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Robert Kegan gehört zu den Pionieren der Entwicklungspsychologie, sein Stufenmodell der Bewusstseinsevolution wird heute vielfach angewandt und weiterentwickelt. Wie sieht der Entwicklungsexperte die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen? Ein überraschender Blick auf die Schattenseiten der Entwicklung und die Möglichkeiten, festgefahrene Polarisierungen zu überwinden.
evolve: Wir leben in einer Zivilisationskrise. Zumindest unsere Generation hat noch keine Krise dieser Dimension erlebt. Um sie zu meistern, braucht es vieles. Aber es verlangt auch einen inneren Entwicklungsschub. Darf ich Ihnen als einem der Pioniere der Entwicklungspsychologie die Frage stellen: Was braucht es von uns, damit wir uns diesen komplexen Herausforderungen stellen können, die wir gerade erleben?
Robert Kegan: Das ist eine großartige Frage. Man könnte Ihre Frage zunächst in einer Weise beantworten, die diese gegenwärtige außergewöhnliche Lage unseres Planeten in die menschliche Evolution der letzten mehreren hundert Jahre einordnet. Und wir können vielleicht kurz auf dieser Ebene darüber sprechen.
Für diejenigen Ihrer Leser, die mit der Entwicklung des Bewusstseins, wie wir es in den letzten 40 Jahren untersucht haben, nicht vertraut sind, möchte ich einige der unterschiedlichen Weisen zusammenfassen, in denen Menschen Realität konstruieren.
Beim Erwachsenwerden gibt es in den Jugendjahren ein Entwicklungsstadium, in dem Menschen die Fähigkeit entwickeln, die Werte und Erwartungen, Sitten und Überzeugungen ihrer Umgebung zu verinnerlichen, wie sie von der Gesellschaft im Allgemeinen, der Familie oder einer Glaubensgemeinschaft vermittelt werden. Die Fähigkeit, solche Werte zu verinnerlichen, sich an ihnen zu orientieren und sich mit der eigenen Ausrichtung an diesen Werten zu identifizieren, ermöglicht die seelische Zugehörigkeit zu einem Stamm. In meiner Theorie ist dies ein sehr wichtiger evolutionärer Schritt in der Entwicklung. Ich nenne es den Socialized Mind (zwischenmenschliches Selbst), denn die psychologische Dynamik der Sozialisierung beinhaltet die Fähigkeit, ein Teil der Gesellschaft zu werden, weil die Gesellschaft ein Teil von einem selbst geworden ist. Man hat sie tatsächlich verinnerlicht.
¬ WÄHREND DER PEST GESCHAH ETWAS AUSSERGEWÖHNLICHES: DER TOD EREILTE ALLE SOZIALEN SCHICHTEN!¬
Jenseits dieser Fähigkeit, innerlich zu einem Mitglied eines Stammes zu werden, gibt es eine Entwicklungsstufe, die die Fähigkeit beinhaltet, einen Schritt von der »sozial gegebenen« Realität zurückzutreten und eine innere Urteilsfähigkeit und eine persönliche Autorität zu entwickeln. Dadurch können wir Werte hinterfragen, sie bestätigen oder verändern und uns zu eigen machen. Wir überprüfen sie, indem wir sie mit unserem eigenen, sich allmählich entwickelnden inneren Kodex, unserer persönlichen Ideologie oder unserem Glaubenssystem abgleichen. Auf diese Weise gestaltet man eine unabhängige psychologische Identität. Diese bezeichne ich als Self-Authoring Mind (institutionelles Selbst), weil das Selbst nun in der Lage ist, seine eigene Identität zu schaffen, anstatt sich ausschließlich von der Kultur prägen zu lassen.
Evolution durch Pandemien
e: Wann in unserer Geschichte sahen wir zum ersten Mal den Self-Authoring Mind?
RK: Ich würde sagen, dass diese Entwicklung im Mittelalter aufkam und durch die Ereignisse rund um die große Pest beschleunigt wurde. Vor der Pest, die mehr als ein Jahrhundert lang immer wieder auftrat, war die Akzeptanz einer Gesellschaftsordnung weit verbreitet, in der die Adligen durch göttliches Recht herrschen und ihre Privilegien in Anspruch nehmen. Während der Pest geschah etwas Außergewöhnliches und unausweichlich Sichtbares auf breiter Ebene: Der Tod ereilte alle sozialen Schichten! Die Adeligen und ihre Kinder waren ebenso wenig in der Lage, sich gegen die Pest zu wehren wie die Leibeigenen. Der Glaube an das göttliche Recht lässt sich angesichts einer solchen demokratischen Verwüstung nicht aufrechterhalten. Ich denke, dass die Pest die Ankunft der Mittelklasse beschleunigte und dass der psychologische Auslöser dieser sozialen Evolution die Entwicklung des Bewusstseins vom Sozialized Mind zum Self-Authoring Mind war.
e: Und was wir heute erleben, hat Ähnlichkeit mit dieser Zeit der schwarzen Pest?
RK: Ganz genau! In einer Zeit, die normalerweise durch ungewöhnlich kurze Aufmerksamkeitsspannen gekennzeichnet ist, erleben wir wieder etwas Außergewöhnliches und unausweichlich Sichtbares. Der ganze Planet schaut auf dasselbe Geschehen und wird davon aufgewühlt, und – mit der Zeit – könnte dies ein weiterer Beschleuniger der Evolution des menschlichen Bewusstseins sein. Denken Sie daran, dass dies eine sehr langfristige Perspektive ist. Ich spreche von hundert Jahren in der Zukunft. Ich frage mich, ob es in hundert Jahren ein höheres Maß an Bewusstsein gibt, das sogar über den Self-Authoring Mind hinausgeht, und wenn ja, ob es nicht vielleicht daran liegt, dass unsere heutige Pandemie uns schließlich dazu gezwungen hat, unsere Grenzen zu erkennen. Nicht die Grenzen des Sozialized Mind, sondern die des Self-Authoring Mind.
e: Was wäre denn der nächste Schritt, um den es heute geht?
RK: Jenseits des Self-Authoring Mind liegt der Self-Transforming Mind (überindividuelles Selbst). Er hat die Fähigkeit, sich nicht nur von den Erwartungen der Kultur zu lösen, sondern auch von unseren bestehenden Ideologien und Konstruktionen, von unserer eigenen inneren Autorität. Hier sind die Menschen in der Lage, ihr eigenes System als Objekt der Aufmerksamkeit zu nehmen und zu sehen, dass es zwangsläufig parteiisch und einseitig ist, weil es dazu neigt, sich selbst zu erhalten. Das Auftauchen des Self-Transforming Minds könnte eine rettende Gnade für die Menschheit sein, da die meisten der unlösbaren Probleme, mit denen wir als Spezies konfrontiert sind, nur sehr schwer von einem Self-Authoring Mind aus erfolgreich angegangen werden können. So wie die Große Pest im Mittelalter den Menschen die Grenzen ihres Glaubens an die bestehende Gesellschaftsordnung aufgezeigt hat, könnte uns COVID mit der Zeit die Grenzen unserer nationalen Souveränitäten und öffentlichen Institutionen aufzeigen, die, wenn sie auf ihre selbsterhaltende Art und Weise unabhängig von einem größeren System der Zusammenarbeit funktionieren, der Aufgabe ganz offensichtlich nicht gewachsen sind. Die Konstruktion der Welt durch den Self-Authoring Mind könnte sich trotz all ihrer Vorteile als unzureichend erweisen, um den Anforderungen unserer planetarischen Pandemie gerecht zu werden. Einstein sagte, dass wir unsere Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen können, durch die sie entstanden sind.
Schatten der Entwicklung
e: Diese innere psychologische Entwicklung, die Sie kurz skizzieren, ist offensichtlich Teil unserer Kulturgeschichte. Aber genau diese Kulturgeschichte steht anscheinend an einem Wendepunkt. Was braucht es, um diesen Wendpunkt erfolgreich zu meistern?
RK: Die grundlegende Transformation in der Entwicklung von Erwachsenen ist auch heute noch der allmähliche Übergang von einem Stammesbewusstsein, in dem man den Werten der Umgebung verhaftet ist, zu der Fähigkeit, ein größeres Maß an persönlicher Autorität, Eigeninitiative und kritischem Denken zu entwickeln. Dazu gehört auch, die Grenzen des eigenen kulturellen Erbes zu hinterfragen und gleichzeitig dessen Vorteile anzuerkennen – das bedeutet den Übergang vom Sozialized Mind zum Self-Authoring Mind. Wenn wir uns jetzt von dieser langfristigen Sichtweise der menschlichen Evolution über Jahrhunderte hinweg auf die Entwicklungsherausforderungen konzentrieren, denen wir heute in unserem täglichen Leben gegenüberstehen, wird klar, dass es für immer mehr Menschen notwendig ist, die seelische Unabhängigkeit und persönliche Autorität zu entwickeln, die den Self-Authoring Mind kennzeichnen, bevor wir mehr vom Self-Transforming Mind entwickeln können.
¬ MOMENTAN SCHAUT DER GANZE PLANET AUF DASSELBE GESCHEHEN UND WIRD DAVON AUFGEWÜHLT. ¬
In den letzten 50 oder 60 Jahren haben wir in den modernen Gesellschaften bei großen Bevölkerungsgruppen die Entwicklung des Self-Authoring Mind unterstützt. Dies geschah beispielsweise durch den Aufstieg von Untergruppen – Frauen, farbige Menschen, Menschen, die nicht den bevorzugten Geschlechtern und Sexualitäten entsprechen, und Menschen mit körperlichen Einschränkungen – und ihrer Unterstützer. So entstand in den letzten 60 Jahren eine »Gegenkultur«, die Gemeinschaften zur Unterstützung von Menschen schuf, die zuvor nicht Teil der herrschenden Kultur waren. So konnten diese Menschen ihre eigene Identität ausleben und ein neues Narrativ konstruieren, seien es Black Power, Feminismus, Schwulenrechte oder Identitätspolitik. Aus der Entwicklungsperspektive können solche Bewegungen als Schmelztiegel dienen, die den Menschen dabei helfen, ihre eigene Stimme zu finden und sich vom Socialized Mind zum Self-Authoring Mind zu entwickeln.
Aber der triumphale Aspekt dieser Bewegung bringt auch eine Schattenseite mit sich oder schafft eine Gegenreaktion für die vielen Menschen, die die Welt im Socialized Mind wahrnehmen. Die Fähigkeit, sich von den bestehenden Sozialstrukturen zu lösen, sie zu hinterfragen und abzuwägen, kann eine Bedrohung darstellen, wenn man noch fest im Socialized Mind verankert ist. Diese Energien lösen Ängste aus, weil es sich anfühlt, als würde der Boden, auf dem man sich bewegt, nicht mehr tragen. Es ist wie eine Aufforderung zu wachsen und sich zu verändern, obwohl man noch nicht bereit dafür ist. Alles, was man auf der anderen Seite dieses Wachstumsschubs erkennen kann, ist ein Verlust des eigenen Wissens, des eigenen Verständnisses, der eigenen Identität und der Gemeinschaft.
Diese Angst und diese Sehnsucht nach Gemeinschaft können leicht von politischen Kräften aufgegriffen und im Sinne einer sehr reaktionären sozialen Bewegung genutzt werden. In den USA schöpft die derzeitige Trump-orientierte Republikanische Partei ihre Energie und ihre Macht aus einer solchen Angst einer sehr großen Anzahl von Menschen. Sie fühlen sich von dieser vorwärts gerichteten Entwicklungsdynamik bedroht, die schon lange vor der Pandemie und der grundlegenden Botschaft von Trump, Make America Great Again, begann. Das grundlegende Narrativ lautet: Sie kommen, um euch zu holen. Die Regierung kommt, um euch eure Waffen wegzunehmen. Die Einwanderer kommen, um eure Frauen zu vergewaltigen. Die Pädagogen kommen, um eure Kinder einer Gehirnwäsche zu unterziehen.
Das sind sehr starke politische Signale und Botschaften, weil sie bei einer großen Anzahl von Menschen auf enorme Resonanz stoßen, die sich von derselben Entwicklungsdynamik bedroht fühlen, die für eine andere große Gruppe von Menschen befreiend wirkte. Die ganze Begrifflichkeit der Wokeness, ein Begriff, der ein »erwachtes« Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus beschreibt und eine Schwester der politischen Korrektheit ist, ist Ausdruck dieser Dynamik. Bei den beiden genannten Gruppen löst dieser Begriff gegensätzliche Reaktionen von Zustimmung oder Ablehnung hervor.
Angst vor dem Verlust
e: Teil der gegenwärtigen Krise ist also eine radikale Entfremdung verschiedener gesellschaftlicher Schichten. Wir sprechen weniger denn je die gleiche Sprache. Was für viele eine kulturelle Befreiung war, wird gerade von der weißen Arbeiterschaft in den USA als existenzielle Bedrohung wahrgenommen.
RK: Die Schattenseite der Erwachsenenentwicklung hat zur Folge, dass die reaktionären Kräfte oft viel besser auf die Formen der Bedrohung reagieren, die eine große Anzahl von Menschen erlebt. Denn die progressiveren Kräfte neigen dazu, die Menschen, die unter diesen Bedrohungen leiden, mit einer Art von Überheblichkeit zu betrachten.
Am Tag nach der Wahl 2016 zeigten sich die meisten Menschen in meinem sozialen Umfeld völlig fassungslos über die Wahl von Donald Trump. Aber aus verschiedenen Gründen verbrachte ich den Tag nach der Wahl nicht mit einer Gruppe liberaler Akademiker, sondern mit einer viel heterogeneren Gruppe. Darunter befanden sich eine Reihe von Menschen, die den Ausgang der Wahl positiv bewerteten. Es fiel mir auf, dass unter diesen Leuten kein überschwängliches Triumphgefühl herrschte. Sie brachten eine außerordentliche Erleichterung zum Ausdruck. Im Grunde sagten sie, dass sie das Gefühl hatten, ihr Land sei eingeschlafen und dass es sie im Stich gelassen habe. Bei allen Bedenken, die sie gegenüber Donald Trump als Person haben mochten, hatten sie doch das Gefühl, dass das Land durch das Wahlergebnis wieder aufgewacht ist. Jetzt bestand die Chance, so ihr Eindruck, dass das schon verloren geglaubte Land tatsächlich wieder zurückkehren könnte.
Dieses Gefühl der Erleichterung deutet auf ein Maß an Angst und Bedrohung hin, für das wir, die wir ein Interesse daran haben, Entwicklung zu unterstützen, mehr Verständnis aufbringen würden, wenn es sich nicht um eine politische Bewegung, sondern um eine einzelne Person handeln würde, die sich zu sehr unter Druck gesetzt fühlt, sich schneller zu entwickeln, als sie es kann. Als Beraterin, Pädagoge oder Therapeutin haben wir alle dieses Phänomen schon erlebt und hätten Mitgefühl dafür.
Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit, mit einer Reihe von Geistlichen zu arbeiten, die sich dafür interessierten, wie die Entwicklungstheorie für Erwachsene für ihre aktuelle Situation nützlich sein könnte. Sie interessierten sich vor allem für die Frage, wie die Kirche, die Synagoge oder eine andere Glaubensgemeinschaft die heranwachsende Generation von Erwachsenen erreichen könnte. Diese Menschen in ihren Dreißigern fanden, dass die Gottesdienste zwar zur Generation ihrer Eltern passten, aber nicht zu ihrer eigenen. Viele der jüngeren Erwachsenen, die die Zukunft dieser Glaubensgemeinschaft sein würden, bewegten sich aus dem Socialized Mind in den Self-Authoring Mind. Damit sie sich angesprochen fühlen, brauchen sie Formen der Teilhabe, in denen sie nicht nur treue, aufnahmebereite Gläubige sind, die das Wort des Pfarrers von der Kanzel hören. Dies veranlasste die Geistlichen, den Charakter ihrer Gottesdienste neu zu gestalten. Sie legten sie viel gesprächsorientierter an: Anstatt dass der Pfarrer oder die Pfarrerin eine Predigt hält, kann er oder sie mit der Gemeinde in einen Dialog treten. Diese Veränderungen ermöglichten es den Menschen, selbst zu bestimmen, wie sie ihre religiöse Überzeugung zum Ausdruck bringen. Und das hat diese Glaubensgemeinschaften wiederbelebt.
¬ DIE ANGST UND DIE SEHNSUCHT NACH GEMEINSCHAFT KÖNNEN LEICHT VON POLITISCHEN KRÄFTEN GENUTZT WERDEN. ¬
Dies ist die sehr positive Seite der Geschichte, aber es gab auch einen Rabbiner, der in einer Notlage zu mir kam. Er sagte, er sei sehr zufrieden mit vielen Dingen, die durch die Veränderungen, die er vorgenommen hatte, nun geschehen würden. Aber er hatte ein Gespräch mit einer jungen Frau, das ihn verfolgte. Sie war Anfang 30, und sie sagte: »Rabbi, ich komme seit meiner Kindheit in diese Synagoge. Ich saß mit meinen Eltern an einem bestimmten Platz in der Synagoge und habe mit ihnen gebetet. Und als sie älter wurden, nahm ich sie mit in die Synagoge und half ihnen, den Gang hinunterzugehen, um unseren vertrauten Platz zu finden. Als sie verstarben, trauerten wir gemeinsam in dieser Synagoge, und ich besuchte weiterhin die Gottesdienste und saß dort, wo ich mit meinen Eltern gesessen hatte. Jedes Mal, wenn ich in die Synagoge zurückkehre und auf diesem Platz sitze, spüre ich die Nähe zu ihnen. Aber jetzt haben Sie den Gottesdienst, an dem meine Eltern teilgenommen haben, an dem ich als kleines Kind und als heranwachsender Mensch teilgenommen habe, völlig verändert. Ich habe nur eine Frage an Sie, und ich frage das als jemand, der Ihnen vertraut: Rabbi, ist die Art und Weise, wie wir all die Jahre gebetet haben, die Art und Weise, wie ich als Kind gebetet habe, als ich neben meinen Eltern saß, die Art und Weise, wie ich gebetet habe, seit sie verstorben sind, ist die Art und Weise, wie wir zu Gott gesprochen haben, falsch? War das alles falsch?«
Der Rabbiner drückte sein Mitgefühl für den Verlust aus, den diese Frau erfuhr. Die Art und Weise, wie sie dies für sich versteht, kann man vielleicht belächeln, aber sie kann auch als Ausdruck der Macht des Socialized Mind verstanden werden. Es war ihr Gefühl für ihre eigene Identität und wie diese mit ihren Eltern und ihrer Glaubensgemeinschaft zusammenhängt. Die Veränderung des Rabbiners im Gottesdienst wurde von den Gemeindemitgliedern, die über den Socialized Mind hinausgewachsen waren, begrüßt. Aber diese Frau erlebte eine Form des »Replacement«, was so viel bedeutet wie Ersatz oder Austausch.
Replacement ist ein Wort, das im amerikanischen gesellschaftspolitischen Sprachgebrauch sehr präsent und vergiftend geworden ist. Es fand einen gewaltsamen Ausdruck in Charlottesville während der Trump-Zeit, als eine Gruppe von Neonazis durch die Straßen marschierte und sagte, dass die Juden sie nicht ersetzen werden. In den USA wird viel über Replacement gesprochen, über die Idee, die Geschichte neu zu schreiben, und »Canceling« und »Cancel Culture«. Hier haben die Menschen das Gefühl, dass bestimmte Meinungen ausgegrenzt werden. Und für progressive Menschen ist es sehr leicht, diese Sorgen geringzuschätzen. Aber wenn man es im Zusammenhang mit dieser Frau betrachtet, dann hat sie im Grunde genommen den Austausch einer Art von Gottesdienst erlebt, die ihr wertvoll geworden war, die mit ihrer eigenen Identität und ihrer Verbindung zu ihren Eltern zusammenhing.
Wenn wir die Spaltungen heilen wollen, müssen wir Wege finden, um besser auf die Bedrohung und den Verlust zu reagieren, die so viele Menschen empfinden, während andere sich gestärkt fühlen. Wenn wir keinen Weg finden, mit diesem Verlust mitfühlender umzugehen, werden wir uns in einer Situation wiederfinden, die wir »Immunität gegen Veränderungen« nennen. Wir stehen mit einem Fuß auf dem Gaspedal, um die Entwicklungsreise, die das Schicksal unserer Spezies ist, voranzutreiben, aber der andere Fuß steht auf der Bremse. Wir können das als reaktionär bezeichnen, aber schon der Begriff reaktionär hat eine negative Wertigkeit. Wir müssen ihn genauer betrachten und die Art der Bedrohung verstehen, die er mit sich bringt.
Einen Fuß auf dem Gas, einen Fuß auf der Bremse
e: Sie verlangen ziemlich viel. Progressive Menschen haben oft ein Leben lang dafür gekämpft, dass wir uns, dass sich die Gesellschaft von diesen, wie sie es sehen, »reaktionären Vorstellungen« befreit. Viele der neuen sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte waren genau darauf ausgerichtet. Und jetzt sollen wir auf einmal »Verständnis« dafür aufbringen, dass Menschen so denken?
RK: In unserer Arbeit mit Führungskräften und Organisationen setzen wir eine sehr praktische Methode ein, um Menschen zu helfen, sich zu entwickeln, den sogenannten »Immunity to Change«-Ansatz (ITC). Sie basiert auf der Theorie der Erwachsenenentwicklung, die wir besprochen haben, aber sie ist besonders auf praktische Veränderungen und die innere Dynamik der Transformation ausgerichtet. Eine Managerin möchte besser delegieren können. Oder jemand scheut sich vor Konflikten oder möchte seine direkten Mitarbeiter besser unterstützen.
Der ITC-Ansatz hilft Ihnen zu verstehen, dass ein Teil von Ihnen wirklich wachsen und sich in eine Richtung verändern möchte, die Sie zu einer besseren Führungskraft oder sogar zu einem besseren Menschen machen könnte, während ein anderer Teil von Ihnen sich durch die Aussicht auf diese Veränderungen bedroht fühlt. Ein Teil von Ihnen möchte wirklich besser delegieren können. Aber es gibt einen anderen Teil von Ihnen, der in der Regel unausgesprochen bleibt und sich dessen vielleicht nicht einmal bewusst ist. Hier machen Sie sich Sorgen, dass die Leute es vermasseln könnten und dann alles Ihre Schuld wäre, wenn Sie die Arbeit delegieren. Oder Ihre Mitarbeiter werden nicht so gute Arbeit leisten, wodurch Ihre Stellung geschmälert wird. Diese Ängste beruhen auf bestimmten Grundannahmen wie »Wenn ich delegiere, habe ich weniger Kontrolle« oder »Ich bekomme weniger Anerkennung« oder was auch immer es sein mag.
Können Sie schon bei dieser kurzen Beschreibung auf psychologischer Ebene Anklänge an die größere gesellschaftspolitische Uneinigkeit und Spaltung erkennen, über die wir gesprochen haben? ITC zeigt Ihnen, wie Sie typischerweise »einen Fuß auf dem Gas« haben (Sie wollen wirklich etwas verändern) und »einen Fuß auf der Bremse« (aber Sie wollen keine unannehmbaren Verluste erleiden). Auf diese Weise zeigt uns die ITC-Methode, wie wir an den beiden großen Zielen des Menschseins arbeiten: Das erste Bestreben ist das Wachsen, um das Wunder, ein sich potenziell entwickelndes Wesen zu sein, zu würdigen, um unsere Bestimmung zu erfüllen, uns weiter zu entfalten. Eine Raupe ist dazu bestimmt, nicht nur eine größere Raupe zu sein, sondern Flügel zu bekommen und ihre erdgebundene Gefangenschaft zu überwinden.
¬ WENN WIR NICHT WEGE FINDEN, DAS BESTREBEN, NICHT ZU STERBEN, ZU BEGRÜSSEN UND ZU RESPEKTIEREN, WIRD ES FÜR UNS SCHWIERIG SEIN, ALS GESELLSCHAFT ZU WACHSEN.¬
Aber es gibt noch ein zweites Bestreben des Menschseins, und dieses Bestreben besteht im Wesentlichen darin, nicht zu sterben, nicht das zu erleiden, was sich für uns wie ein inakzeptabler Verlust anfühlt. Dieses Bestreben ist ebenso wichtig, respektabel und mächtig wie das erste Bestreben, zu wachsen und sich zu entwickeln. Wir sind als Spezies gerade deshalb so erfolgreich, weil wir beide Bestrebungen praktizieren, das, was man als fortschrittliches Bestreben, und das, was man als schützendes oder reaktionäres Bestreben bezeichnen könnte. Wir haben sowohl einen »Progressiven« als auch einen »Reaktionär« in uns.
ITC hilft uns indirekt zu lernen, unsere Arme um unser ganzes Menschsein zu legen – den progressiven und den schützenden, bewahrenden Anteil. Anstatt nur die Auswirkungen dieser kämpfenden Kräfte zu sehen, ist der ITC-Ansatz buchstäblich »heilsam«, weil er das ganze Selbst umarmt und die beiden Seiten in ein freundliches Gespräch miteinander bringt, anstatt des Festgefahrenseins und Blockierens, die wir heute auf gesellschaftspolitischer Ebene sehen. Anstelle von zwei gegensätzlichen Energien, die zu keinem Fortschritt führen, erkennen wir einen Weg aus dieser scheinbar unlösbaren Situation. Dieser Weg erforscht die Annahmen, die die gegenwärtige Position aufrechterhalten. Er wird mehr von Neugier als von Angst angetrieben. Wir führen Experimente durch, um herauszufinden, was die Welt uns über unsere vermeintlichen Bedrohungen sagen will. In fast allen Fällen lernen wir, dass einige Aspekte dieser Bedrohungen Phantome und Einbildungen sind. Und das führt zu einer persönlichen Befreiung von einigen dieser einschränkenden Annahmen, was uns in die Lage versetzt, zu wachsen und unser Verhalten zu ändern.
In diesem Ansatz liegt der Keim einer Antwort auf die Frage, wie wir sowohl die fortschrittlichen als auch die bewahrenden Kräfte in der Gesellschaft berücksichtigen können. Wir wissen, dass es für den Einzelnen sehr schwierig wird zu wachsen, wenn wir nicht Wege finden, das zweite Bestreben – nicht zu sterben – zu begrüßen und zu respektieren. Wir müssen Wege finden, um beide Seiten des menschlichen Projekts, wie sie sich jetzt in einem gesellschaftspolitischen Kontext ausdrücken, zum Ausdruck zu bringen. Anstatt die frei flottierende Furcht und Angst einzufangen und sie zu einem politischen Werkzeug zu machen, das eine politische Gruppe mit Energie versorgt, muss es einen Weg geben, wie wir kollektiv in der Lage sind, beide Bestrebungen zu respektieren und zum Ausdruck zu bringen – das Bestreben, nicht zu sterben, ebenso wie das Bestreben zu wachsen – und sie nicht in die getrennten und sich bekriegenden politischen Fraktionen des Progressiven und Konservativen oder Reaktionären aufspalten zu lassen. Wenn wir nicht Wege finden, das Bestreben, nicht zu sterben, zu begrüßen und zu respektieren, wird es für uns schwierig sein, als Gesellschaft zu wachsen.
Author:
Dr. Thomas Steininger
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