Ein Teil des Lebens sein

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 23, 2023

Featuring:
Dr. Daniel Christian Wahl
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Issue:
Ausgabe 37/2023
|
January 2023
Re-Generation
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Sein Buch »Regenerative Kulturen gestalten« hat einen großen Anteil daran, dass wir beginnen, das Miteinander zwischen Mensch und Erde neu zu verstehen. Wir sprachen mit Christian Wahl darüber, warum regenerative Kulturen die Zukunft dieses Planeten sind.

evolve: Was bedeutet Regeneration aus deiner Sicht?

Daniel Christian Wahl: Das Leben selbst schafft die Bedingung, dass mehr Leben besser leben kann. Die Frage ist, wie wir daran teilhaben. Alle Menschen sind eigentlich indigen im Leben, also in das Leben hineingeboren und Teil des Lebens. Gleichzeitig ist das Leben immer ein kreativer, auch ein zerstörerischer Prozess. Tod, Zerfall, sogar Kollaps sind Teil dieses regenerativen Prozesses.

Seit 10.000 Jahren leben wir in Ver­haltensmustern, innerhalb derer immer mehr Menschen angefangen haben, das Leben der Degeneration auszusetzen, die Biodiversität zu zerstören. Den größten Teil unserer Vergangenheit haben wir aber in regenerativen Kulturen gelebt, die sich als Ausdruck der Ökosysteme verstanden, in denen sie lebten. Wenn wir es heute nicht schaffen, uns wieder in das Ganze einzufügen, dann wird uns die Evolution zeigen, dass so ein Verhalten nicht toleriert werden kann.

Können wir wieder die Einzigartigkeit eines Ortes und der Menschen, die uns umgeben, und der Gemeinschaft, in der wir leben, wertschätzen? Denn Regenerationskraft, die Vitalität des Lebens, entsteht genau aus dieser Einzigartigkeit.

Ein partizipativer Prozess

e: Inwiefern ist Regeneration mehr als eine Neufassung alter Begriffe? Wir hatten die Idee einer ökologischen, ganzheitlichen oder nachhaltigen Gesellschaft, und jetzt haben wir die Idee einer regenerativen Gesellschaft.

DCW: Der klassische Ansatz nachhaltiger Lösungsfindung ist anders. Er arbeitet nach dem Muster: »Hier ist ein Problem und hier ist die Lösung«. Ähnlich wie in der allopathischen Medizin: »Hier ist ein Symptom einer Krankheit, das heilen wir jetzt, und dann gehen wir wieder zurück in diesen perfekten Systemzustand.«

Aber die Salutogenese, das dynamische Verständnis von Gesundheit, beschreibt einen regenerativen, evolutionären, trans­formativen Ansatz: Natürlich brauchen wir Lösungen, aber sie müssen für den jeweiligen Ort und die Kultur offen sein. Wir finden Lösungen nur, wenn wir sie aus dem Ort und der Kultur heraus schaffen und sie ihnen nicht von außen aufdrücken.

Regenerativ meint einen Wandel der Weltsicht und des Seins, im Zuge dessen man sich tiefer in die Prozesspartizipation hineinlebt. Durch das, was wir denken, sagen und tun, gestalten wir die Realität mit. Dieser Prozess kann nie komplett durch die Wissenschaft beschrieben werden. Gleichzeitig brauchen wir die Wissenschaft, um weise Entscheidungen zu treffen. Erst, wenn wir das Nicht-Wissen und das Nicht-Kontrollieren-Können ernst nehmen, stellen wir den Prozess in den Vordergrund und nicht Lösungen, die sich irgendjemand ausgedacht hat.

e: Du verwendest ein interessantes Wort: Prozesspartizipation. Es geht also um einen teilhabenden Prozess, um unsere Teilhabe an einem realen Ort, an dem wir wirklich sind. Eine regenerative Kultur braucht immer auch den Ort, das Bezugssystem, in dem sie lebt.

DCW: Es ist ein Paradoxon. Wir sind einerseits Individuen, die sich getrennt vom Lebendigen fühlen, an dem wir teilhaben. Gleichzeitig sind wir ein Ausdruck des Lebens, an dem wir mit unseren Handlungen teilhaben. Wir können uns individuell nur dann voll entfalten, wenn wir es im Dienst eines größeren Ganzen tun, im Dienst der Gemeinschaft des Lebens, nicht nur der menschlichen Gemeinschaft, sondern der ökologischen Gemeinschaft.

Und unser Denken und unsere Analyse sind nur ein Zugang, um die Welt zu verstehen. Wir brauchen auch Spüren, Fühlen und Intuition, um einen spezifischen Ort und eine spezifische Gemeinschaft wahrzunehmen, die durch Beziehung entsteht. Die Sichtweisen der verschiedenen Wissenschaften geben Aufschluss darüber, wie wir sinnvoller am Ganzen teilnehmen können. Aber wir brauchen auch ein gelebtes und verkörpertes Bewusstsein unserer eigenen Schaffenskraft. Wir lösen unsere Probleme nicht allein durch abstrakte Lösungsansätze.

Die Kraft des Konkreten

e: In unserer modernen Kulturgeschichte haben wir oft unsere Beziehungsfähigkeit verloren. Wissenschaft und auch die Systemtheorie denken das Ganze. Die Komplexität unserer Wirklichkeit braucht auch diese Abstraktion. Über das Gespräch, das wir gerade führen, kann ich abstrakt nachdenken, aber ich kann mich auch intuitiv einlassen. Dann nehme ich etwas wahr, das ich in einem abstrakten Gedankengang nie finden werde.

¬ TOD, ZERFALL, SOGAR KOLLAPS SIND TEIL DIESES REGENERATIVEN PROZESSES. ¬

DCW: Die mentalen Gerüste, die unsere Wahrnehmung der Realität organisieren, locken uns, auch wenn wir über ganzheitliche Ansätze reden, oft kognitiv in eine Falle. In diesem Denken setzt sich das Ganze mechanistisch aus Teilen zusammen. Aber schon Johann Wolfgang von Goethe sah, dass er auch als Wissenschaftler nicht nur im Abstrahieren die Welt erkennen konnte. Wir müssen uns auch dem Spezifischen nähern. Er achtete auf die organisierenden Ideen, die einem in der wissenschaftlichen Beobachtung die Welt so oder so zeigen. Das Geschehen verändert sich, wenn man seine Ideen verändert.

Der regenerative Ansatz beginnt mit der Entwicklung unserer Fähigkeiten, bevor wir überhaupt versuchen, in Prozesse einzugreifen. Wir greifen ja eigentlich schon ein, wenn wir unsere Weltsicht ändern. Im Gestalterischen gesprochen sind es das Metadesign, die Narrative, die Geschichten, die wir über uns und die Beziehung zum Leben erzählen. Wir werden bewusster Teil des Prozesses, von dem wir nie getrennt waren. Wir haben uns nur lange eine Geschichte erzählt, in der Mensch und Kultur über der Natur stehen. Aber das ist nur ein kognitives Konstrukt. Selbst in der Systemtheorie und anderen ganzheitlichen Ansätzen wird die Rolle des Bewusstseins unterschätzt. Wir leben in einem falschen Dualismus, in dem wir immer noch versuchen, das Ganze abstrakt und von außen zu beschreiben.

e: Das lebendige Miteinander können wir uns nicht allein theoretisch erschließen. Nur in einer gelebten Mitwelt erfahren wir dieses Miteinander, nur in unseren Umfeldern, Beziehungsfeldern, den Regionen, in denen wir wirklich leben. Ist das der Kern einer regenerativen Kultur, wahrzunehmen, wie wir in einem Stadtteil, einer Landschaft miteinander verwoben sind? Wenn ich diese Zusammenhänge nur technisch-instrumentell analysiere, entgehen mir vielleicht 90 Prozent all dessen, was hier im Miteinander eigentlich geschieht.

DCW: Die Wissenschaft der Abstraktion hat die Technologien der Abstraktion geschaffen. Dadurch können wir an weltumspannenden Gemeinschaften teilnehmen, die vom jeweiligen Ort getrennt sind. Aber beispielsweise bei den Überschwemmungen im Ahrtal, den Bränden in Australien oder Kalifornien, den Überschwemmungen in Bangladesch – immer, wenn Katastrophen stattfinden, werden wir darauf zurückgeworfen, dass wir in Beziehung sind, zu einer Gemeinschaft, zu einem Ort. Das bringt uns zum Leben zurück, zu einem Ort. Und dort sind wir dazu aufgerufen, uns gemeinsam in unserer Unterschiedlichkeit zu treffen und die Fähigkeit zu entwickeln, einander zuzuhören, auch wenn wir nicht übereinstimmen. Nur durch eine solche neue lokale Belebung der Bioregionen bauen wir die systemische Resilienz wieder auf, die das Leben an sich immer gewährleistet hat.

Die Globalisierung hat Strukturen geschaffen, die brüchig sind, wie globale Lieferketten oder die Ausbeutung fossiler Brennstoffe. Die Bioregion hilft uns, einen Kontext zu finden, in dem wir diese globalen Probleme antreffen können, aber in der Besonderheit eines Ortes, einer Gemeinschaft und eines Ökosystems.

Hier werden Probleme zum Potenzial. Die Probleme sind alle noch da, aber weil sie spezifisch und in Beziehung gebracht werden, sehen wir, was für ein Potenzial in den Menschen und in der Natur steckt, um gemeinsam das System dem Leben zuträglich zu machen.

Kosmopolitischer Bioregionalismus

e: Diese Potenziale zeigen sich in der Kon­­­-kretheit, wenn ich sie in konkreten Lebens-zusammenhängen betrachte.

DCW: Ja, es sind Aktionen in der Nach­barschaft und auf der regionalen Ebene, die dazu beitragen, dass der Mensch sich wieder in die Natur eingliedert und seine Rolle als Schlüsselspezies im Ökosystem wahrnimmt. Wir wissen heute, dass indigene Völker an den Orten, an denen sie gelebt haben und noch leben, die Biodiversität vermehrt haben, ob das der kolumbianische Regenwald ist oder viele Orte in Nordamerika, wo indigene Völker über Jahrhunderte ganze Landschaften in ungewöhnlich reichhaltige Ökosysteme verwandelt haben.

Bioregionalismus meint heute aber einen kosmopolitischen Bioregionalismus. Wir müssen auch global im Austausch bleiben, um uns gegenseitig zu helfen. Aber wir erleben oft die Tendenz, bewährte Praktiken, von einem Ort an andere Orte zu exportieren. Ich bin hier auf Mallorca in einer mediterranen Klimasituation. Es kann durchaus sein, dass hiesige Lösungsansätze für bestimmte Probleme auch in Australien, Kalifornien oder Südafrika funktionieren. Aber ich muss diese Inspirationen konkret leben und sie im Spezifischen ausprobieren, statt einen globalen Lösungsansatz zu konzipieren und jedem aufdrücken zu wollen.

Um ein Feedback der bewussten Prozesspartizipation zu erhalten, müssen wir auf einer Skala agieren, anhand derer wir die Auswirkungen unseres Handelns relativ schnell wahrnehmen. So können wir feststellen, ob es dem Leben wirklich zuträglich ist.

e: Das heißt also, ein Schlüssel ist die Spannung zwischen dem Kosmisch-Universellen und dem Lokal-Örtlichen. Diese Spannung kann in beiden Richtungen brechen, wenn wir zum Beispiel nur mehr global denken oder umgekehrt, wenn wir nur mehr in kleinen Identitäten denken.

DCW: Ja, wie können wir das Regionale wieder aufleben lassen, ohne die positiven Aspekte der Globalisierung zu verlieren? Im deutschen Sprachraum wird das bioregionale Denken manchmal von Identitären besetzt. Da werden dann Leute, die einen kosmopolitischen Bioregionalismus vorantreiben, leicht missverstanden. Wir sind nicht die Besitzer eines Ortes. Die identitären Bewegungen wollen ihre Region wieder »zurückbekommen«. Im regenerativen Denken hingegen verstehen wir uns als Ausdruck des Lebens einer Region.

Zuhören lernen

e: Uns als Ausdruck einer Region zu verstehen, ist aber auch ein radikaler Bruch mit unserem modernen Selbstverständnis als getrennte, eigenständige Individuen. Wir sind uns oft gar nicht dessen bewusst, wie sehr wir uns als Menschen neu erfahren müssen.

DCW: Ja, der englische Kulturhistoriker Owen Barfield sprach über die primary participation der indigenen Völker. Dem folgte, so Barfield, die Phase der Trennung durch die Zeit der Aufklärung. Unsere Zukunft wird nur dadurch stattfinden, dass wir diese zwei Pole in einer Synthese neu denken. Es braucht ein Zurückkehren in das Spezifische der gelebten Beziehung.

Wenn man zum Beispiel in einem Gespräch aufmerksam mit dem Herzen zuhört, erlebt man durch die Resonanz, die im Raum entsteht, wie man eine Weisheit äußert, die man vor dem Gespräch nicht wusste. Diese Weisheit kommt nicht aus einem selbst, sondern aus der Beziehung, aus dem Gespräch. Das ist eine konkret erlebte partizipative Erfahrung von dem, was wir hier gerade ansprechen.

¬ UNSERE LÖSUNGEN MÜSSEN FÜR DEN JEWEILIGEN ORT UND DIE KULTUR OFFEN SEIN. ¬

Das Gleiche kann ich auch als Gärtner erleben. Ich bin seit zwei Jahren Custodian für einen halben Hektar Land. Ich versuche, dieses Land vitaler, regenerativer und produktiver zu machen. Zu den 150 Bäumen, die schon da waren, habe ich 250 dazu gepflanzt. Wenn man in diese tiefe, enge Beziehung als Gärtner und Teil der Natur eintritt, dann erlebt man auch, dass man sich etwas vorgenommen hat und sich plötzlich woanders wiederfindet und etwas Überraschendes tut. Irgendwann fragt man sich: Wo kam dieser Impuls her? Man spürt, dass der Ort, die Landschaft, das Leben um einen herum anfängt, mit einem zu kommunizieren. Weil man so eng in Beziehung tritt und den Ort wirklich sieht, jeden einzelnen Baum jeden Morgen inniger kennenlernt und ganzheitlich wahrnimmt: Heute geht es dir nicht gut, du hast zu wenig Wasser.

Durch dieses In-Beziehung-Treten erleben wir Momente, in denen wir erfahren, dass das Ganze durchaus sprechen kann, dass wir die Fähigkeit haben, als Natur der Natur zuträglich zu sein. Jede Gärtnerin, jeder Bauer, jede Forstwirtin wird sofort verstehen, was ich meine. Es ist eine konkrete Erfahrung, wenn man auf einmal merkt, dass wir die innewohnende Fähigkeit haben, dem Leben zuträglich zu sein. Wir müssen nur lernen, wieder richtig zuzuhören. Ob das ein Baum oder ein Mitmensch ist, ist eigentlich nur eine Nuance.


¬ WIR KÖNNEN UNS INDIVIDUELL NUR DANN VOLL ENTFALTEN, WENN WIR ES IM DIENST EINES GRÖSSEREN GANZEN TUN.¬


Author:
Dr. Thomas Steininger
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