Führen aus dem Nicht-Wissen

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Kolumne
Published On:

April 30, 2024

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Ausgabe 42 / 2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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In meiner Arbeit mit Führungskräften geht es fast immer darum, aus einem Nicht-Wissen zu handeln. Das ist etwas, was Führen auszeichnet: wenn allgemeine Ungewissheit herrscht, Orientierung und Klarheit zu schaffen. Entscheidungen zu treffen, ohne vorher wissen zu können, was herauskommt.

In unserer Zeit sind viele Führungskräfte mehr denn je gefordert, viele strukturell überfordert. Längst handeln wir nicht nur mit einer großen Veränderung wie der Digitalisierung mit mindestens zwei weltverändernden neuen Technologien jedes Jahr wie zuletzt die jüngsten Modelle von künstlicher Intelligenz. Nein, da gibt es Pandemien und Kriege. Neue Start-ups, die den einst sicheren Markt neu aufrollen. Im Hintergrund der sich weiter aufbauende Klimawandel mit tatsächlich unabsehbaren Konsequenzen für die Grundlagen unserer Zivilisation. Und daheim die junge Generation, die einem vorwurfsvoll Fragen stellt, auf die die Führungskraft ja auch keine Antwort hat.

Die Midlife-Crisis war immer schon eine heftige Periode für Erwachsene. Die heutige Version aber hat es in sich, es scheint, dass wir insgesamt in einer umfassenden Dauerkrise stecken. Meine griechischen Freunde weisen mich darauf hin, dass Krise im Griechischen heißt: Zeit zur Entscheidung. Es gibt kein Vertagen oder Auskommen. Was aber ist heute zu entscheiden?

Wir wissen es nicht eindeutig. Ich weiß hingegen, dass ich nichts weiß. Sokrates’ Einsicht gilt heute wie jeher. Was aber kann ich tun, wenn ich nicht weiß, was zu tun ist?

»Was aber kann ich tun, wenn ich nicht weiß, was zu tun ist?«

Vor 30 Jahren trat ich in die Dienste der EU-Kommission. Schon damals traf ich auf Führungskräfte, die eher vorsichtig, ja zögerlich waren im Blick auf die vielen Neuerungen, Möglichkeiten und Krisen, die sich damals auftaten. Andere hingegen strahlten Freude aus, sich all dem zu stellen. Was den Unterschied machte, waren Offenheit und Neugier. Freude am Ausprobieren. Wissen um die Rolle in der Organisation und die Fähigkeit, immer wieder neue Partner und alte Freunde miteinander in neue Initiativen und Projekte zu verwickeln. Ich lernte von jenen Menschen. Ich las die Memoiren Jean Monnets, des Gründers und Architekten der Europäischen Integration, und als ich 2012 Brüssel und den EU-Dienst verließ, nahm ich seine Methode mit auf den Weg.

Worin besteht sie? Zunächst eine tägliche Praxis der Einkehr und Konzentration. Jean Monnet lebte nahe der Natur, auf dem Land. Er ging jeden Morgen erst einmal aus dem Haus und durch den Wald. Zeit zum Bewegen und Denken.

Zweitens, eine Offenheit für Informationen vor allem durch direkte Gespräche. Alle Inhalte sind aufschlussreich. Jeder Mensch hat eine wichtige Sicht auf die großen Fragen, die gerade offen sind, und jeder Gesichtspunkt kann ein wichtiges Detail zum Verständnis einer Lösung beitragen.

Drittens, Fragen zuerst. Bevor es um eine Antwort geht, geht es darum, die Frage zu klären, die wirklich zu beantworten ist. Gerade dann, wenn es keine Antwort gibt, ist die Klärung der Frage die erste Aufgabe. Auch wenn die dann geklärte Frage noch nicht klar zu beantworten ist, so gibt sie doch dem Handeln und Forschen eine Richtung.

Wir sind der Ungewissheit also nicht ausgeliefert, sondern können sie befragen, mit ihr in einen Dialog treten. Dies brauchen wir gar nicht nur alleine zu tun, sondern wir können unsere Gesprächspartner einladen, es mit uns gemeinsam zu unternehmen. Solche Gespräche werden immer wieder als besonders inspirierend, tiefgehend und entscheidend wahrgenommen.

In solchen Haltungen sehe ich eine entwickelte Führungskraft, die Verantwortung wahrnimmt, ohne etwas wissen zu müssen. Die sich selbst aufgeben und ihrem Werk hingeben kann.

Author:
Rainer von Leoprechting
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