Kampf um Bäume

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Buch/Filmbesprechung
Published On:

February 2, 2024

Featuring:
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 41 / 2024
|
February 2024
Leben, Tod
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Über den Film »Vergiss Meyn nicht«

Der Film beginnt mit Stille, mit einem untergründigen Klang, Baumwipfel, die sich öffnen in einen blauen Himmel, der durch das herbstliche Laub hindurchscheint. Aufgenommen wurden die Bilder von der 360-Grad-Kamera des Filmstudenten Steffen Meyn, der 2018 die Besetzung des Hambacher Forstes dokumentarisch begleitete und bei einem Polizeieinsatz zur Räumung der Baumhäuser tödlich verunglückte. Die Kamera fiel mit ihm zu Boden und filmte weiter. Mit dem Material, das Meyn filmte, haben Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff einen bewegenden Dokumentarfilm gestaltet, der die Ereignisse im »Hambi« hautnah erlebbar macht.

Steffen Meyn porträtierte mit seiner Kamera, die er auf einem Helm trug, das Leben in den Baumhäusern und die Aktivistinnen, die dort lebten. Mit ihrem Protest wollten sie die Rodung des Waldes durch den Energiekonzern RWE abwenden, der unter dem Wald liegende Braunkohlefelder abbauen wollte. In den Wipfeln der Bäume schufen sie beeindruckende Infrastrukturen mit Baumhäusern, die durch Hängebrücken und Seile miteinander verbunden waren. Meyn besucht sie, lebt in einigen von ihnen und schafft damit einen nahen Einblick in das spärliche und gefährliche Leben in den Bäumen. Auch das Leben in den Camps am Boden zeigt er, wo sich die Besetzer treffen, gemeinsam essen, diskutieren und musizieren. Die Sequenzen vom Leben im Wald wechseln sich ab mit Interviews mit Aktivistinnen, die bei der Besetzung dabei waren und Steffen kannten. Sie sprechen über ihre Beweggründe, über ihre Erfahrung in der Konfrontation mit der Polizei oder inwieweit solch ein radikaler, militanter Widerstand gerechtfertigt ist. Es sind junge Menschen, die konsequent für etwas, das sie als richtig erkannten, aufgestanden sind. Ihren eigenen Körper für das Überleben der Bäume eingesetzt haben. Dabei stehen die Bäume als ein Symbol für die Vision einer Gesellschaft, die schonend und liebevoll mit der lebendigen Welt umgeht, in der nicht Profit, Ausbeutung und Ungerechtigkeit herrschen, sondern Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Fürsorge für die Natur.

»Es sind junge Menschen, die konsequent für etwas, das sie als richtig erkannten, aufgestanden sind.«

Meyn solidarisiert sich mit diesem Anliegen der Waldbesetzer, reflektiert aber auch kritisch über eine Form des Widerstands, die vor Gewalt nicht zurückschreckt. Beispielhaft zeigt sich das während eines Gespräches mit einem »Kontaktpolizisten«, der über die Räumung einer Blockade verhandelt und eine einvernehmliche Lösung anbietet. Einige wollen darauf eingehen, andere rufen, der »Bulle« solle verschwinden und es kommt fast zu einem gewalttätigen Angriff. Darf man im Kampf für eine friedlichere, gerechtere, menschlichere, ökologische Gesellschaft Gewalt anwenden? Diese Frage bewegt Meyn und auch viele Besetzer. Die Aktivistinnen ringen untereinander mit unterschiedlichen Vorstellungen von Widerstand und internen Konflikten oder Äußerungen von sexualisierter Gewalt untereinander. Gleichzeitig haben viele von ihnen gewaltsame Übergriffe der Polizei erlebt, die der Film ebenso dokumentiert.

Die Ereignisse spitzen sich zu, als im Herbst 2018 die Baumhäuser geräumt werden. Zu diesem Zeitpunkt teilten viele Menschen das Anliegen der Besetzer. Der »Hambi« war zum Symbol für den Widerstand gegen die Zerstörung der Natur geworden. Aber dennoch wurde die Räumung des Geländes zunächst vollzogen – und später vom Gericht für rechtswidrig erklärt. Kurze Zeit später wurde die Rodung per Gerichtsbeschluss untersagt und der Hambi steht zum großen Teil bis heute, ein Kohleausstieg ist beschlossen. Dieses Ziel haben die Waldbesetzer erreicht. Aber der Preis war hoch. Steffen Meyn ist tot. Der Film ist auch ein Gedenken an ihn. Und daran, wie schnell es existenziell werden kann in solchen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei.

Der Film vermittelt, welche Entbehrungen und Gefahren die jungen Menschen bereit waren, für ihre Vision einer besseren Welt auf sich zu nehmen. Das berührt. Die Sorge um unsere Erde ist echt, ist spürbar. In ihrer radikalen Konsequenz halten sie uns allen einen Spiegel vor: Sind wir bereit, Bequemlichkeit und Konventionen zu verlassen und für unsere Werte einzustehen? Der Film stellt dabei die Frage, welche Form von Widerstand gerechtfertigt ist. Aber auch, welche Form der staatlichen Reaktion darauf angemessen ist – vor allem, wenn man bedenkt, dass die Räumung rechtswidrig war. Hätte Steffen Meyns Tod vermieden werden können? Das sind Fragen, die nachwirken.

Author:
Mike Kauschke
Share this article: