Die Kraft eines neuen Wir

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Book/Film Review
Published On:

January 23, 2023

Featuring:
Ulrich Schnabel
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Issue:
Ausgabe 37/2023
|
January 2023
Re-Generation
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Über das Buch »Zusammen. Wie wir gemeinsam globale Krisen bewältigen« von Ulrich Schnabel


Lassen Sie uns diese Krise gemeinsam bewältigen!« Der Satz gehört zum Standard-Repertoire, wenn Politiker und Politikerinnen eine Rede mit dem ganz großen Appell beenden wollen. So wahr, so abgenutzt. Deshalb wirkt der Untertitel des Buches »Zusammen« erst einmal abschreckend. Wäre da nicht der Autor Ulrich Schnabel. Als Redakteur bei der Wochenzeitung DIE ZEIT fällt er durch gleichermaßen kenntnisreiche wie anschauliche Wissensvermittlung auf. Einer, der Grenzgänge zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen Neurowissenschaften und Religion nicht scheut.

Die Zusammenschau von Erkenntnissen verschiedener Disziplinen ist seinem Thema angemessen und zudem die Quelle vieler überraschender Beispiele und Analogien. Etwa wenn uns gleich zu Beginn erklärt wird, wie kalifornische Mammutbäume es schaffen, stärksten Stürmen zu trotzen. Sie können mehrere tausend Jahre alt und mehr als 100 Meter hoch werden. Ihre Stabilität beruht nicht, im übertragenen Sinn, auf dem Ego-Prinzip (»ich und meine starken Wurzeln«), sondern auf dem Wir-Prinzip. Statt ihre Wurzeln möglichst tief in die Erde zu treiben, strecken sie sie unterirdisch so lange aus, bis sie die Ausläufer der Nachbarn erreichen. Dann geschieht das Erstaunliche: Sie verweben ihre Wurzeln dauerhaft miteinander. Haken sich unter. Trotzen fortan gemeinsam allen Widrigkeiten: gemeinsam durch die Krise.

Machen wir’s wie die Mammutbäume, sagt die Metapher. Das Buch lenkt den Fokus auf die hellen Seiten von Gemeinschaft und Gemeinsinn. Das war in Psychologie, Soziologie und Politologie lange eher selten der Fall. Ihnen ging es vielmehr um Themen wie Gruppenzwang und Massenhysterie, chauvinistische Volksideologien und toxische Wir-gegen-die-Anderen-Systeme. Angesichts zweier totalitärer Kollektivstaaten auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert ein nachvollziehbares Interesse. Allerdings mit einem blinden Fleck, wie wichtig und nährend Zugehörigkeit für Menschen ist. In den letzten Jahren schaut etwa die Positive Psychologie darauf, was die fürs Lebensglück förderlichen Effekte sind, wenn wir uns mit anderen verbunden und in einer Gemeinschaft geborgen fühlen.

Gleichzeitig werden die desaströsen Folgen aller Arten von Trennung deutlich. Der Transformationstheoretiker Otto Scharmer vom Massachusetts Institute of Technology spricht von einer ökologischen Trennung (Natur wird nur als Ressource, aber nicht in ihrem Eigenwert gesehen), einer sozialen (Ausgrenzung von Armen und Marginalisierten) und einer spirituellen (wir schneiden uns ab von inneren Kompetenzen und einer allumfassenden Verbundenheit). Symptome dieser globalen Pathologien sind Einsamkeit und Isolation, Naturzerstörung und soziale Ungleichheit.

Insofern kommt Ulrich Schnabels Plädoyer für ein aufgeklärtes, nicht-chauvinistisches WIR zur rechten Zeit. Er macht klar, dass Gemeinsinn nicht bedeutet, den Eigensinn aufzugeben. Auch der wird gebraucht: als gestalterische Kraft, als gelebte Freiheit, als verwirklichter Lebenssinn. Wenn er sich einbindet in die Orientierung auf eine höhere, umfassendere Instanz, das Gemeinwohl, steht er nicht im Widerspruch dazu. Schnabel sieht jedoch westliche Gesellschaften von einem Hyper-Individualismus geprägt, in dem jeder allein seines Glückes Schmied ist, jeder ein Ich-Unternehmen mit beschränkter Haftung für das große Ganze.

¬ WIE KANN DAS GROSSE, DAS UMFASSENDE WIR GENÄHRT UND GEFÖRDERT WERDEN ¬

Als Wissenschaftsjournalist ist Schnabel versiert, seinen Entwurf mit empirischen Daten zu untermauern. Etwa die Erkenntnisse aus einer Meta-Analyse von 148 Studien, die zeigt, dass gute Sozialkontakte und das Gefühl der Zugehörigkeit das Sterblichkeitsrisiko durchschnittlich um 50 Prozent reduzieren; damit sei der positive Einfluss menschlicher Nähe deutlich größer als jener, der durch sportliche Aktivität oder das Einhalten eines gesunden Gewichts erreicht werde. Oder der Befund, dass nicht nur egoistisches Verhalten ansteckend ist (wie durch viele Versuche bewiesen), sondern auch altruistisches: Menschen werden, wenn sie Hilfsbereitschaft miterleben, die nicht einmal ihnen selbst gelten muss, zu eigener Zuwendung für andere angeregt. Gezeigt wird auch, dass die gängige Wahrnehmung falsch ist, dass Menschen in Notsituationen nur noch an sich denken. Der amerikanische Sozialpsychologe Tom Postmes fand heraus, dass in 97 Prozent aller Notlandungen die Passagiere ruhig und in gegenseitiger Rücksicht das Flugzeug verlassen. Von panischem Niedertrampeln keine Spur.

Aber reicht es, wissenschaftlich zu beweisen, dass Homo sapiens sapiens seine evolutionäre Erfolgsgeschichte offensichtlich eher seinen kooperativen Kompetenzen verdankt als einem Ego-Trip? Ist es nicht eine Binsenweisheit, dass wir gemeinsam stärker sind als allein? Anders gefragt: Wie kann denn das große, das umfassende Wir genährt und gefördert werden?

Auf wirtschaftlicher Ebene setzt Schnabel auf die Gemeinwohl-Ökonomie. Dieses noch junge Konzept bricht mit dem Prinzip, Profite auf private Konten zu überweisen, Kosten und Schäden dagegen der Gesellschaft zu überlassen. Es stellt die Zufriedenheit und Gesundheit der Mitarbeitenden, intakte Umwelt und das Wohl der Kommune, in der ein Unternehmen ansässig ist, ins Zentrum. Gemeinwohl-Bilanzen machen diese Orientierung messbar und transparent.

Internet und »Soziale Medien« spielen zwiespältige Rollen. Auf der einen Seite haben Internetsucht, Filterblasen, Cybermobbing und Fake News isolierende, vereinzelnde Wirkungen; deren negative psychische Folgen werden immer deutlicher. Auf der anderen Seite können digitale Plattformen der Verbundenheit und gegenseitiger Hilfe dienen, wie etwa Nachbarschafts-Apps wie nebenan.de zeigen. Hier werde ­»soziales Kapital« angespart, auch unter den Bedingungen urbaner Anonymität, nach dem Motto: »Ich helfe dir, weil ich weiß, dass du mir beim nächsten Mal auch hilfst.«

Die größte Gestaltungsmacht spricht Schnabel der Politik zu. Sie solle chancengleiche Bildung fördern, bei den Kitas beginnend, um das weitere Aus­einanderklaffen von Arm und Reich zu verhindern; Stadtplanung solle mehr soziale Mischung erzeugen, was den Kontakt zwischen Angehörigen unterschiedlicher Schichten fördere; »Paläste für das Volk« sollten gebaut, öffentliche Bibliotheken auch als gesellschaftliche Treffpunkte geöffnet werden; ein Freiwilliges Soziales Jahr solle attraktiv gestaltet werden.

Dabei übersieht der Autor, dass soziale Innovationen selten von der Mainstream-Politik ausgehen. Sie entstehen an den Rändern der Gesellschaft. Würde er auch dorthin schauen, würde er beispielsweise intentionale Gemeinschaften wie Tamera (Portugal), Schweibenalp (Schweiz) oder, in Deutschland, Sieben Linden und Schloss Tempelhof entdecken. Dort werden neue Formen erprobt, wie Beziehungen gelebt, Entscheidungen gemeinsam getroffen und Konflikte gelöst werden können. Ein anderes Beispiel ist die Solidarische Landwirtschaft, in der Bauern und Verbraucher kooperieren. Oder Hausgemeinschaften, die ihre gemeinsamen Aktionen per WhatsApp abstimmen.

Sind die gegenwärtigen globalen Krisen ein Weckruf zu mehr Gemeinsinn? Schmerzhafte Erfahrungen, die uns endlich den Schritt von EGO zu ECO, wie es Otto Scharmer ausdrückt, gehen lassen? Oder projizieren wir unseren Wunsch nach positiver Transformation auf das aktuelle Katastrophen-Erleben? Der Autor ist klug genug, keine Prognose als Antwort auf diese Fragen zu wagen. Er meint jedoch, die von ihm zusammengetragenen Erkenntnisse gäben Anlass zur Hoffnung, dass die Weltgemeinschaft intelligente Lösungen findet. Er vertraut der Weisheit der Vielen, der Schwarmintelligenz. Sie entsteht – im Gegensatz zu Massendummheit und tumber Gefolgschaft – nur dann, wenn alle Mitglieder einer Gruppe unabhängig und frei über eine Sache nachdenken und Entscheidungen treffen können.

Einmal mehr zeigt sich: Es braucht beides, Zugehörigkeit und Freiheit. Ein ewiger Tanz, aber in neuer Balance.

Author:
Michael Gleich
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