Sinn durch Technik?

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 23, 2023

Featuring:
Ellie Hain
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 37/2023
|
January 2023
Re-Generation
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Auf der Suche nach einer Sprache für unsere Werte

Menschliche Werte und Künstliche Intelligenz – passt das zusammen? Die kreative Denkerin Ellie Hain wagt das Experiment, mittels Technologie eine sinnorientierte Kultur zu unterstützen.

evolve: Du arbeitest an einem Projekt zum Thema Sinngebung. Kannst du uns sagen, wie du dazu gekommen sind?

Ellie Hain: Bisher befasste ich mich vor allem mit sozialen Vorstellungen, der Metastruktur von Kultur und den Erzählungen, die unsere Gesellschaft bestimmen. Aber seit drei Jahren sind mein Kollege Joe Edelman und ich dabei, einen neuen philosophischen Rahmen mit praktischen Anwendungen zu entwickeln. Im Mittelpunkt dieses Projekts steht die Frage nach den Werten, denn das Wichtigste für den Menschen ist die Quelle, aus der er seinen Sinn schöpft. Wir gehen Fragen nach wie: Wie würden sich Demokratien und Regierungen verändern, wenn sie sich an dem orientieren würden, was Menschen als sinnvoll empfinden? Können wir eine Wirtschaft gestalten, die nicht auf der reinen Befriedigung der Vorlieben und des Konsumverhaltens der Menschen beruht, sondern der Sinngebung ihrer Konsumenten dient? Die Beantwortung dieser Fragen setzt ein neues Verständnis von uns selbst voraus. Wir sehen uns nicht mehr nur als Konsumenten und Produzenten, sondern als Menschen, die von ihrer Sinngebung angetrieben werden.

Wir möchten eine Organisation aufbauen, die diese Erkenntnisse in verschiedenen Bereichen anwendet – zum Beispiel in einer Designschule, die Designern und anderen Interessierten beibringt, sich über Sinngebung klar zu werden. Um eine Gemeinschaft aufzubauen und unsere Vision zu verbreiten, denken wir auch über eine Art ritualisierten Prozess rund um Sinngebung nach.

e: Was verstehst du unter einem ritualisierten Prozess?

EH: Eine Art Prozess, der unsere tiefsten Werte zum Ausdruck bringt und zu Gesprächen über sie führt. Wir alle haben etwas Heiliges in uns, das, was wir wertvoll und sinnvoll finden. Diese tiefsten Werte sollten wir in den Mittelpunkt stellen. Wir können eine pluralistische gesellschaftliche Vision entwickeln, die anerkennt, dass Menschen unterschiedliche Dinge als heilig empfinden. Manchen Menschen sind Natur und Regeneration heilig, anderen der Fortschritt oder die soziale Gerechtigkeit. Unsere Frage ist, ob wir eine Welt schaffen können, in der diese Sinngebung im Mittelpunkt steht.

e: Kannst du ein Beispiel nennen, wie ihr die Menschen in einen Prozess führt, in dem sie sich ihrer Werte bewusster werden?

EH: Bisher ist der wichtigste Weg ein Inter­viewverfahren. In diesem würde ich dich fragen: Mike, kannst du mir von einer für dich bedeutsamen Erfahrung erzählen? Du würdest mir die Geschichte erzählen und ich würde einige Fragen stellen. Am Ende würde ich eine Wertekarte erstellen. Während die ursprüngliche Methode ein persönliches Gespräch war, könntest du diese Fragen aber auch als introspektives Tagebuch erforschen.

¬ DAS WICHTIGSTE FÜR DEN MENSCHEN IST DIE QUELLE, AUS DER ER SEINEN SINN SCHÖPFT ¬

Was uns aber sehr begeistert, ist die Ver­wendung von »Open AI«, einer Anwend­ung, die künstliche Intelligenz (KI) nutzt. Wir haben einen Chatbot entwickelt, dem man seine Erfahrung erzählen kann und der automatisch eine Wertekarte der Sinngebung generiert. Das Projekt befindet sich noch in einem sehr frühen Stadium, aber wir hoffen, dass wir in Zukunft mit diesem Verfahren Texte aus deinen Twitter-Daten oder deinen Nachrichten auslesen können, damit dir die KI Auskunft über deine Werte geben kann.

e: Wie seht ihr das Spannungsverhältnis zwischen der tiefgehenden menschlichen Sinnfrage und dem Einsatz von KI-Technologie zu deren Unterstützung?

EH: Unsere Probleme stammen aus einer grundlegenden Fehlausrichtung im Aufbau unserer Systeme. Sie enthalten sehr viele Dysfunktionen, die sich dann in Sinnlosigkeit, Umweltzerstörung, Pola­­ri­sierung, Konsumzwang äußern. Das System ist nicht auf das ausgerichtet, was wir wirklich wollen. Und auf diese Fehlausrichtung setzen wir eine extrem leistungsfähige Technologie wie KI, die die Fehlausrichtung noch verschärft. Aber das Problem ist nicht die Technologie an sich.

e: Wie kann deiner Meinung nach die Ver­bindung zu unserem tiefsten Sinn lebendig gehalten werden?

EH: Am Anfang von Religion, Kapitalismus oder Technologie steht oft die Einsicht in eine Bedeutung, etwas, das wichtig ist. Aber sie wird dadurch abgewertet, dass wir nicht in der Lage sind, sie genau zu benennen. Entweder schaffen wir eine soziale Norm oder maximieren in der Technologie ­eine Kennzahl wie die Nutzungsdauer, die nicht das misst, was wir eigentlich wollen. Wir schaffen eine Metastruktur, die für die Erkennung von Sinn nicht nützlich ist.

Im Moment sind wir in der Gesellschaft an einem Punkt angelangt, an dem jeder mit dem System unzufrieden ist, unabhängig davon, wo man im politischen Spektrum steht. Der tiefere Grund ist jedoch, dass wir nicht wissen, wie wir über das sprechen können, was wichtig ist. Wir haben nicht die richtigen Worte dafür, und wir haben nicht die richtigen Messgrößen, mit denen wir nachverfolgen können, ob wir Sinn und Werte vermitteln.

e: Ihr wollt also ein Instrument zur Verfügung stellen, mit dem sich feststellen lässt, ob ­eine Organisation oder ein Vorhaben der ursprünglichen Sinngebung, aus der es entstanden ist, treu bleibt?

EH: Ganz genau. Und nicht nur, um es für dich selbst zu evaluieren, sondern auch, um es möglichen Geldgebern zu zeigen, die sinnvolle Projekte finanzieren wollen. Wir wollen dieses Werkzeug Unternehmern, Geldgebern und Changemakern an die Hand geben, damit Menschen eine gemeinsame Sprache für das haben, was sie aufbauen und vergrößern wollen.

Außerdem untersuchen wir wirtschaftliche Mechanismen und die Ausrichtung der KI. Wir verbreiten diese neue gesellschaftliche Vision durch eine Bewegung, die zeigt, wie die Gesellschaft aussehen würde, wenn diese Werte wahr würden: Wie würde der Markt aussehen, wenn es die Aufgabe eines jeden wäre, einen Sinn für sein Publikum zu schaffen? Wie würde dies die Demokratie und unser Selbstverständnis verändern? Wir wollen also die Forschung, die Instrumente und eine Bewegung rund um eine positive gesellschaftliche Vision der Sinnhaftigkeit schaffen.

Author:
Mike Kauschke
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