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Die Flüchtlingskrise begegnet uns täglich in dramatischen Schlagzeilen. Gleichzeitig engagieren sich Tausende Freiwillige, um den Menschen, die zu uns kommen, zu helfen und ein Miteinander zu gestalten. Christa Spannbauer ist eine von ihnen. Aus ihrer spirituellen Praxis, ihrer Familiengeschichte und der Begegnung mit Überlebenden des Holocaust findet sie den Mut zum Handeln.
Der Baum, der fällt, macht Krach. Der Wald wächst lautlos.« Dieses tibetische Sprichwort pflegte der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr zu zitieren, wenn er sich selbst und anderen in schwierigen Situationen Mut machen wollte. Heute ist das Lebensmotto des mittlerweile verstorbenen Friedensaktivisten wichtiger denn je. Denn es erinnert uns daran, nicht immer nur wie paralysiert auf die hasserfüllten Worte und Handlungen derjenigen zu starren, die zurzeit in Deutschland am meisten Krach schlagen, sondern auf die zahllosen Menschen zu blicken, die ohne viel Aufhebens und ohne große Worte tatkräftig anpacken und dafür sorgen, dass die Menschlichkeit bewahrt und die Zivilgesellschaft gestärkt wird.
Bei meinem Engagement für die Bürgerinitiative »Kreuzberg hilft« komme ich viel herum in den Notunterkünften Berlins. Und bei jedem Besuch frage ich mich, wie ich mich wohl selbst fühlen würde in einer dieser Großhallen, zusammengepfercht mit mir unbekannten Frauen, Männern und Kindern, fernab der vertrauten Heimat, ohne Besitz und ohne Arbeit. Dann aber blicke ich auf die vielen Helfer, die ihr Möglichstes tun, um den Menschen das Leben erträglicher zu machen, die mit den Kindern spielen, Deutsch unterrichten und gemeinsame Aktivitäten initiieren. Mittlerweile ist auf dem Tempelhofer Feld im Norden Kreuzbergs das größte Flüchtlingsquartier Deutschlands entstanden. Das muss man nicht gut finden. Integration sieht sicherlich anders aus. Doch Fakt ist, dass die Neuankömmlinge von vielen Alteingesessenen willkommen geheißen werden. Der Ruf, ein innovatives Völkchen zu sein, eilt den Kreuzbergern nicht umsonst voraus. Anstatt sich lange über das Versagen der Berliner Behörden aufzuregen, suchen sie flugs nach Lösungen. So reagierten sie z. B. auf die unhaltbaren hygienischen Zustände vor Ort mit der spontanen Initiative, die Duschen ihrer Privatwohnungen zur Verfügung zu stellen.
¬ WIR SIND TEILHABENDE EINER UNTEILBAREN WELT. ¬
Den Möglichkeiten der Begegnung sind auf dieser größten Grünfläche Berlins keine Grenzen gesetzt. So laden die Gemeinschaftsgärten des Tempelhofer Feldes zum deutsch-arabischen Gärtnern ein, die Wiesen zum gemeinsamen Grillen, Spazierengehen, Drachensteigen und Fußballspielen. Der ehemalige Nazi-Flughafen wird so zu einer aktiven interkulturellen Begegnungszone. Und genau so werden aus Fremden Freunde. Nicht viel anders war es nach 1945, als 14 Millionen Vertriebene – unter ihnen meine Großeltern mit ihren sieben Kindern – in Deutschland ihre neue Heimat fanden. »Flüchtlingspack« schimpften die einen sie, die anderen aber hießen sie in ihrer Mitte willkommen.
Nein, dies ist nicht die Zeit, um sich in die spirituelle Komfortzone zurückzuziehen. Auch wenn die Verlockung noch nie größer war. Doch wir können das Leid der Welt nun mal nicht einfach wegmeditieren. Der spirituelle Auftrag der Gegenwart stellt uns vor ganz andere Herausforderungen. Nun zeigt sich, ob wir genügend Mitgefühl in unseren Herzen kultiviert haben, um unseren Mitmenschen in Not beizustehen. Dies ist die Bewährungsprobe für uns alle, die wir auf einem spirituellen Weg sind. Für den amerikanischen Zen-Meister Bernard Glassman, einem der wichtigsten Vertreter eines sozial engagierten Buddhismus, beweist sich ein wahrhaft spiritueller Weg im tätigen Mitgefühl. Und der wirksamste Weg zur Aktivierung von Mitgefühl, so Glassman Roshi, führt in die direkte Konfrontation mit dem Leid unserer Mitmenschen.
Ja, das Leid um uns herum ist zum Heulen. Doch immer dann, wenn es mich zu überwältigen droht, denke ich an die entschlossenen Worte meiner 90-jährigen jüdischen Freundin Èva Pusztai-Fahidi, die 1944 nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre gesamte Familie verlor: »Crying brings you nowhere!« Als ich vor fünf Jahren mit den Dreharbeiten zu dem Film »Mut zum Leben – Die Botschaft der Überlebenden von Auschwitz« begann, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass braune Brandstifter in solch einem erschreckenden Ausmaß wieder aktiv werden und dass schutzsuchende Menschen in Deutschland erneut um ihr Leben fürchten müssen. Die Überlebenden der Shoah haben mich in diesen Jahren viel gelehrt. Heute weiß ich besser denn je, dass Mitmenschlichkeit und Zivilcourage für die Bewahrung der Demokratie und die Stärkung der Zivilgesellschaft unabdingbar sind. »Nicht wegducken! Hinschauen! Handeln!«, das ist es doch, was unsere jüngste Geschichte uns mit auf den Weg gibt.
Jeder von uns ist für die Welt, in der wir leben, mitverantwortlich. Und jeder kann etwas dazu beitragen, diese zu einem besseren Ort zu machen. Gerade jetzt, da das Leid so vieler Menschen zum Himmel schreit. Wir sind Teilhabende einer unteilbaren Welt. Und alles, was wir tun, ebenso aber auch das, was wir nicht tun, hat Auswirkungen auf das Ganze. Wer sich einschwingt in dieses weltweite Netz der Verbundenheit, der kann gar nicht anders, als sein Herz für seine Mitmenschen in Not zu öffnen.
In welcher Welt also wollen wir leben? In einer Welt des Miteinanders, der Verbundenheit und offenen Grenzen oder in einer Welt des Hasses, der Trennung und der geschlossenen Schlagbäume?
Letztlich geht es nicht darum, ob wir es schaffen oder nicht. Worum es geht, ist zu handeln, anzupacken und der Stimme der Menschlichkeit Folge zu leisten. Jeder an seinem Ort, jeder nach seiner Art und Weise, jeder nach seinen Möglichkeiten. Genau das ist es doch, was die Weisen uns immer schon lehrten und was die Bhagavadgita, das heilige Buch des Hinduismus, in treffliche Worte fasste: Unsere Aufgabe ist es, zu handeln. Ob wir damit die Welt retten können, das liegt nicht in unserer Hand.
Author:
Christa Spannbauer
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