Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
February 2, 2024
In der südindischen Parabel von den blinden Männern und dem Elefanten untersucht eine Gruppe von Blinden – oder von Männern in völliger Dunkelheit – einen Elefanten, um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht einen anderen Körperteil des Tieres (aber jeder nur einen Teil), wie zum Beispiel die Flanke oder einen Stoßzahn. Dann vergleichen sie ihre Erfahrungen untereinander und stellen fest, dass jede individuelle Erfahrung zu ihrer eigenen, vollständig unterschiedlichen Schlussfolgerung führt. Das Gleichnis zeigt auf, dass die Realität sehr unterschiedlich verstanden werden kann, je nachdem, welche Perspektive man hat oder wählt. Eine scheinbar absolute Wahrheit kann durch tatsächliche Erkenntnis von nur unvollständigen Wahrheiten auch nur »relativ wahr«, d. h. individuell und subjektiv, verstanden werden.
Diese Parabel nimmt der Philosoph Thomas Metzinger zum Titel seines im Oktober 2023 veröffentlichten Buches »Der Elefant und die Blinden«, erschienen im Berlin Verlag. Thomas Metzinger, geboren 1958 in Frankfurt am Main, lehrte bis 2022 Philosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er gilt weltweit als einer der profiliertesten Philosophen des Geistes und der Kognitionswissenschaft und einer der meistzitierten deutschen Gegenwartsphilosophen. Er meditiert zweimal täglich und vertritt als Atheist eine säkulare Spiritualität. Er selbst bezeichnet sich als »Philosoph des Geistes und der Kognitionswissenschaften, der interdisziplinär arbeitet und einen undogmatischen naturalistischen Ansatz verfolgt«.
Nicht-akademischen Lesern ist er besonders durch seinen Bestseller »Der Ego-Tunnel« von 2009 bekannt geworden, der inzwischen in neun Sprachen übersetzt wurde. Letztes Jahr kam sein Buch »Bewusstseinskultur – Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise« heraus (siehe die Rezension von Thomas Steininger in evolve 38). Nun hat Thomas Metzinger sein fast 1000 Seiten dickes Werk »Der Elefant und die Blinden« veröffentlicht, ein Buch, das den wissenschaftlichen Rahmen zu den Aussagen seines vorherigen Buches gibt.
In »Der Elefant und die Blinden« stellt Metzinger die grundlegende Frage: »Gibt es eine Essenz des Bewusstseins?« und geht ihr nach, indem er sich auf die Erfahrung des »reinen Gewahrseins« in der Meditation konzentriert, die er als den besten Kandidaten für die einfachste Form von bewusstem Erleben ansieht. Reines Gewahrsein oder reines Bewusstsein ist für Metzinger der Zustand, in dem wir die innere Natur des Bewusstseins selbst erfassen, die »Konvergenzzone«, in der sich spirituelle Praxis, kognitive Neurowissenschaften und die Philosophie des Geistes berühren.
In einer großen Erhebung, die über 500 auswertbare Erfahrungsberichte von Meditierenden unterschiedlicher Methoden und Erfahrungsstufen aus 57 Ländern auswertet, überprüft er seine »Arbeitshypothese, dass Bewusstsein nicht nur in Abwesenheit von Gedanken und Sinneswahrnehmungen existieren kann, sondern sogar ohne Zeiterfahrung, ohne Selbstverortung in einem räumlichen Bezugssystem und ohne jede Form von körperlichem oder egoischem Selbstbewusstsein«, und kommt zu dem Schluss: »So paradox es klingen mag: Es existieren tatsächlich selbstlose Formen des Selbstbewusstseins.«
»Empirie und erweiterte Wirklichkeit zusammenzubringen, ist und bleibt ein schwieriger Weg.«
Indem Metzinger kontemplative Praxis, kognitive Neurowissenschaften und die moderne Philosophie des Geistes verbindet, versucht er, die spirituelle Erfahrung gänzlich von Esoterik und Religion zu lösen, und sieht somit ein objektives Erkennen, das alle Begrenztheiten einer »egoischen« Perspektive übersteigt, beziehungsweise – spirituell formuliert – transzendiert. Hier überschreitet Metzinger den Raum der evidenz-basierten Naturwissenschaft. Sein intellektueller Anspruch erlaubt ihm keine metaphysischen Annahmen. Diese sind für Metzinger einfach Glaubenssätze, die nur dazu dienen, die Menschen zu beruhigen und sie von der Tatsache ihrer Sterblichkeit abzulenken. Metaphysische Ansätze lassen ihm letztlich nur die Möglichkeit, sich auf den empirischen Tatsachenbestand zurückzuziehen, entsprechend seiner naturalistischen Denkweise. Dass es Erfahrungen einer erweiterten Wirklichkeit jenseits der Empirie und heilende, metaphysische Zustände aus Sicht höherer Bewusstseinsinhalte und -zustände gibt, lässt sich zwar nicht evidenz-basiert nachweisen, er kann diese aber auch nicht wissenschaftlich negieren. Empirie und erweiterte Wirklichkeit zusammenzubringen, ist und bleibt ein schwieriger Weg. Nichtsdestotrotz zeigt das Buch die gesellschaftliche, kulturelle und ethische Relevanz einer ernsthaften Meditationspraxis auf und schlägt den Bogen zur modernen Philosophie des Geistes.