Spiel der Stille

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Article
Published On:

November 5, 2018

Featuring:
Yvonne Kunz
Categories of Inquiry:
Tags
Issue:
Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Was Kinder durch Achtsamkeit lernen können

Yvonne Kunz ist Lehrerin für Deutsch und Sport an einem Gymnasium. Als Meditationslehrerin bringt sie Achtsamkeit in den Unterricht und gibt auch Kurse für Kinder. Sie ist der Ansicht, dass Erfahrungen der Stille Kinder in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit unterstützen und ihnen dabei helfen, mit den digitalen Versuchungen unserer Zeit konstruktiver umzugehen.

evolve: Was hat Sie dazu bewogen, Meditationslehrerin zu werden?

Yvonne Kunz: Als meine Kinder noch sehr klein waren, hatten wir eine familiäre Krisensituation. Mein Vater hatte einen Schlaganfall und ich eine Lähmung des rechten Armes. Ich musste etwas tun, um wieder mehr zu mir zu kommen. In meiner Jugend fühlte ich mich im Buddhismus beheimatet und nun – auf der Suche nach einem spirituellen Weg – kam ich zunächst zum MBSR. Die Praxis tat mir sehr gut und berührte eine große Sehnsucht. Da unser ältester Sohn ein richtiger Wirbelwind ist und teilweise Schwierigkeiten hat, still zu sitzen, habe ich auf der Suche nach einer Entspannungsmethode die Ausbildung zur Meditationslehrerin für Kinder begonnen und war so begeistert, dass ich einige Ansätze gleich in der Schule ausprobierte.

e: Was machen Sie im Unterricht und wie wirkt sich das aus?

YK: Ich beginne den Unterricht mit einer Phase der Stille. Die Schüler stehen, ich warte, bis Stille einkehrt und wende mich jedem einzelnen mit einem kurzen Blickkontakt zu, um eine echte Verbindung zu bekommen. Das erste ist also weder die Anwesenheitsliste, noch kommen die Schüler gleich mit ihren Fragen und Problemen. Die Ruhe vom Anfang zieht sich durch den Unterricht. Das bedeutet nicht, dass es überhaupt keine Konzentrationsschwierigkeiten oder unruhige Phasen mehr gibt, aber Ruhe, Stille und vor allem Wertschätzung bleiben trotzdem im Unterricht präsent.

e: Sehen Sie Unterschiede im eher körperorientierten Sportunterricht bzw. eher mentalen Deutschunterricht?

YK: In Sport-Spielen kann es sehr schnell hitzig werden. Beim Achtsamkeitstraining lernt man, Gefühle bewusst wahrzunehmen und damit umzugehen. In einer aufgeheizten Situation wird es interessant: Wie komme ich aus dem Autopiloten heraus und wähle eine bewusste Reaktion?

e: Gelingt das?

YK: Ja, schon. Es ist natürlich Übungssache. Schüler, die geübt sind, reagieren nicht so impulsiv wie andere mit einer blinden Reaktion auf einen Reiz. Es gibt dieses schöne Zitat von Viktor Frankl, dass zwischen Reiz und Reaktion ein Raum liegt, und in diesem Raum haben wir Freiheit und Macht, unsere Reaktion zu wählen. Diesen Raum zu vergrößern und zu schauen, wie ich mich verhalten kann, wird mit Achtsamkeit und Meditation geschult. An Schülern mit Erfahrung darin wird das sichtbar. Sehr am Herzen liegt mir auch die ganzheitliche Persönlichkeitsbildung: Was bedeutet es, Mensch zu sein? Was kann ich, was sind meine Stärken? Was sind meine Träume, wie kann ich Entscheidungen treffen, um diese Träume zu verwirklichen?

e: Neben Ihrer Arbeit in der Schule bieten Sie auch Meditationskurse für Kinder an.

YK: Ja, bei meinen kleinen Kindern sah ich, wie sie völlig in den Übungen aufgingen. Diese Erfahrungen waren der Auslöser, es auch für andere Kinder anzubieten. So entstand »Kinder im Jetzt«: In Kursen können wir hier tiefer als in der Schule gehen und das Verbundensein spüren, jenseits von Gedanken und Bewertungen.

e: Wir leben in einer extrem schnellen druckund stressreichen Zeit. Das betrifft inzwischen auch die Kinder?

YK: Kinder sind heute einer großen Reizüberflutung ausgesetzt. Einige haben bereits im Kindergarten eigene Tablets. Viele sind in sozialen Netzwerken und können teilweise nachts nicht schlafen, weil eine WhatsApp-Nachricht nach der anderen kommt. Kinder sind in ihrer Haltung noch sehr reaktiv. Wenn etwas passiert, reagieren sie sofort. Wie ich vorhin sagte, können sie durch Achtsamkeit lernen, sich selbst Raum zu schaffen und sich selbst zu erfahren. Ich gehe mit ihnen die Stresskette durch: Was denke ich, wie wirken sich die Gedanken auf meinen Körper aus? Wenn ich mir z.B. immer wieder sage: »Ich kann kein Mathe«, dann wirkt sich das auf den Körper aus. Ich setze mich selbst unter Druck und kann dann halt auch kein Mathe. Zu lernen, sich in Stress-Situationen wieder nach unten zu regulieren, ist ein wesentlicher Punkt in der heutigen Zeit, gerade bei der Digitalisierung. Kinder haben heute auch eine enorm geringe Frustrationstoleranz.

Kinder können durch Achtsamkeit lernen, sich selbst Raum zu schaffen und sich selbst zu erfahren.

Sie können nicht mehr warten. Eltern drücken ihnen häufig ein Tablet in die Hand, damit sie still sind. Ich will das nicht komplett verteufeln, es mag Situationen geben, in denen es nicht anders geht. Es nimmt nur überhand. Die Kinder lernen, in der digitalen Welt zu leben. Die Auseinandersetzung mit der Virtualität sollte jedoch erst erfolgen, wenn sie bereits in der Realwelt eine gefestigte Lebenserfahrung mit einem eigenen Freundeskreis haben und es z.B. gewohnt sind, im Wald zu spielen oder auf einer Wiese zu toben.

e: Lernen Eltern und Kinder über Ihre Arbeit auch besser, mit den digitalen Geräten umzugehen?

YK: Ja, ich vermittele den Kindern bildlich Stresserkennung. Wir sehen den Körper als Briefträger. Welche Post schickt er uns, damit wir merken, dass wir unter Stress stehen? Wir sammeln anschließend Stress-Löscher. Für die Kinder sind das häufig auch das Computerspiel oder der Fernseher. Wenn ich ihnen dann sage, dass für ein Grundschulkind maximal eine halbe Stunde Bildschirmzeit pro Tag in Ordnung ist, sind sie erschüttert. Hier ist natürlich auch das Vorbild gefragt. Eine Kollegin erzählte neulich von Kindern, die im Kindergarten ihre Eltern bei deren Lieblingsbeschäftigung zeichneten. Unzählige Kinder malten ihre Eltern mit dem Handy.

e: Meditation und Achtsamkeit für Kinder ist sicher etwas anders als für Erwachsene.

YK: Ja, man sagt, Kinder können in etwa eine Minute pro Lebensjahr meditieren. Für meine Arbeit bedeutet das einen häufigen Wechsel zwischen Bewegung und Ruhe, zwischen laut und leise. Sehr schön ist zum Beispiel die Glitzermeditation. Ich frage die Kinder: »Wie fühlt ihr euch gerade?« Wir überlegen auch, wie man sich in unterschiedlichen Situationen fühlt: mit der besten Freundin, mit den Eltern, zum Geburtstag, bei einem Streit usw. Die Kinder wählen eine Farbe nach ihrem Gefühl aus und streuen den Farb-Glitzer in ein Gefäß mit Wasser. Das macht ihnen sehr viel Spaß. Zuerst schwimmt alles oben. Nach einer Weile verrühre ich das Wasser und der Glitzer sinkt langsam nach unten. Dann wird es trüb. Was wir sehen, übertragen wir auf uns: Das Gefäß steht für unseren Kopf, unseren Geist, und die Glitzer-Partikelchen für unsere Gedanken und Gefühle. Wenn alles wild durcheinander ist, dann blicken wir im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr durch. In einem Moment der Stille hören wir auf zu rühren, beobachten einfach. Das Wasser wird wieder klar. Die Kinder verstehen: Wenn wir ständig denken, tun und machen, ist alles durcheinander und wir können uns nicht konzentrieren. Momente der Stille schaffen wieder Klarheit.

Author:
Elke Janssen
Share this article: