber ganz rasch gemerkt, dass das nicht mein Weg ist, weil sich das Charismatische sehr schnell mit dem Fundamentalistischen gemischt hat. Das hatte eine Enge. Meine Erfahrung mit dem Heiligen Geist hat mich aber in die Weite geführt, in die Freiheit.

Dieser Zug in die Weite ist immer mehr geworden. Ich fuhr nach Taizé, einer Reformgemeinschaft in Frankreich, wo innerlich eine Tür aufgegangen ist. Es war der Keim für einen panentheistischen Glauben, in dem Gott in allem ist, auch in dem, was uns dunkel und schmerzhaft erscheint.

Danach war ich insgesamt 18 Jahre in Kirchengemeinden tätig, kam dabei aber nahe an einen Burnout und habe mich für ein Sabbatjahr beurlauben lassen, woraus eine Freistellung für sieben Jahre wurde. In dieser Zeit habe ich mich zunächst mit esoterischem Gedankengut beschäftigt und bin dann auf Ken Wilber gestoßen. Die Lektüre seiner Bücher hat bei mir viele Aha-Erlebnisse ausgelöst. Zum Beispiel hatte ich schon Jahre zuvor die Idee, dass Glaube oder Spiritualität eine Entwicklung durchlaufen. Bei Wilber fand ich ein System, in dem sich meine vagen Gedanken widerspiegelten. Ich hörte einen Vortrag der Theologin Marion Küstenmacher über die Stufen spiritueller Reifung und wir fanden heraus, dass sie auch Wilber gelesen hatte. Gemeinsam mit ihrem Mann Tiki schrieben wir das Buch »Gott 9.0«. Dieser integrale Blick hat mich dann viele Jahre beschäftigt.

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Neue Formen des Christlichen

Mit Büchern wie »Gott 9.0«, »Von der Anmut der Welt« und zuletzt »Kirche am Ende« hat sich der Theologe und Seelsorger Tilmann Haberer mit einer Erweiterung christlichen Glaubens beschäftigt. Prägend war dabei für ihn der integrale Blick auf die Religion. Wir sprachen mit ihm über die Entfaltung seines Glaubens und wo er heute Kräfte der Erneuerung sieht.

evolve: Wie begann dein Weg zum christlichen Glauben?

Tilmann Haberer: Ich bin in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen und derjenige von uns vier Geschwistern, der sich am wenigsten von diesem christlichen Kontext absetzen musste. Ich habe Theologie studiert und war immer auf der Suche nach einer authentischen geistlichen Erfahrung. Während des Studiums habe ich eine klassische Bekehrung erlebt und im Rahmen einer charismatischen Veranstaltung mein Leben Jesus übergeben. Ich habe dann aber ganz rasch gemerkt, dass das nicht mein Weg ist, weil sich das Charismatische sehr schnell mit dem Fundamentalistischen gemischt hat. Das hatte eine Enge. Meine Erfahrung mit dem Heiligen Geist hat mich aber in die Weite geführt, in die Freiheit.

Dieser Zug in die Weite ist immer mehr geworden. Ich fuhr nach Taizé, einer Reformgemeinschaft in Frankreich, wo innerlich eine Tür aufgegangen ist. Es war der Keim für einen panentheistischen Glauben, in dem Gott in allem ist, auch in dem, was uns dunkel und schmerzhaft erscheint.

Danach war ich insgesamt 18 Jahre in Kirchengemeinden tätig, kam dabei aber nahe an einen Burnout und habe mich für ein Sabbatjahr beurlauben lassen, woraus eine Freistellung für sieben Jahre wurde. In dieser Zeit habe ich mich zunächst mit esoterischem Gedankengut beschäftigt und bin dann auf Ken Wilber gestoßen. Die Lektüre seiner Bücher hat bei mir viele Aha-Erlebnisse ausgelöst. Zum Beispiel hatte ich schon Jahre zuvor die Idee, dass Glaube oder Spiritualität eine Entwicklung durchlaufen. Bei Wilber fand ich ein System, in dem sich meine vagen Gedanken widerspiegelten. Ich hörte einen Vortrag der Theologin Marion Küstenmacher über die Stufen spiritueller Reifung und wir fanden heraus, dass sie auch Wilber gelesen hatte. Gemeinsam mit ihrem Mann Tiki schrieben wir das Buch »Gott 9.0«. Dieser integrale Blick hat mich dann viele Jahre beschäftigt.

e: Wie hat sich dein Glaube durch die Begegnung mit der Integralen Theorie erweitert?

TH: Sehr hilfreich war für mich das Bild von den drei Gesichtern Gottes. Im Christentum ist Gott das Gegenüber, der ganz Andere, der Jenseitige. Mir hat aber dieses Bild von den drei Gesichtern Gottes sehr geholfen, meine eigenen Erfahrungen mit dem ersten Gesicht Gottes, mit dem Göttlichen in mir, zusammenzubringen mit meinem traditionellen Verständnis von Gott als dem Gegenüber und Schöpfer.

»Nichts mit Himmel und Hölle, sondern hier und jetzt.«

Es hat mir auch geholfen, meine christliche Tradition als nur eine Konfession der Welt-Spiritualität zu begreifen. Also den Absolutheitsanspruch aufzugeben, dass das Christentum mehr Wahrheit enthalten würde als eine andere Religion. Das Christliche ist meine Muttersprache, darin bin ich aufgewachsen. Ich habe auch Fremdsprachen gelernt und kann mich darin einigermaßen ausdrücken, meine Herkunft, mein geistliches oder spirituelles Zuhause aber ist das Christliche. Dahin bin ich wieder zurückgekehrt. Die integrale Perspektive lebt weiter in mir, allerdings habe ich in integralen Kreisen zum Teil einen Wettbewerb erlebt, wer nun am weitesten entwickelt wäre. Da hatte ich den Eindruck, hier verlieren Menschen die Bodenhaftung, eine realistische Selbsteinschätzung, den Bezug zum Alltag oder vernachlässigen ihre psychologischen »Hausaufgaben«. Mein Schwerpunkt liegt heute mehr bei den neuen Impulsen, die von der christlichen Basis kommen.

e: Wo siehst du solche Impulse, die Kirche und die christliche Praxis weiterzuentwickeln?

TH: Also ich sehe im Grunde zwei Stränge. Die ehemals großen Volkskirchen werden weiter bestehen. Sie werden immer weniger werden, aber die Institution wird sich nicht so schnell auflösen.

Eine andere Entwicklung hat mit der Institution Kirche wenig zu tun. Es gibt sehr viele kleine oder mittelgroße Initiativen von Menschen, die sich als Christen verstehen und sagen: Wir haben als Christen einen Auftrag in der Welt, in der Gesellschaft, mit unseren Mitmen­­schen­ – und wir tun das einfach.

Ein Beispiel ist die Lebensgemeinschaft Polylux in Brandenburg, die eine sehr gute Sozial- und Gemeinwesenarbeit aufgebaut hat. Ein anderes ist das Pixel-Sozialwerk in Erfurt. Es wurde von einem Ehepaar mit christlichem Hintergrund gegründet – sie Sozialarbeiterin, er Banker. Sie engagieren sich in der Spielplatzpädagogik und Randgruppenarbeit und sind damit sehr erfolgreich. Viele dieser Initiativen finanzieren sich aus Spenden, Fördermitteln, manchmal auch mit Zuschüssen der Kirchen, bleiben aber unabhängig.

Und sie sind nicht in dem Sinn missionarisch, dass sie Menschen vom christlichen Glauben überzeugen wollen. Sie sind eher diakonisch und karitativ ausgerichtet. Sie fragen: Was brauchen die Leute in dem Viertel, in dem wir leben? Sie machen Sozialraum-Analysen, schauen, was nötig ist, und machen ein entsprechendes Angebot. Oder sie sagen, wir wollen einfach mit den Menschen ins Gespräch kommen, denn es gibt viel zu wenig kommerzfreie Kommunikationsmöglichkeiten oder Treffpunkte. Ihre christliche spirituelle Identität leben diese Gruppen eher für sich, als eine Kraftquelle und einen Identifikationspunkt.

e: Zeigen sich darin für dich auch neue Möglichkeiten, den christlichen Glauben heute zu verstehen und zu leben?

TH: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in diesen Entwicklungen der Begriff »Nachfolge« eine neue Bedeutung bekommt. Nachfolge im Sinn von: Was hat Jesus gemacht? Er hat Kranke geheilt, Hungernde gespeist, er hat Menschen in die Gemeinschaft geholt, Grenzen überschritten, Frauen gewürdigt, er hat Menschen mit allen möglichen Einschränkungen in seinen Kreis gelassen. Heute würde man sagen, er hat inklusiv und integrativ gewirkt. Vor allem hat er Menschen in ihrer Situation geholfen, mit ihrem Leben besser zurechtzukommen. Und er hat vom Reich Gottes geredet, das sich in genau solchen Dingen konkretisiert. Nichts mit Himmel und Hölle, sondern hier und jetzt. Ganz konkret den Menschen helfen, ein erfülltes sinnvolles Leben in der Gemeinschaft zu führen.

Diesen Aspekt der christlichen Botschaft sehe ich als Motiv in diesen neuen Gemeinschaften und Aufbrüchen: tätige Nachfolge mit einem Bild vom Reich Gottes.

e: Wo siehst du heute deinen eigenen Platz in dieser Erneuerung des Glaubens?

TH: Zu meinem erfreuten Erstaunen habe ich immer wieder gehört, dass »Gott 9.0« vielen Menschen Wege eröffnet hat, einen engen Glauben zu überwinden und trotzdem den Glauben zu behalten. Ich sehe meine Rolle als jemand, der beschreibt und analysiert. Mit meinen Veröffentlichungen will ich den Leuten zeigen: Ja, ihr seid Teil einer Bewegung, es gibt andere, die mit euch unterwegs sind, von denen ihr vielleicht gar nichts wisst, mit denen ihr euch vernetzen könnt.

e: Religion hat auch mit einer Beziehung zum Heiligen zu tun, egal wie man das jeweils auffasst. Wie siehst du heute die Relevanz des Heiligen für unsere Kultur und welche Rolle spielt dabei der christliche Glaube, vielleicht auch in der neuen und zugleich ursprünglichen Form, die du hier angesprochen hast?

TH: Die Kirchen als Institutionen haben da ganz viel Kapital verspielt. Man nehme nur die zahlreichen Missbrauchsfälle. Als Förderer des Heiligen sind sie nicht mehr vertrauenswürdig. Diese neuen Bewegungen, die ich beobachte, gehen sehr »keusch« mit dem Heiligen um, sie pflegen es für sich. Sie schützen dieses Heilige und bewahren es in einem Arcanum. Damit es wieder neu anfangen kann zu strahlen.

Ich glaube nicht, dass eine Renaissance des Christlichen auf breiter Ebene bevorsteht. Es geht eher in die Verborgenheit oder in die Vielfalt. Es werden jetzt überall neue Samen ausgestreut. Wie Jesus in einem Gleichnis sagt, manches fällt unter die Dornen, manches fällt auf den Weg und wird zertrampelt, aber manches bringt Frucht. Manches hat in sich den Keim für etwas Neues.

Author:
Mike Kauschke
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