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Kumi Naidoo organisierte schon als Schüler Boykotte gegen das Apartheidsregime in Südafrika. Nach einer Zeit des Exils in England kehrte er nach dem Fall des Regimes nach Südafrika zurück und engagierte sich in der Unabhängigen Wahlkommission (IEC) für die Überwachung der ersten demokratischen Wahlen des Landes. Später war er als Direktor von Greenpeace International und Generalsekretär von Amnesty International tätig und ist derzeit Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy in Berlin. Wir sprachen mit Kumi Naidoo über seine Erfahrungen im Einsatz für Menschenrechte und Umweltschutz und über die besonderen Herausforderungen und Möglichkeiten des globalen Aktivismus heute.
evolve: Welche Herausforderungen sehen Sie heute für den öko-sozialen Aktivismus?
Kumi Naidoo: Die größte Herausforderung im Aktivismus besteht darin, dass wir nicht in der Lage sind, Menschen mit einem breiten Spektrum an Ansichten und Werten zu erreichen. Wir verbringen viel Zeit damit, mit uns selbst zu reden. Die Sprache, die wir verwenden, wird nicht bewusst so gestaltet und eingesetzt, dass sie auch Menschen erreicht, die nicht bereits Teil des Gesprächs sind. Vor allem im Klima- und Umwelt-Aktivismus kann man sich in der Buchstabensuppe von Fachbegriffen sowie in »parts per million«, Temperaturgraden, Zielvorgaben und so weiter verlieren.
Das hat mich schon immer beunruhigt, aber heute wird diese Situation immer dringlicher. Ich erinnere mich, dass ich als Greenpeace-Chef an einer Aktion zur Besetzung einer Bohrinsel in der grönländischen Arktis teilgenommen habe. Die See war sehr rau und ich hatte Angst zu ertrinken. Und als ich im Schlauchboot saß, dachte ich: »Wenn dies die letzte Aktion meines Lebens ist, werden die meisten Menschen zu Hause in Afrika nicht wissen, was der Slogan ›Rettet die Arktis‹ eigentlich bedeutet.« Das war 2011, als man noch nicht so viel über die Arktis sprach. Als ich nach dieser Aktion aus dem Gefängnis kam und mit einigen Kindern aus meiner Familie sprach, sagten sie: »Weißt du, was ein besserer Slogan gewesen wäre? ›Rettet den Weihnachtsmann jetzt!‹«
Das hat mich zum Nachdenken gebracht, denn es ist das Gegenteil von dem, was Aktivisten normalerweise tun, nämlich so zu reden, als seien sie im Besitz der absoluten Wahrheit. Aber ein Slogan wie ›Rettet den Weihnachtsmann jetzt!‹ bedeutet, dass man aufhört, seine eigene Perspektive auf die Menschen zu projizieren, die man mobilisieren möchte, sondern dass man den Bewusstseinszustand der Menschen, mit denen man ins Gespräch kommen -möchte, versteht.
Wir müssen den Begriff des Aktivismus neu definieren.
e:Wie ist es möglich, Menschen zu erreichen, die eine andere oder gar entgegengesetzte Meinung haben?
KN: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wie wir heute wissen, sind die meisten jungen Menschen unter 35 Jahren weltweit der Meinung, dass das derzeitige Wirtschaftssystem nicht mehr haltbar ist und wir ein neues Wirtschaftssystem entwickeln müssen. Wenn wir eine Kampagne starten würden, um dieses Thema anzusprechen, könnten wir sagen: »Lasst uns das ungerechte, brutale kapitalistische System besiegen!« Wenn man das so formuliert, stößt man Menschen, die nicht die gleiche Weltanschauung haben wie man selbst, noch weiter von sich weg, weil die Sprache, die man gewählt hat, mehr auf die eigene Einstellung als auf die Einstellung der Menschen eingeht, die man erreichen möchte.
Eine andere Möglichkeit, das Gleiche zu sagen, wäre: »Lasst uns eine Wirtschaft aufbauen, die alle einbezieht und die Umwelt nicht zerstört.« Auch mit einem solchen Ansatz wird sich nicht jeder sofort überzeugen lassen. Aber zumindest haben Sie so eine Brücke für den Dialog und das Gespräch gebaut.
Und ich habe immer, selbst als junger, naiver Aktivist im Alter von 15 Jahren, daran geglaubt, dass man, wenn man leidenschaftlich an eine Weltsicht glaubt, zuversichtlich sein muss, dass man Menschen für diese Sichtweise gewinnen kann.
Ich sehe die unbedingte Notwendigkeit, solche Brücken zu bauen. Ich weigere mich zu akzeptieren, dass wir große Teile der Bevölkerung links liegen lassen und sagen können, sie seien Faschisten oder was auch immer. Ich denke, das ist einfach nicht richtig. Aktivismus heißt nicht, eine Position zu entwickeln, sie zu verbreiten und Leute, die bereits mit einem übereinstimmen, dazu zu bringen, sich einem anzuschließen. Dann wird Aktivismus zu einer Echokammer, die anfängt, mit sich selbst zu reden, in der die Leute sich selbst davon überzeugen, wie richtig sie doch liegen, wie engagiert sie sind, dass die Geschichte auf ihrer Seite ist und so weiter. Unter Aktivisten sehe ich zunehmend mehr Bereitschaft, sich auszutauschen und zu versuchen, die gegnerische Perspektive zu verstehen.
e:Diese Art von dialogischem Ansatz erfordert Zeit und Mühe. Wie sehen Sie diese Notwendigkeit, Menschen zu erreichen, vor dem Hintergrund der dringlichen Situation, in der wir eigentlich schnell handeln müssen?
KN: Ich habe eine Podcast-Reihe mit dem Titel »Power, People and Planet«, in der ich mit Aktivisten über den Aufbau eines neuen ökologischen Gesellschaftsvertrags spreche. Fast alle, mit denen ich gesprochen habe, sagen zwei Dinge, die eigentlich widersprüchlich sind. Einerseits erwähnen sie, dass die Welt in einem schlechten Zustand ist, wie wir auf Afrikaans sagen würden: »Deep in the gut«. Wenn man sich die Klimakrise, den systemischen Rassismus und die Ungleichheitskrise ansieht, scheinen wir den Kampf zu verlieren. Aber gleichzeitig sagen fast alle: »Wir können uns an keinen Moment erinnern, in dem das Potenzial für einen großen strukturellen und systemischen Wandel, der die Wurzeln des Problems anpackt, so groß war wie heute.« Und ich teile diese Sichtweise.
Die Möglichkeit eines grundlegenden strukturellen und systemischen Wandels wird keineswegs einfach sein. Aber ich -sehe eine ernsthafte Chance darin. Immer mehr Menschen erkennen, dass unser System krank ist. Es leidet nicht an Influenza, sondern an Affluenza. Uns wird vorgegaukelt, ein gutes, sinnvolles und erfülltes Leben sei nur durch immer mehr materielle Besitztümer möglich. Und vom Standpunkt des Bewusstseins aus betrachtet, ist der Materialismus tief in die Psyche der Menschen eingedrungen. Er ist heute Teil unserer Identität. Aber immer mehr Menschen werden sich dessen bewusst.
e: Worauf konzentrieren Sie sich in Ihrer eigenen Arbeit als Aktivist derzeit?
KN: Ich möchte daran mitwirken, Aktivismus neu zu definieren. Aktivismus sollte nicht als eine Tätigkeitsform definiert werden, bei der Menschen in Vollzeitjobs für NGOs arbeiten. Wir müssen den Begriff des Aktivismus neu definieren, sodass -jede und jeder ein Aktivist sein kann, auch jemand, der in einer Bank oder in einem Unternehmen für fossile Brennstoffe arbeitet. Alleinerziehende Mütter und Väter können nicht auf die Straße gehen und demonstrieren, aber sie können online aktiv sein. Auch Kunst und Kultur können eine wichtige Rolle in der Kommunikation mit den Menschen spielen. Die aktuelle Herausforderung besteht also darin, den Menschen vielfältige Möglichkeiten zu bieten, sich am Klima-Aktivismus zu beteiligen, denn der Pessimismus unserer Analyse kann am besten durch den Optimismus unseres Handelns überwunden werden.
Wir müssen sicherstellen, dass die Handlungsfähigkeit der Menschen im Mittelpunkt steht. Ich spreche davon, unsere Autonomie, unsere kreative Beteiligung, unseren Konsum und unseren Wohlstand zu nutzen. Wenn die Menschen anfangen, bewusste Entscheidungen zu treffen und zum Beispiel zu Banken gehen, die kein Öl, keine Kohle, kein Gas oder keine Abholzung finanzieren, würde das schon einen großen Unterschied machen. Wir sollten nicht die Kraft unterschätzen, die darin liegt, den Menschen zu helfen, optimistisch und hoffnungsvoll zu sein, indem wir vielfältige Möglichkeiten schaffen, wie sie sich beteiligen können.
Aktivismus ist ein Akt der Hoffnung. Und dabei ist es nicht so, dass die Hoffnung eine notwendige Voraussetzung für das Handeln ist. Eigentlich ist es genau umgekehrt: Die Aktion selbst schafft Hoffnung. Im Wesentlichen möchte ich die Menschen daran erinnern, dass wir mehr Wirkmacht haben, als wir denken, und dass wir diese Kraft klug einsetzen und nutzen müssen. Dieser Augenblick in der Geschichte ist das folgenreichste Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit. Was wir in den nächsten zehn Jahren tun, wird darüber entscheiden, welche Zukunft wir haben oder ob wir überhaupt eine Zukunft haben werden.
Das Gespräch führten Mike Kauschke und Julia Wenzel.
Author:
Mike Kauschke
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