Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
October 19, 2016
Obwohl die Kirchengemeinden in den vergangenen Jahrzehnten an gesellschaftlicher Bedeutung verloren haben und Yoga und buddhistische Meditation oft mehr als die christlichen Riten zum Alltag gehören, hat die Frage nach der Bedeutung des Christentums für Europa in den letzten Jahren an Aktualität gewonnen.
Diesen Sommer verbrachte ich zwei Wochen auf Iona, einer kleinen Insel an der Westküste Schottlands. Im 6. Jahrhundert gründete Columban dort zusammen mit 12 Weggefährten eine spirituelle Gemeinschaft. Iona galt mehrere Jahrhunderte als »heilige Stätte« und geistliches Zentrum Schottlands. Mir ist dieses Fleckchen Erde seit meinem ersten Besuch vor 22 Jahren besonders lieb und kostbar. Es geht allerdings nicht nur mir so. Tagestouristen pilgern vom Hafen zur Abtei und zurück. Sie trinken vielleicht noch einen Kaffee oder schauen sich um in einem der kleinen Lädchen. Diejenigen, die länger bleiben, kommen aus der ganzen Welt. Jeder würde den Zauber dieser Insel anders beschreiben. Die Beweggründe, hierhin zu reisen, zeugen jedoch oft von einer spirituell-religiösen Sehnsucht. Für mich war diese offensichtliche Anziehungskraft Anlass, mich intensiver mit dem Hintergrund der keltisch-christlichen Spiritualität zu beschäftigen.
Die Frage nach der Bedeutung des Christentums für Europa hat in den letzten Jahren an Aktualität gewonnen.
Viele Autoren gehen davon aus, dass das Christentum von den Druiden, denen die Verbindung zur Natur und zum Kosmos wichtig war, als Bestätigung und Fortsetzung der eigenen Weisheitstradition erkannt wurde, sodass es zu einer einmaligen Synthese kam. In den Gebeten der frühen irischen Kirche und den Texten des Heiligen Patricks leuchtet eine innige Verflechtung von Mensch und Gott, von Naturkräften und Kosmos, von Zeit und Ewigkeit auf. Pelagius, ein Laienmönch aus Wales, vertrat die Ansicht, dass sowohl der Mensch wie auch die Schöpfung von Natur aus gut sind. Da dieses So-Gut-Sein durch die Sünde oft verdeckt wird, liegt in den Evangelien die Kraft, den göttlichen lichtvollen Funken und die innere Führung freizulegen. Es gehöre zur menschlichen Natur, sich in Freiheit für das Gute entscheiden zu können. Es bedürfe dazu keiner Taufe oder göttlichen Gnade. Wenn jemand Gutes tut, ohne je den Menschen Jesus kennengelernt zu haben, folge er dem Geist Christi in seinem Herzen. Sein Zeitgenosse, der Kirchenvater Augustinus, vertrat dagegen die Ansicht, dass jeder sündig geboren sei. Ohne Taufe keine Erlösung. Pelagius’ Lehre wurde als Häresie verurteilt. Am nordwestlichen Rand Europas wirkten seine Ansichten jedoch jahrhundertelang weiter.
Die iroschottische Mönchskirche fühlt sich dem universellen, mystischen Ansatz des Johannes-Evangeliums verpflichtet. Der Text fängt nicht mit der Herkunft oder Geburt Jesu an, sondern mit dem bekannten Prolog: »Am Anfang war das Wort (λόγος) und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.« Basierend auf einer Beschreibung des Letzten Abendmahls wirdJohannes manchmal mit dem Kopf ruhend auf der Brust seines Meisters dargestellt. Für John Philip Newell, einem zeitgenössischen Vertreter des keltischen Christentums, spiegelt sich darin eine spirituelle Haltung, bei der man dem Pulsschlag des Herzens Gottes lauscht. Ein wunderbares Bild. In alldem leuchtet für mich ein hochaktuelles Verständnis des Christentums auf. Wer die Stimme des Göttlichen im Herzen und in der Schöpfung zu vernehmen vermag, setzt sich gewiss für humanes Handeln ein. Jeder, der das Gute im Menschen sieht und die Aufgabe ergreift, die innere Führung freizulegen, beschreitet den Weg in eine weisheitsvolle Zukunft. Wer keine Trennung zwischen Materie und Geist postuliert, sondern im Gegenteil erkennt, wie alles verwoben ist, kann aus der Natur und dem sinnlichen Erleben Kraft schöpfen und allen Lebewesen mit Respekt und Dankbarkeit begegnen. Ein Christentum, dem ein universeller Ansatz zugrunde liegt, kann für seine Werte und die damit verbundenen kulturellen Errungenschaften einstehen – ohne den Beigeschmack, dass dies aus Polarisierung und Angst vor der Islamisierung des Abendlandes geschieht.