Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 24, 2022
evolve: Ihr Architektur-Stil verbindet die traditionell asiatische oder japanische Bauweise mit einem modernen Ansatz. Wie ist dies aus Ihrem eigenen Werdegang heraus entstanden?
Kengo Kuma: Das Haus, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, war ein altes, kleines Holzhaus. Ich liebte den menschlichen Maßstab und die warme Materialbeschaffenheit dieses alten Hauses. Ich bemühe mich, den größeren Gebäuden diese Art von Wärme zu verleihen. Aber es hat tatsächlich lange Zeit gedauert, bis ich einen Weg gefunden habe, jene Ideen und Methoden der alten japanischen Architektur auf große öffentliche Gebäude zu übertragen. Erst nach vielem Herumexperimentieren in den 1990er-Jahren fand ich nach und nach die geeignete Methode, um die Atmosphäre traditioneller japanischer Bauwerke auf zeitgenössische Gebäude zu übertragen.
Die 1990er-Jahre waren eine sehr wichtige Zeitperiode für mich. Die sogenannte Bubble Economy platzte 1991, und danach wurde ein großes Projekt, an dem ich gerade in Tokio arbeitete, abgebrochen. Ich beschloss aufs Land zu reisen und arbeitete mit traditionellen Handwerkern. Auf diese Weise entdeckte ich die Vielfalt japanischer Handwerkskunst. In jedem Distrikt gibt es verschiedene Traditionen, es werden verschiedene Materialien benutzt, und unterschiedliche Methoden sind zur Entwicklung gekommen. Ich entdeckte Japans Schatz. Als Ergebnis jener zehn Jahre entwickelte ich meine eigene Methode.
e: Worin besteht diese Methode im Wesent-
lichen?
KK: Aufgrund der Erfahrungen in den 1990er-Jahren entdeckte ich die Wichtigkeit des Ortes. Der Ort ist meiner Ansicht nach wichtiger als der Charakter des Architekten. Für die vorhergehende Generation von Architekten bestimmte dieser das Erscheinungsbild des Gebäudes. Ich hingegen versuche, mit dem jeweiligen Ort, seiner Beschaffenheit und seiner Kultur zusammenzuarbeiten. Das ist für mich viel aufregender, denn die Arbeit mit einem Ort kann mich verändern, es kann mich auf eine neue Ebene meiner Arbeit bringen. Für mich ist das interessanter als der Baustil.
Ein Gespür für den Ort
e: Und wie gehen Sie das an, wenn Sie zu einem neuen Ort kommen und ein neues architektonisches Projekt beginnen? Wie machen Sie sich mit dem Ort vertraut, um zu einer Vorstellung von dem Bauvorhaben zu gelangen?
KK: Der erste Schritt ist, um das Gelände herumzulaufen, damit ich mit meinen Füßen, meinen Händen und meinen Augen ein Gespür für den Ort bekomme. Fotos und Videos reichen nicht aus, das ist nur ein visueller Eindruck. Ich will die tiefste Essenz des Ortes finden. Der zweite Schritt ist, mit den Menschen an diesem Ort ein unmittelbares Gespräch zu führen, um die essenzielle Kultur zu erspüren. Das ist viel wichtiger als die Informationen, die ich im Internet finden kann. Nach Beendigung dieses Prozesses beginne ich langsam damit, für mich selbst ein Modell zu entwerfen. Ich fertige immer ein komplettes Testmodell vor Ort an. Die Idee muss vor Ort überprüft werden, nicht in meinem Büro. Auf dem Gelände können wir die natürlichen Wind- und Lichtverhältnisse des Ortes untersuchen, die Balance zwischen der Umgebung und meinem Testmodell. Das ist sehr wichtig für die weitere Entwicklung meines Designs.
e: Wie treffen Sie Entscheidungen hinsichtlich der Materialien, die Sie verwenden? Und wonach entscheiden Sie, wie Sie mit ihnen arbeiten?
KK: Die richtige Lösung für jeden Bauplatz kommt sozusagen plötzlich vom Himmel. Ich warte immer auf diesen besonderen Moment. Schnelle Entscheidungen sind nicht gut, ich warte auf das besondere Timing. Es kommt aus meiner Intuition, die sehr stark mit meinem Körpergefühl verbunden ist. Vielleicht ist das sehr ähnlich wie beim Improvisieren im Jazz. Da die Improvisation meinem Körpergefühl entspringt und nicht meinem Gehirn, arbeiten der Ort und mein Körper zusammen, um etwas miteinander zu spielen.
e: Sie sprechen auch von einer demütigen Baukunst (humble architecture). Ist dieser Ausdruck auf diesen intuitiven Prozess zurückzuführen?
KK: Ja. Demütig zu sein bedeutet, Achtung vor dem Ort zu haben, in den Ort zu lauschen. Diese Haltung nenne ich Demut. Die Methode, mit welcher ein Architekt seinen eigenen Stil kreiert, ist das Gegenteil davon. Ich bin nicht daran interessiert, meinen eigenen Stil zu kreieren oder zu kopieren. Ich arbeite immer mit dem jeweiligen besonderen Ort, und jedes Mal ist das einzigartig, es ist keine Kopie.
¬ ICH BEMÜHE MICH, DEN GRÖSSEREN GEBÄUDEN EINE ART VON WÄRME ZU VERLEIHEN.¬
In meiner Architektur ist Nachhaltigkeit ein sehr wichtiges Konzept. Nachhaltigkeit ist für mich ein Gleichgewicht mit dem Ort, kein Kalkül. Einige Ingenieure berechnen Umweltfaktoren und das ökologische Gleichgewicht nach Verhältnismäßigkeit und mithilfe von Mathematik. Mathematik gehört auch zur Nachhaltigkeit, aber das Wichtigste ist die tatsächliche Balance mit dem Ort. Wenn wir dieses Verhältnis bestimmen können, diese Harmonie mit dem Ort finden können, dann wird das, was wir erschaffen, nachhaltig sein. Ich nenne das auch eine Anti-Objekt-Herangehensweise an Architektur (anti-object approach to architecture), welche der Demut sehr ähnlich ist. Einen Ort oder ein Bauwerk zu einem Objekt zu machen, bedeutet, sich vom Grund dieses spezifischen Ortes zu isolieren. Ich versuche, das jeweilige Gebäude in die Grundlage, die die Landschaft bietet, zu integrieren.
Eine kontinuierliche Musik
e: Möchten Sie, dass die Leute eine bestimmte Wahrnehmung oder Erfahrung in den Gebäuden haben? Denken Sie daran, wie die Menschen das Gebäude erleben, wie es für sie ist, darin zu wohnen oder sich darin aufzuhalten?
KK: Ich will einfach nur, dass die Leute sich an dem Gebäude erfreuen, egal ob sie darin wohnen oder es besuchen. Für sie ist es äußerst wichtig, die Räume zu genießen. Das Gebäude sollte sie einladen. Es ist wie Musik. Bevor die Leute das Gebäude betreten, hat die Musik bereits begonnen. Deshalb sollte die Umgebung des Gebäudes nicht als abgetrennt erlebt werden. Es sollte ein kontinuierliches Erlebnis sein, wie Musik. Auf diese Weise wird das Gebäude Teil der Musik des Ortes, und die Menschen können ihr lauschen, wenn sie das Gebäude betreten.
e: Ich habe gelesen, dass für Sie die Leere das Wichtigste in der Architektur ist. Inwiefern betrachten Sie den leeren Raum als einen wichtigen Aspekt?
KK: In der traditionellen japanischen Baukunst ist der wichtigste Raum die Leere. In der Leere können wir die Veränderung des Lichtes, die Veränderung der Zeit, die Veränderung des Geruchs, die Veränderung der Temperatur fühlen. Die Leere ist ein Sensor. Die Leere und der menschliche Körper arbeiten zusammen, um etwas zu spüren. In meinem architektonischen Design bedenke ich auch immer, wo in meinen Bauwerken die Leere ist. Und wenn ich einen leeren Raum für unser Projekt erschaffen kann, ist das Projekt erfolgreich. Ich will das Gebäude als eine Einheit erschaffen, als kontinuierliche Musik, und die Leere verbindet das Diverse, die verschiedenen Räume, die verschiedenen Materialien und die verschiedenen Strukturen. Die Leere hat auch Bezug zur Transparenz, die viele verschiede Dinge verbinden kann. Hinter einer Schicht sieht man eine weitere und dahinter wieder eine weitere. Wirkliche Transparenz bedeutet, dass diese Schichten als miteinander verbunden erlebt werden. Wenn die Transparenz lichtundurchlässig ist, wird das Erlebnis uneinheitlich. Und wenn es uneinheitlich ist, dann können wir nicht das gesamte Lied hören.
Die Vielfältigkeit der Welt
e: Worin besteht Ihrer Ansicht nach heutzutage die gesellschaftliche Rolle von Architekten? Und welche Art von Impuls kann Architektur in die Kultur einbringen?
KK: Im 20. Jahrhundert hat die Globalisierung die Vielfältigkeit von Orten zerstört. Architektur fungierte als ein Teil jener Globalisierung, und die internationale Architektur hat die Vielfalt zerstört. Aber jetzt, im 21. Jahrhundert, sollte die Architektur mit der Diversität arbeiten, sie sollte die Vielfältigkeit aller Orte verstärken. In dieser Hinsicht ist die Verantwortung der Architekten sehr groß, weil Architektur die Vielfältigkeit der Welt wiederherstellen sollte.
Die Menschheit braucht Diversität. Denn überall ist das Klima unterschiedlich, die Geschichte unterschiedlich und die Kultur unterschiedlich. Die moderne Architektur hat diese Art von Unterschiedlichkeit zerstört, und als Architekt ist man dafür verantwortlich, die Vielfalt wiederherzustellen. Das bedeutet nicht, zur Tradition zurückzukehren. Wir können aus der Geschichte lernen, aber wir müssen darüber hinausgehen. Global betrachtet haben wir verschiedene gesellschaftliche und wirtschaftliche Systeme, und wir müssen in dieser komplexen Situation Diversität finden.
¬ ICH WILL DIE TIEFSTE ESSENZ DES ORTES FINDEN. ¬
e: Was ist Ihre Vision, wie das realisiert werden könnte, zum Beispiel in den großen Städten, in denen sich moderne Bauweisen entwickelt haben, mit Wolkenkratzern und dergleichen mehr? Wie visualisieren Sie diese Art von Integration in solchen Räumen?
KK: Sogar in den Großstädten können wir immer noch solche kleinen Viertel finden. Wir können geeignete Lokalitäten finden, insbesondere in Tokio mit seinen engen Sträßchen. Wenn wir solche Stellen in größeren Städten neu beleben, dann können wir die Großstädte dahingehend verändern, dass sie mehr Diversität bieten. Es gibt da also auch eine soziale Komponente, und Architektur kann dazu beitragen, dass zwischen Menschen engere Beziehungen entstehen.
Es ist heutzutage die Aufgabe der Architekten, über das System hinter dem Design zu sprechen. Der Architekt ist nicht lediglich ein Designer. Der Architekt ist mitverantwortlich für das gesamte gesellschaftliche System, für das gesamte Ökosystem. Die Leute reden immerzu vom Design: »Das ist schön, das strahlt Wärme aus.« Aber ich versuche, auf die Wichtigkeit des Ökosystems hinter der Ästhetik hinzuweisen. 70 Prozent von Japan bestehen aus Wald, und die Menschen leben in Holzhäusern. Da besteht ein perfekter Ökozyklus zwischen dem Menschen, dem Wald und der Handwerkskunst. Darüber hinaus wird dieses System dazu benutzt, um schöne Städte zu erschaffen. Japan ist kein großes Land, und es verfügt nicht über allzu reiche Ressourcen. Dennoch haben wir Japaner Städte erschaffen, die schön sind, die intim sind. In der Zukunft wird die Umwelt das wichtigste Thema für die Menschheit sein. Und in der Geschichte Japans ging es immer darum, innerhalb des sehr begrenzten Raumes Glück zu ermöglichen. Deshalb kann es ein großes Vorbild sein für einen zukünftigen Lebensstil.
Immer im Fluss
e: Sie arbeiten in Ihren Büros mit vielen Menschen, Sie arbeiten mit Studenten, Sie kommunizieren mit anderen über Architektur. Sie arbeiten auch an konkreten Projekten mit Produzenten, Projektplanern und Handwerkern. Welche Rolle spielt für Sie die Tatsache, dass Sie zusammen mit einer größeren Gruppe von Leuten an solchen Bauprojekten arbeiten?
KK: Ich glaube, dass Architektur nicht aus der Planung einer Einzelperson entsteht, sie resultiert aus der Zusammenarbeit vieler Menschen. Ich stelle immer ein großes Team zusammen, um ein Bauvorhaben zu entwerfen und zu realisieren. In diesem Prozess ist die Kommunikation mit Designern und Ingenieuren sehr wichtig. Als Teilhaber an einem Team entspricht es meiner Vorgehensweise, die Meinung der anderen zu hören. Ich will ihnen meine Meinung nicht aufdrängen. Wir halten die Hierarchie in unserem Team stets sehr flach, sehr horizontal, weil es notwendig ist, ein großes Team auf gemeinschaftlicher Basis zu bilden. Dadurch kann sich die Idee eines Bauprojekts verändern, da ich im Prozess der Zusammenarbeit von anderen Leuten Impulse und Input bekomme. Dabei manifestieren sich viele neue Ideen. Wir sind immer im Fluss; wir sind nicht statisch. In diesem Flow nimmt das Gebäude Gestalt an und es kann etwas anderes dabei herauskommen als ursprünglich konzipiert. Das wiederum hilft mir dabei, mich nicht selbst zu kopieren.
e: Als Sie das Nationalstadion in Tokio erbaut haben, verwendeten Sie Holz aus vielen Präfekturen Japans und wollten ein »Ökosystem für die Handwerkskunst im 21. Jahrhundert« erschaffen. Können Sie erklären, was Sie darunter verstehen, oder welche Idee dieser Intention zugrunde liegt?
KK: Für dieses große Stadion versuchten wir immer noch einen Weg zu finden, wie man Holz für die Fassade des Bauwerks und auch für die Dachkonstruktion verwenden kann. Und mir kam die Idee, das Holz aus 47 Präfekturen in Japan zu verwenden. Es ist Zedernholz aus verschiedenen Regionen. Auf diese Weise konnten wir die Vielfalt Japans zeigen. Das ist sehr wichtig, denn aus der Ferne betrachtet sieht Japan wie ein kleines Land aus, aber tatsächlich gibt es eine große Diversität. Der Süden und der Norden sind sehr unterschiedlich, was ihr Klima oder ihre Geschichte anbelangt, und die Mentalität ist unterschiedlich. Diese Art von Diversität will ich mit dem Bauwerk zeigen.
¬ WIRKLICHE TRANSPARENZ BEDEUTET, DASS DIE VERSCHIEDENEN SCHICHTEN ALS MITEINANDER VERBUNDEN ERLEBT WERDEN. ¬
Wir wollten auch die örtlichen Handwerker miteinbeziehen, um das Wissen aus den jeweiligen Regionen darüber, wie man mit Holz arbeitet, zu bewahren. Die Geschicklichkeit japanischer Zimmerleute ist erstaunlich. Zum Glück gibt es diese Art von Handwerkskunst noch. Wir wollten die örtlichen Handwerksbetriebe fördern und beleben. Bei der Ausbildung für Architekten an der Universität geht es hauptsächlich ums Zeichnen. Das Handwerkliche ist völlig von unserer Ausbildung abgetrennt. Ich will die Ausbildung im Zeichnen mit der Ausbildung im Handwerk zusammenführen. Wenn diese beiden Ausbildungszweige zusammenarbeiten können, dann kann ein neuer Typ von Architekten und ein neuer Typ von Handwerkern unsere Gesellschaft verändern.
Auf der Suche nach
der Essenz
e: Holz ist ein sehr wichtiges Material in Ihrer Bauweise. Was sind die Gründe hierfür?
KK: Indem lokales Holz aus der jeweiligen Region verwendet wird, wird die Architektur zu einem Teil der Region. Wie beim Gemüse: Das Gemüse kommt aus dem Boden, das Wasser kommt aus dem Boden und alles, was einen Ort lebendig macht, kommt aus dem Boden des Ortes. Die Architektur sollte wie Gemüse sein, und die beste Art, dies zu erreichen, ist, lokales Holz zu verwenden.
Aber wir verwenden auch moderne Materialien, wie beispielsweise beim Aluminium-Wolkenpavillon (Aluminium Cloud Pavillon), den die Leute auch selbst wiederaufbauen können. Diese Art von neuer Technologie unterstützt das natürliche Material, und sie kann auch in einer Weise benutzt werden, die ziemlich natürlich aussieht. Ich kombiniere Holz mit Karbonfaser, die Karbonfaser ist sehr leicht und viel stärker als Stahl. Ich bin für jede neue Technologie und für jedes neue Material offen. Indem sie solche Mittel mit heranzieht, kann die Architektur für den jeweiligen Ort zeitgenössisch wirken. Aber ich benutze moderne Materialien sehr behutsam. Ich will nicht die natürlichen Stoffe und die natürliche Empfindung zerstören. Bei einer guten Kombination wirkt das natürliche Bauwerk sogar noch natürlicher.
e: Sie haben auch ein Teehaus in Frankfurt gebaut, das aufblasbar ist. Was war die hier zugrunde liegende Idee?
KK: Das Teehaus ist in Japan traditionell ein Pavillon, der aus sehr weichen Materialien hergestellt wird. Diese Idee habe ich auf eine zeitgenössische Weise uminterpretiert. Es ist eine Art Kritik an einigen Teemeistern in Japan. Sie wiederholen den traditionellen Stil immer und immer wieder. Der Baustil ihrer Teehäuser ist sehr langweilig. Ich will zurückgehen zum geschichtlichen Ursprung, zur Essenz des Teehauses. In all meinen Bauwerken suche ich nach dieser Essenz. Die Essenz des Ortes und die Essenz des Bauwerkes, und wie sie Menschen dazu einladen kann, eine innigere Verbindung mit sich selbst, mit anderen, mit der Natur und der Kultur des Ortes einzugehen.