Transrationale Dimensionen unseres Bewusstseins
Gibt es ein Bewusstsein, das über unser rationales, getrenntes In-der-Weltsein hinausgeht, ohne auf die Stärken der Rationalität zu verzichten? Und wäre es möglich, daraus auf eine neue und umfassendere Weise auf die Welt und ihre Herausforderungen zu antworten?
Wenn wir als Menschen reifen, dann ist häufig damit der Grad an körperlicher und mentaler Entwicklung gemeint, ab dem eine Person in der Lage ist, für sich selbst und ihre Lebensumgebung zu sorgen, also in gewissem Maße selbstständig zu sein. Doch auch für unser Bewusstsein gibt es die Möglichkeit einer fortwährenden Entwicklung und Reifung.
Um diese Reifung zu veranschaulichen, möchte ich kurz den Entwicklungsprozess unseres Bewusstseins beschreiben, genauer gesagt der Funktionen, die mit unserer Bewusstheit einhergehen. Denn die innewohnende Präsenz der Bewusstheit selbst scheint etwas zu sein, das von diesem lebenszeitlichen Reifungsprozess unabhängig ist. Wir kennen diese Präsenz des neugeborenen Lebens, die uns aus den Augen des Säuglings anstrahlt. Diese Gegenwärtigkeit deutet auf die Innerlichkeit, die ein Mensch (aber auch ein Tier) besitzt, selbst wenn dafür noch keine Begriffe, Konzepte und sprachlichen Ausdrucksformen vorhanden sind.
Dieser Bewusstseinsinnenraum ist mehr als ein neuronales Abbild der Sinnesreize, die über Augen, Ohren, Geruchssinn etc. im Gehirn verarbeitet werden. Es existiert vielmehr eine innere, subjektive Erlebensqualität. Bei Säuglingen ist dies eine Welt der Eindrücke und Empfindungen. Im Laufe der Kindheitsentwicklung strukturiert sich dieses Bewusstsein mit Konzepten, Funktionen und Mechanismen. Konzepte sind Worte und Bilder, also Vorstellungen und Symbole, die die reine Wahrnehmungsebene ersetzen, sie zweckmäßig reduzieren. Das Kind lernt, in sich die Außenwelt zu rekonstruieren und lernt dadurch, mit ihr umzugehen. Es lernt das oft gnadenlose Wirken der Physik (wenn ich das Glas umschütte, läuft der Inhalt über den Tisch, der Geist hat sich dem Geschehen zu fügen). Es ist erstaunlich, wie präzise wir einen Ball fangen können, der uns zugeworfen wird. Hierzu müssen wir die Gesetze der Schwerkraft gut verinnerlicht haben. Diese rationalen Funktionen werden dann in der Schulbildung jahrelang erweitert und verbessert, egal ob wir Mathematik, Naturkunde oder Sprachen lernen. Wir lernen auch, die Welt in richtig und falsch, gut und böse, in Erfolg und Scheitern einzuteilen.
Diese Vorgänge des Betrachtens, des Ein-Teilens und Gegenüberstellens sind für uns überlebenswichtige Denkweisen und wir erzeugen durch sie Objektivität. Doch indem unsere subjektive Bewusstseinsinnenwelt von diesem logisch-rationalen Denken und seiner Objektivität erfüllt ist, fallen wir aus dem Paradies. Denn glückliches Erleben ist mehr, wir kennen es seit früher Kindheit: Es ist Freude, Liebe, Vertrauen, Staunen, um nur einiges zu nennen, alles subjektive Empfindungen, die scheinbar jenseits des Rationalen, sprich im Transrationalen liegen. Doch weil wir die Welt des Rationalen, die uns so viel Einsicht verleiht, nicht mehr verlassen können (und wollen), braucht es einen weiteren Reifungsschritt unseres Bewusstseins, mit dem wir dennoch in unser Paradies zurückkehren können. Dieser sollte am besten nicht nach einer kognitiv-rationalen Bildung erfolgen, sondern bereits in diese eingebunden werden.
Hier hilft uns die Erkenntnis, dass es zu unseren rationalen Vorstellungen und Werten transrationale komplementäre Eigenschaften gibt, die zwar untrennbar mit diesen zusammengehören, aber dennoch eine grundlegend andere Kategorie bilden. Man kennt dieses Prinzip auch aus der Physik, wo es präzise definiert ist. Dieses Komplementäre ist deshalb so wichtig, weil wir gelernt haben, die Welt durch unsere Ratio zu separieren und zu formalisieren. Nun geht es darum, wieder die Zusammenhänge zwischen den Dingen und auch zwischen dem Weltgeschehen und unseren innersten Lebensimpulsen zu finden, sie zu verbinden und zu leben. Und dann spannt sich nochmals eine neue Dimension auf, in der Erkenntnis und Nichtwissen, Fühlen und Denken, vereinbar sind.
Dazu ein Beispiel von vielen: Das Streben nach Sicherheit ist in unserer Kultur ein hohes Gut geworden. Dazu dienen Qualitätssicherungsmaßnahmen, Versicherungen, diverse Sicherheitsmaßnahmen, auch vom Gesundheitssystem wird unsere Überlebenssicherheit bestmöglich gefordert. Und doch wissen wir auch, dass es letztendliche Sicherheit nicht gibt und je mehr wir uns um Absicherung bemühen und uns darauf verlassen wollen, umso enger wird unser Handlungsspielraum. Die Folge ist Angst. Derzeit zeigt sich dieser Prozess im verzweifelten Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus.
Die komplementäre Eigenschaft zum Sicherheitsstreben, die es hier braucht, ist das Vertrauen. Es entsteht ebenfalls aus dem Bedürfnis nach Sicherheit und Seins-Gewissheit, erweitert jedoch die Begrenzung der rationalen Bemühungen durch ein transrationales Annehmen und Einbeziehen aller Möglichkeiten des Scheiterns. So erlangen wir im Vertrauen wieder die lebensspendende Freiheit des Seins zurück. Dadurch haben wir die transrationale Kompetenz zur Ungewissheitstoleranz als einen essenziellen Wert in einer sich rasch verändernden, komplexen Welt, in der man Stabilität und Beständigkeit oft vergeblich sucht.
ES SPANNT SICH EINE NEUE DIMENSION AUF, IN DER ERKENNTNIS UND NICHTWISSEN, FÜHLEN UND DENKEN VEREINBAR SIND.
Doch wie gelangen wir nun vom Sicherheitsdenken ins Vertrauen? Ein hilfreicher Entwicklungsschritt dazu ist Flexibilität zu einer multiperspektivischen Betrachtung, d. h. wir müssen lernen, unsere gewohnten Sichtweisen aufzugeben, um andere Standpunkte einzunehmen. Dadurch zeigt sich die Relativität der Logik und es offenbaren sich die Grenzen der Rationalität, die sich quasi aufweicht. Möglicherweise erkennen wir dann sogar die Begrenzungen, die uns unsere Konzepte, Begriffe und Vorstellungen auferlegen und können uns so den vielfältigen Deutungsmöglichkeiten öffnen, die die Wirklichkeit jenseits unserer fixierten Betrachtung in sich birgt. Im Verzicht auf die rationalen Konstruktionen erahnen wir vielleicht das Transzendente als etwas Umfassenderes, das jeglicher Erscheinung zugrunde liegt. Dieser Prozess ist ein spiritueller, und beispielsweise Meditation, die den bewussten Verzicht auf diese gut automatisierten rationalen Bewusstseinsfunktionen übt, kann hierfür ein Weg sein, um zurück in das Paradies der unbeschwerten Freude, dem Vertrauen, der Vergebung, dem Staunen und der Liebe zu gelangen. Hinzu kommt, dass Vertrauen ein ganzkörperliches Erleben ist, sodass das Transrationale hier die harmonische Verbundenheit mit unserem gesamten Körper erfordert.
Doch diesmal erfüllt sich das Erlebte in den Möglichkeiten, diese flexibel zu konzeptualisieren, also in Worte und Gedanken zu fassen. Damit wird unsere Ratio zum freien Diener unseres Erlebens. Dies ist ein Reifungsschritt, den wir zur Weisheit brauchen und der gerade heute in einer rational orientierten Welt umso dringender wird, weil diese Welt zugleich in ihrer Komplexität unbeherrschbarer geworden zu sein scheint.