Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
October 29, 2014
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Führungsansprüche wohl begründet werden müssen, insbesondere wenn sie im hierarchischen Gewand erscheinen, denn hochindividualisierte postmoderne Menschen reagieren leicht aversiv auf Führungsansprüche welcher Art auch immer. Die Anweisung Buddhas, „Nimm dein Selbst zur Leuchte!“, könnte fast ein Wahlspruch der Postmoderne sein. Wo dieses Selbst aufgrund einer lebenslangen selbstkritischen und selbstreflexiven Schulung leuchtet und den dunklen Weg erhellt, ist dieses Tun in der Tat sehr vernünftig. Bedauerlicherweise leuchtet aber nicht jedes Selbst so hell. Manches Leuchten zerstört gar die Sehkraft, wenn man allzu lange hineinblickt. Geblendet vom Glanz der eigenen Grandiosität stolpert man dann blind durchs Leben, ohne dass man es merkt. Hier wäre ein Führer oder eine Führerin hilfreich. Sich führen zu lassen, muss das Ego jedoch aushalten.
Ein Pendant zum Phänomen, dass Menschen lieber führungslos durchs Leben stolpern und sich (und andere) dabei verletzen, als sich einer Führung anzuvertrauen, sind Führer oder Führerinnen, die nicht führen wollen. Diese Menschen fallen nur weniger auf als jene, die sich selbst überschätzen – was aber nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Ich rede hier nicht von spirituellen Lehrern und Lehrerinnen, die ihren Schülern ein ums andere Mal erklären, sie hätten ihnen eigentlich nichts zu lehren, das aber doch immer wieder tun und dabei auch von ihren darüber sehr erfreuten Nicht-Schüler-Schülern angehört werden. Und es geht hier auch nicht um den Typ Chef, der zwar formal die Chef-Rolle inne hat, aber unfähig ist, die damit verbundenen Führungsaufgaben zu übernehmen, weil dieser Personentyp bürokratisches Management und die eher richtungsgebende Aufgabe des Führens verwechselt.
Die Angst vor dem eigenen Licht, das auch für andere ein Leuchtfeuer sein kann, ist die Kehrseite der maßlosen Selbstüberschätzung.
Der Typus des führungsunwilligen Führers ist ein Mensch, von dem alle anderen längst wissen, dass er zum Führen bestimmt ist, nur er selbst ist von dieser Erkenntnis noch nicht durchdrungen. Mit Händen und Füßen wehrt er sich, das zu tun, was seine Bestimmung ist, nämlich anderen Menschen Orientierung zu vermitteln. Der führungsunwillige Führer ist davon überzeugt, dass er anderen Menschen keine wirklich hilfreichen Impulse für ihr Dasein geben könne oder dass er als Person unbedeutend sei, da es doch allein um die Sache gehe. So kann es passieren, dass er, wenn er konkret um Rat und Unterstützung gebeten wird, diese Bitte mit dem Hinweis, er sei dafür nicht kompetent, abweist.
So wie es tragisch ist, wenn Menschen meinen, Rollen ausfüllen zu können, die für sie eine Nummer zu groß sind, so ist es tragisch, wenn ein Mensch die Rolle, die nur er ausfüllen kann, nicht spielen mag, weil er Angst davor hat, als Führer nicht mehr ein Gleicher unter Gleichen zu sein. Die Angst vor der eigenen Größe oder vor dem eigenen Licht, das auch für andere ein Leuchtfeuer sein kann, ist wohl die Kehrseite der maßlosen Selbstüberschätzung. Wer jedoch standhaft die eigene Größe kleinredet, tut weder sich noch seiner Umwelt einen Gefallen. Wir wachsen und entwickeln uns am ehesten dann weiter, wenn wir bereit sind, etwas zu wagen. Und es kann durchaus ein Wagnis sein, sich aus der eigenen Komfortzone hinauszulehnen, um mutig voranzuschreiten und andere Menschen, die das dezidiert wünschen, auf ihrem Weg anzuleiten und zu unterstützen. Wer das Talent hat, andere, in welchen Bereichen des Lebens auch immer, zu dirigieren und durch sein eigenes Beispiel etwas möglich werden zu lassen, sollte dies auch tun, auch wenn der kuschelige Platz mitten in der Gruppe manchmal sehr viel bequemer ist. Zumal selbst das gemütlichste Schneckenhaus auch zur Last werden kann und Wegducken mittelfristig nicht nur zu körperlichen, sondern auch zu geistigen und seelischen Haltungsschäden führt.