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Buch/Filmbesprechung
Published On:

April 23, 2015

Featuring:
Neil Shubin
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Issue:
Ausgabe 06 / 2015:
|
April 2015
Wir-Räume
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Eine Rezension von Neil Shubin „Das Universum in dir“

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, besteht es zu 75 Prozent aus Wasser. Bei Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, sind es nur noch knapp über 50. Ein Wassermolekül besteht bekanntlich aus zwei Wasserstoff- und einem Sauerstoffatom. Die Kerne jedes Wasserstoffatoms Ihres Körpers sind 13,7 Milliarden Jahre alt. Sie entstanden während der ersten drei Minuten nach dem Urknall. Die Sauerstoffatome sind, wie all die anderen Atome der Elemente Ihres Körpers, wesentlich jünger. Die meisten von ihnen wurden in Sternen produziert, die deutlich älter als unsere Sonne sind. Die schwereren Elemente unseres Körpers sind gar bei gigantischen Supernova-Explosionen entstanden. Das Wasser unserer Gewebe erinnert uns nicht nur auf oberflächliche Weise an die Ozeane der Urzeit, jene Massen flüssigen Wassers, die erst durch den richtigen Abstand der Erde zur Sonne, ihre Größe und die Art ihrer Entstehung möglich wurden. 2,7 Milliarden Jahre unserer biologischen Vergangenheit haben sich ausschließlich im Wasser abgespielt. Hier ist das Leben entstanden und hat sich von primitiven Formen bis hin zu den ersten Wirbeltieren entwickelt. Die ersten Landwirbeltiere haben das Milieu des Ur-Ozeans in sich eingeschlossen und auf verwickelte Art und Weise mit den Bedingungen des Landlebens harmonisiert. Die Rhythmen unserer Sexualität folgen noch heute dem Wechsel von Ebbe und Flut. Jener hängt natürlich wieder vom Umlauf des Mondes ab, der bei der Kollision der Ur-Erde mit einem gigantischen Asteroiden entstand. Seit dieser Kollision ist die Erde auch um etwa 23 Grad gegen die Ekliptik geneigt, worin wiederum die Ursache für die Jahreszeiten zu suchen ist. Ihnen folgen wieder andere Rhythmen unseres Körpers und der ganzen lebenden Natur. Und seit diesem Zeitpunkt dreht sich die Erde etwa in jener Geschwindigkeit, die als Tag- und Nachtrhythmus unser Leben bestimmt. Doch auch die Neigung der Erdachse unterliegt Schwankungen in der Größenordnung von vielen tausend Jahren, die wiederum zu Eiszeiten, Kalt- und Warmzeiten führten, die ihrerseits zu wichtigen Randbedingungen der Evolution des Lebens auf der Erde und letztendlich auch des Menschen wurden. Entwicklungen, die sich keineswegs immer geradlinig und harmonisch vollzogen, sondern immer wieder durch gigantische Naturkatastrophen gekennzeichnet waren, die zum Massensterben ganzer Organismengruppen führten, Platz machten für die Entfaltung neuer Lebensformen und ihrerseits wieder ihren Ursprung in gewaltigen geologischen Veränderungen oder kosmischen Ereignissen hatten, die auch in den Lebensvorgängen unseres Körpers ihre Spuren hinterlassen haben.
Alles hängt mit allem zusammen. Wenn man dies als eine Grundaussage alter und neuerer spiritueller Traditionen versteht, dann ist das neue Buch von Neil Shubin über diese und viele andere irdische und außerirdische Evolutionsprozesse ein zutiefst mystisches Werk. Es erzählt die Geschichte des Universums, unseres Sonnensystems, der Erde, ihrer Kontinente und Meere, ihrer Atmosphäre und ihres Klimas, ihrer Gesteinsformationen und des Lebens auf ihr, macht immer wieder deutlich, wie all dies miteinander und mit den biologischen Grundlagen menschlicher Existenz zusammenstimmt, und verführt den Leser zu einer wahrhaft kosmozentrischen Sicht der Dinge. Neil Shubin ist ein guter Erzähler. Seine Darstellung ist unterhaltsam, informativ, manchmal gar poetisch und auch für den akademisch nicht einschlägig vorgebildeten Leser sehr gut verständlich. Doch Shubin ist kein Mystiker. Er ist ein renommierter Wissenschaftler, ein Paläontologe, der sich unter anderem durch die Entdeckung des im Erdzeitalter des Devon lebenden Tiktaalik, einer Übergangsform zwischen Fischen und Amphibien, einen Namen gemacht hat. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er durch sein Buch „Der Fisch in uns“ bekannt, in dem er auf ähnlich unterhaltsame, aber fachlich etwas anspruchsvollere Weise in unserem Körper und seiner embryologischen Entwicklung nach Spuren unserer biologischen Urahnen fahndet.

Ist es nicht eben das, was Wissenschaft und Spiritualität miteinander verbindet: die unbedingte Verpflichtung zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit?


Und dementsprechend erzählt er auch in diesem Buch die Evolution von Universum, Erde und Leben vor allem als eine Geschichte wissenschaftlicher Entdeckungen. Er greift dazu weit in die Vergangenheit zurück, indem er Wissenschaftler vergangener Jahrhunderte und ihre mit wichtigen Entdeckungen verwobenen Schicksale auf lebendige Weise vor uns aufleuchten lässt. Oftmals münden diese Geschichten in packende Darstellungen seiner eigenen Forschungsreisen, in denen das Abenteuer Forschung ebenso erlebbar wird wie der oftmals entbehrungsreiche Alltag und ermüdende Fleißarbeit. Auf ausgesprochen interessante Weise macht er in seinem Buch deutlich, wie Wissenschaft funktioniert. Dabei verlässt er an keiner Stelle den Rahmen allgemein akzeptierter Mainstream-Forschung, obwohl er auch deutlich macht, dass viele revolutionäre Ideen der Wissenschaftsgeschichte lange Zeit als esoterischen Spinnereien galten, ehe sie durch methodisch abgesicherte Erkenntnisse belegt werden konnten. Darstellungen aktueller Forschungen, die zum Ursprung künftiger wissenschaftlicher Revolutionen werden könnten, vermisst man jedoch in seinem Buch. Man mag dies als Zeichen seiner Seriosität deuten: Nur das verdient die Beachtung des Autors, was seine Wahrheit nach streng wissenschaftlichen Kriterien unter Beweis gestellt hat. Und ist es nicht eben das, was Wissenschaft und Spiritualität miteinander verbindet: die unbedingte Verpflichtung zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit? Dennoch bleibt die Frage, ob mit den vielfältigen naturwissenschaftlichen Bezügen das Wesen des Menschen und seine Verwobenheit mit dem Universum hinreichend ausgeleuchtet sind. Jeder Mensch bleibt zumindest zwischen Zeugung und Tod dasselbe einzigartige Individuum, obgleich alle die Atome seines Körpers mit ihrer eindrucksvollen Geschichte etliche Male ausgetauscht worden sind. Er durchläuft eine individuelle und kulturelle Entwicklung, in der er sich weit über die kosmisch und irdisch bedingten Rhythmen der Natur erhebt. Und er lässt in seinem Bewusstsein erst all das zur Wirklichkeit kommen, was Shubin in seinem Buch vor dem inneren Auge des Lesers wiederentstehen lässt. Und dann ist da der unendliche Hinter- und Untergrund des Unbekannten, über den man nicht sprechen, sondern nur schweigen, den man noch nicht wissenschaftlich ergründen, den man vielleicht nie mit den Mitteln unseres Verstandes erklären, sondern nur meditativ erfahren kann. Und vielleicht noch nicht einmal das.

Author:
Dr. Axel Ziemke
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