Ästethische Revolution
Mit aufsehenerregenden Aktionen, die Elemente aus Theater, Performance und Ritual aufnehmen, macht die weltweit wachsende Bewegung Extinction Rebellion (XR) auf das Artensterben und die Klimakatastrophe aufmerksam. Skeena Rathor ist im Vision Sensing Team von XR und beschäftigt sich besonders damit, wie in den Aktionen schon die Vision einer lebensdienlichen Zukunft erlebbar wird.
evolve: Du leitest innerhalb von Extinction Rebellion ein Projekt namens »Co-Liberation Project and Campaign«. Um was geht es dabei?
Skeena Rathor: Unsere Arbeit besteht darin, Verbindungen zwischen Menschen und Ideen herzustellen. Wir fragen uns, wie wir unsere Zusammenarbeit und unsere Aktionen zu einem einladenden Prozess für so viele Menschen wie möglich machen können. Wir wollen, dass unsere Aktionen visionäre Räume öffnen. Und obwohl unsere Arbeit auf Heilung, Wiederherstellung und Regeneration ausgerichtet ist, zeigen sich darin auch unsere tiefen Wunden der Getrenntheit. Erst wenn wir uns wieder versöhnen, miteinander verbinden und in eine Beziehung zur Erde treten können, schaffen wir einen Raum, der die Bedürfnisse von Körper, Geist und Seele erfüllt. In gewisser Weise geht es um Liebe, um einen Kampf im Namen der Liebe, um die Befreiung unserer Liebesfähigkeit.
Wir fragen uns also: »Welche Art von Vereinbarungen und welche Prozesse brauchen wir, um gemeinsam an dieser Vision von Wiederherstellung und Kollaboration zu arbeiten? Welche Prozesse eröffnen so viel Freiheit, dass wir kreativ zusammenarbeiten können?« Das »Co-Liberation Project« ist aus dieser Frage entstanden, die sich in jeglicher Form von organisationaler Gemeinschaft stellt. Diese Frage berührt aber auch unsere ursprüngliche Verletzung durch Getrenntheit, unsere Einsamkeit, unsere Erfahrungen der Machtlosigkeit. Gemeinsam können wir aber neu damit umgehen, und so wird Aktivismus auch zu einem Prozess der Heilung.
Ungehorsam für die Wahrheit
e: In XR gestaltet ihr Aktionen, die sehr kreativ sind und künstlerische Inspirationen aufnehmen. Wieso bringt ihr eure Forderungen auf diese Weise zum Ausdruck?
SR: Ich erlebe bei den Menschen, die sich um XR versammeln, ein großes Potenzial von Befreiung. Ich sehe viel Kraft und Authentizität. Und ich werde ziemlich emotional, wenn ich das sage, weil es für mich eine Art heiliger Raum mit einer einzigartigen Ausrichtung und Vision ist.
Wir teilen Prinzipien und Werte, die uns mitfühlend und liebevoll verbinden und ein tiefes Verständnis unserer Sehnsüchte und Bedürfnisse in sich tragen. Das fühlt sich an wie der Kontext oder Boden für das, was du als diese künstlerische Atmosphäre beschreibst, die in außergewöhnlichen Aktionen zum Ausdruck kommt. Mit unseren Aktionen wollen wir Geschichten erzählen und werden gleichzeitig Teil dieser Geschichten, indem wir uns mit unseren Körpern gegen die lebenszerstörenden, brutalen Systeme stellen. XR lebt aus dem Einsatz unserer Körper, weil wir uns im physischen Akt des gewaltfreien, zivilen Ungehorsams auf die Wahrheit ausrichten. Etwas in uns wird in diesem Moment befreit, weil wir in Übereinstimmung mit dem handeln, was wir fühlen, glauben und wissen.
UNS FEHLT HEUTE HÄUFIG DER RAUM, UNSER HANDELN AUF UNSERE WAHRHEIT AUSZURICHTEN.
Uns fehlt heute häufig der Raum, unser Handeln auf unsere Wahrheit auszurichten und mit der Liebe für unsere Vision zu erfüllen. Dieser Raum hat sich so weit zusammengezogen, dass wir nur mehr fragmentierte Wesen sind, die einem allumfassenden Wirtschaftssystem dienen. Das ist die alltägliche Wirklichkeit für viele Menschen. Und damit verengen sich auch unsere Vorstellungskraft, unsere Menschlichkeit, unsere Seelenqualitäten und unsere Liebesfähigkeit.
Ich möchte hier unseren »Grief March« im letzten Oktober erwähnen. Es war die bestbesuchte Aktion zivilen Ungehorsams, die wir je hatten, mit bis zu 25.000 Teilnehmern. Es war eine Trauerzeremonie für das Aussterben vieler Tierarten und ein Trauermarsch. Wir hatten Redner aus dem globalen Süden und von indigenen Kulturen, die über die Tränen der Erde, der Großen Mutter sprachen. Wir haben Lieder gesungen und zogen durch London. Es fühlte sich nicht wie ein Protestmarsch an, sondern war lebendig und erfüllt von Gefühlen wie Trauer, aber auch Freude und Sinn. Wir konnten fühlen und für etwas aufstehen, anstatt uns gegen etwas zu wenden. Wir haben uns in der Wirkkraft der Trauer eingefunden und von dort aus Fragen gestellt – an uns selbst, an uns alle, an unsere Kultur.
e: Diese Veranstaltungen sind partizipatorisch, aber sie sind auch öffentliche Zeremonien. Darin gibt es einen Aspekt von Zeugenschaft. Durch die Verkörperung, durch die Farben und Symbole wird etwas von den Gefühlen, die du ansprichst, vermittelt. Reflektiert ihr im Vorfeld über den Einfluss, den ihr in einem größeren kulturellen Umfeld haben wollt?
SR: Solche Aktionen zu gestalten ist sehr schwierig, weil es obstruktive und konstruktive Aktionen gibt und manchmal beides in einem. Darin liegt die Alchemie: wenn eine Aktion das »Ja« und das »Nein« anspricht. »Nein« zu mehr Leid. Wir entziehen damit unsere Zustimmung und sagen »Stopp!« Und wir sagen »Ja«, denn wir haben eine Vision von einer möglichen Zukunft, die die Bedürfnisse der Erde mit denen der Menschen und allem Lebendigen harmonisieren kann, sodass wir in der Gemeinschaft aller Lebewesen eine regenerative Wirkung entfalten.
Aber nicht immer treffen wir diesen magischen Punkt. Wir haben viel darüber zu lernen, wie man diesen Punkt trifft, denn viele unserer Aktionen waren nur obstruktiv, ohne das konstruktive Element miteinzubeziehen. Aber wenn wir nur konstruktive Aktionen planen, fühlen sich einige Menschen nicht angesprochen, ihnen fehlt die Energie des »Nein«. Diese radikale Wut will zunächst nur »Nein!« sagen. Diese heilige Wut ist sehr wichtig.
e: Was passiert, wenn ihr diesen magischen Punkt trefft?
SR: Es ist magnetisch und zieht die Menschen in das Geschehen. Es entsteht ein Moment von Ganzheit. Vielleicht hast du Bilder des pinken Bootes auf dem Oxford Circus gesehen. Während einer Aktion haben wir ein Boot aus der Zukunft gestaltet, das zu uns kommt mit einer Botschaft darüber, was wir dort brauchen werden. Die Aktion war visionär, weil es Essenstände gab, die Menschen zusammenkamen und miteinander sprachen und viele zukunftsweisende Projekte vorgestellt wurden. Es war wie ein Festival und sehr farbenfroh. So entstand eine magische Anziehung und die Leute sind von weither gekommen. Auch wenn sie nicht mit uns im Ungehorsam sein wollten, standen sie an unserer Seite.
Eine andere Form des Wissens
e: Dieser magische Moment bedeutet auch, dass in den Menschen etwas geschieht, das sie plötzlich die Wahrheiten verkörpern lässt, die sie zwar kannten, aber in ihrem Lebenskontext nicht zum Ausdruck bringen konnten. Ihr gebt den Menschen die Möglichkeit, aus ihrem tiefsten Wissen heraus zu handeln und eine andere Kultur zu erschaffen. Diese Kultur baut auf einem ästhetischen Fundament auf statt einem anästhetischen. Die neo-liberale Kultur ist anästhetisch, also betäubend, wohingegen das Ästhetische einen Schritt tiefer in die Verkörperung geht, hin zu einem Fühlen und Wissen aus einer inneren Ganzheit.
SR: Bei Ästhetik denke ich an sinnliche Lebendigkeit. Wir lernen, interpretieren und entscheiden heute primär über den Zugang der visuellen Intelligenz. Extinction Rebellion eröffnet auch eine sinnliche Lebendigkeit und Intelligenz, die umfassender ist, als nur auf einen Protestmarsch zu gehen. Wir leben eine Kultur der Berührung und liebevollen Güte. Musik ist ein wichtiger Aspekt für den Zusammenhalt der Rebellion. Wir haben ein »Action Design Team«, das erforscht, wie wir unsere Lebendigkeit durch die Rebellion zum Ausdruck bringen können, auch mit Farben, Visuals und künstlerischem Ausdruck.
WIR KÖNNEN FÜR ETWAS AUFSTEHEN, ANSTATT UNS GEGEN ETWAS ZU WENDEN.
e: Es gab also eine bewusste Entscheidung, die verschiedenen Sinneserfahrungen miteinzubeziehen. Ist das Teil der konstruktiven Ebene eures Wirkens?
SR: Unsere Arbeit ist ein Experiment, das durch unsere Prinzipien und Werte geführt wird – wie der zentrale Wert der Entwicklung einer regenerativen Kultur. Viele unserer Aktionen entstanden spontan, fußten aber immer auf unseren Prinzipien und Werten. Diese Werte haben von uns etwas verlangt, und wir sind ihnen gefolgt. Und heute erkennen wir, dass wir darin auch ein sinnliches Gewahrsein geschärft haben.
Wir folgen unseren Leitprinzipien und der Vision einer ganz anderen, menschlicheren Welt, in der wir zum Schutz allen Lebens handeln. Diese Vision fordert von uns, mit Respekt, Ehrfurcht für das Leben und im Gleichgewicht mit dem, wovon wir ein Teil sind, zu handeln. Aus dieser Ausrichtung ergibt sich ein organischer Prozess. Dir wird klar, was du tun oder lassen solltest. Das finde ich sehr spannend, weil wir oft denken, wir müssten bewusst planen, wie wir etwas erreichen können. Aber wenn du aus einer im Herzen gefühlten Vision heraus handelst, die den Prinzipien der Liebe, des Respekts und der Zuwendung folgt, musst du dein Handeln nicht vorausplanen. Du folgst deinen Werten und triffst von Moment zu Moment angemessene Entscheidungen.
Freiheit für das Leben
e: Spannend. Das scheint auch eine Kraft von Kultur zu sein. Ihr habt klare Wertvorstellungen und Prinzipien, die euch ein kulturelles Gerüst bieten. Mit diesen Prinzipien und Werten erschafft ihr einen Kontext, in den die Menschen eintreten können und aus dem heraus sie handeln können.
SR: Ja, der offene zivile Ungehorsam ist für viele Menschen eine Art »Reset-Knopf«. Es kann dein Leben komplett verändern. Es ist wie eine Initiationserfahrung, ein Übergangsritual. All diese Momente in unseren Leben, in denen wir mitgemacht haben, weil wir zu ängstlich waren, all den Ballast von Scham und Machtlosigkeit lassen wir los. Das ist Teil dieses Neubeginns.
Ein Teil der Einweihungsriten der indigenen Kulturen ist es, in die Wildnis zu gehen, wo ein großer Widerstand und emotionale wie körperliche Herausforderungen auf einen warten. Wir sind konfrontiert mit Fragen über Leben und Tod, mit der Begegnung mit dem Tod und der Entscheidung für das Leben. Als Rebellen nutzen wir unsere Freiheit und Unabhängigkeit, um uns selbst für eine mögliche Zukunft zu befreien.
Es gibt einen Moment, in dem du dich entscheidest, wer du bist und wer du sein möchtest und wie du deine Freiheit einsetzen möchtest. Wofür will ich meine Freiheit nutzen? Ich möchte sie nutzen, um das Leben zu schützen, mich um das Leben zu kümmern, insbesondere als Mutter. Hier zeigt sich die Relevanz des mütterlichen Prinzips für unseren Ungehorsam. Diese ursprüngliche, kraftvolle Energie, die wir einsetzen, ist auch der Mutterinstinkt.
Im menschlichen Körper steht das Oxytocin, das Liebeshormon, mit der Mütterlichkeit in Verbindung. Wenn ich von Mütterlichkeit spreche, schließe ich alle mit ein, auch Männer und Kinder. Wir alle haben diesen Mutterinstinkt. Ich beobachte oft meine jüngste Tochter, wie sie diesen Instinkt in ihrer Beziehung zu Tieren einsetzt.
In XR gibt es eine Energie des Beschützens und der Zuwendung und eine Aufrichtigkeit in diesem Beschützen. Wir wenden uns fürsorglich dem zu, was gerade auf unserer Erde geschieht. Darin liegt eine Befreiung unserer menschlich-göttlichen Energie. Denn wir stehen auf für unsere Mutter. Die Erde ist unsere Mutter, sie gebiert unaufhörlich mit einer bedingungslosen Großzügigkeit. Sie strebt danach, die Bedürfnisse aller Lebewesen auszugleichen und sie reich zu beschenken. Und ich denke, dass diese fruchtbare Energie ein Teil der Regeneration ist. Das ist die Energie, auf die wir beim Umgang mit unseren vielen Krisen zurückgreifen können.
e: Wenn du über Freiheit sprichst, fällt mir auf, wie verdreht das Verständnis von Freiheit in unserer Kultur ist. Freiheit bedeutet, dass ich alles machen kann, was ich will. Das ist aber, drastisch ausgedrückt, eine kanzerogene Form von Freiheit. Die Zellen trennen sich aus dem Körpergefüge und wuchern, weil sie es können. So verstehen wir Freiheit häufig und nicht als eine lebensbejahende Freiheit. Es ist nicht so schwarz-weiß, wie ich es hier beschreibe, aber in der westlichen Kultur kommt es mir so vor, dass Freiheit kommerzialisiert worden ist und damit sehr klein gemacht wurde. Aber du sprichst von der menschlichen Freiheit, durch einen tiefen ästhetischen Prozess wieder in eine Erfülltheit zu finden. Durch die Erfahrung dieser Ganzheit können wir aus dem Konsens des Status quo aussteigen.
SR: Was du beschreibst, ist der Unterschied zwischen der Freiheit von etwas und der Freiheit mit etwas. Freiheit ist klein gemacht worden, weil wir mehr darüber sprechen, uns von etwas zu befreien, als in Freiheit mit etwas zu sein. Jeder Aspekt des Lebens wurde für das getrennte Selbst nutzbar gemacht, seitdem vor etwa 6000 Jahren mit dem Patriarchat die Geschichte des modernen Menschen begann. In dieser patriarchalen Ordnung herrschte ein Wettbewerb um die beschränkten Ressourcen und deshalb auch Kontrolle und Dominanz, was die Dominanz über Frauen und Kinder einschloss. Es ging um das Überleben des Stärkeren, ein Kastensystem, eine Wertehierarchie. Und es bedeutet insbesondere die Kontrolle und Dominanz dessen, was wir Natur nennen, die wir als außerhalb von uns selbst erfahren. Wir sind getrennt von der Natur. Wir behandeln sie wie ein Außen, Natur als das Gegenüber. Dieses Organisationsprinzip des Patriarchats betrifft alle, Frauen und Männer.
Aus diesem Grund wollen wir in XR ein Organisationsprinzip entwickeln, das jenseits von Hierarchien allen Menschen eine Möglichkeit der Mitbestimmung gibt. Damit experimentieren wir bei unseren Citizen Councils. Hier geht es darum, mich in Freiheit und Fürsorge dem Ganzen zuzuwenden, mit dem ich gerade bin. Dazu gehört besonders die Zuwendung zum mehr-als-menschlichen Leben. Denn wir müssen unsere Beziehung zur Natur transformieren, und darin verbinden wir uns auch mit der kosmischen Wirklichkeit des Universums.