Brauchen wir einen neuen Aktivismus?

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 14, 2014

Featuring:
Ken Wilber
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 01 / 2014
|
January 2014
Das neue Interesse an Politik
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Wir leben, in den Worten des chinesischen Fluches, „in interessanten Zeiten“.
Einerseits sind wir die glücklichsten Menschen, die jemals gelebt haben – die beispielslose Bequemlichkeiten, Freiheit, Luxus, Mobilität und Zugang zu Bildung, Informationen und Weisheit genießen. Darüber hinaus leben wir in Zeiten nie da gewesenen
technologischen Fortschritts und kultureller Veränderungen, einschließlich innerer Transformationen. Die meisten von Ihnen, die diese Zeilen lesen, erwachen auf irgendeine Weise, zusammen mit anderen, zu höheren Bewusstseinszuständen und -strukturen.
Gleichzeitig sind wir als Menschheit beispielslosen Gefahren und Bedrohungen ausgesetzt – einer globalen Krise mit Umweltzerstörungen, Klimawandel, massenhaftem Artensterben, extremen Wetterphänomenen und zeitgleich einer realen Krise in all unseren Institutionen und Infrastrukturen – finanziell, landwirtschaftlich, politisch, international, ökonomisch, in der Bildung, Medizin, Wissenschaft und mehr.

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Terry Patten ist einer der einflussreichsten Denker und Aktivisten der integralen Bewegung, die sich vor allem auf die Arbeit des Philosophen Ken Wilber stützt. Integral bedeutet hier ein Denken, das alle Bereiche unserer Wirklichkeit in einen Gesamtzusammenhang integriert. In diesem Essay stellt sich Patten die Frage: Was bedeutet solch eine umfassende Perspektive für unser Engagement in der Welt?


Wir leben, in den Worten des chinesischen Fluches, „in interessanten Zeiten“.
Einerseits sind wir die glücklichsten Menschen, die jemals gelebt haben – die beispielslose Bequemlichkeiten, Freiheit, Luxus, Mobilität und Zugang zu Bildung, Informationen und Weisheit genießen. Darüber hinaus leben wir in Zeiten nie da gewesenen
technologischen Fortschritts und kultureller Veränderungen, einschließlich innerer Transformationen. Die meisten von Ihnen, die diese Zeilen lesen, erwachen auf irgendeine Weise, zusammen mit anderen, zu höheren Bewusstseinszuständen und -strukturen.
Gleichzeitig sind wir als Menschheit beispielslosen Gefahren und Bedrohungen ausgesetzt – einer globalen Krise mit Umweltzerstörungen, Klimawandel, massenhaftem Artensterben, extremen Wetterphänomenen und zeitgleich einer realen Krise in all unseren Institutionen und Infrastrukturen – finanziell, landwirtschaftlich, politisch, international, ökonomisch, in der Bildung, Medizin, Wissenschaft und mehr.
Im Zuge des Erwachens zu einem integralen evolutionären Bewusstsein wird es offensichtlich, dass wir nicht bloß passive Beobachter oder „Opfer“ sind, sondern letztendlich Mitverursacher unserer globalen Krise. Alles ist mit allem anderen im Gesamtmuster unserer Kultur verbunden. Dazu gehören unsere gegenwärtigen Verhaltensmuster, unsere Innerlichkeit, unser kultureller Austausch, die alle untrennbar mit der mangelnden Nachhaltigkeit unseres gesamten menschlichen Systems verknüpft sind. Veränderungen im Gesamtmuster erfordern Veränderungen in unserem eigenen Verhalten, im Bewusstsein und in der Qualität unserer Gespräche und Beziehungen. Dies schließt sicher achtsames, umweltfreundliches Verhalten wie Recycling und Abfallvermeidung mit ein, aber es geht auch weit darüber hinaus – bis zum Kern unseres Lebens und Seins.
Eine integrale Weltsicht macht es unmöglich, die Verantwortung für die globale Krise abzulehnen. Sie kritisiert die Verleugnungshaltung gegenüber der Krise und den daraus folgenden Mangel von Dringlichkeit, genauso wie sie ängstliches apokalyptisches Denken kritisiert. Kein integral erwachter Mensch kann es rechtfertigen, so zu leben, als könnte er nichts bewirken, als hätte er nicht die Möglichkeit und Verantwortung, bewusster zu werden und mitzuhelfen, eine Transformation der menschlichen Kultur anzustoßen.

Echter integraler Aktivismus muss Erkenntnissuche und Handeln zugleich sein.


Es gibt viel zu tun: Mancher Aktivismus konzentriert sich auf die Schaffung einer neuen Weltsicht, Kultur oder deren organisatorische Anwendung. Andere bemühen sich um die Evolution des Bewusstseins und der Motivationen in der Arbeit mit Menschen und geben Inspirationen für das Handeln und zivilgesellschaftliches Engagement. Andere betätigen sich als Unternehmer und wirken an technologischen Innovationen mit. Andere streben danach, umfassende politische, ökonomische und systemische Veränderungen zu gestalten. Es gibt unzählige notwendige Initiativen, die wertvolle Beiträge leisten. Viele von uns sind aktiv engagiert und somit schon „integrale Aktivisten“. Ich habe nicht nur geholfen, die integrale Weltsicht zu entwickeln und integrale Übende auszubilden, ich bin auch als Bürgerdiplomat in den Iran gereist und habe mich im Wahlkampf für Obama engagiert. Und ich schaue immer nach Möglichkeiten, um mich für weitere konkrete Projekte zu engagieren. Ich hoffe, Sie tun das auch.
Wir wissen aber auch alle, dass unser derzeitiger Aktivismus für sich nicht ausreicht. Bezogen auf das Ausmaß unserer Krise scheinen wir Fortschritt in Millimetern zu generieren, während wir Herausforderungen gegenüberstehen, die eher in metaphorischen Kilometern zu messen sind. Mehr ist nötig. Wir müssen also besser verstehen, mit was wir eigentlich konfrontiert sind. Und dieses Verstehen ist nicht nur gekoppelt mit einer Verpflichtung, als Antwort darauf zu handeln, sondern es ist verbunden mit der Entschlossenheit zu einem ständigen, tiefer führenden, transformierenden Erkenntnisprozess.
Wir müssen nicht einfach nur aktiv sein, sondern wir müssen mit der Meta-Frage leben, wie wir „die Spielregeln ändern“ können. Nur so können wir effektiver handeln, um die Ansatzpunkte für positive systemische Veränderungen zu finden. Eine Unzahl von Transformationen sind nötig – einschließlich offensichtlich notwendiger Transformationen unserer nicht nachhaltigen Energietechnologien oder der verzerrenden Anreize, die durch unsere Finanz- und Steuersysteme geschaffen werden. Aber ebenso weniger offensichtliche Transformationen werden gebraucht, wie die Transformation der Entscheidungsfindung in Organisationen und Unternehmen, in den zivilgesellschaftlichen Dialogprozessen oder in der spirituellen Praxis.
Inmitten all dieser Veränderungen bin ich tief optimistisch. Das ist jedoch ein engagierter Optimismus, durchdrungen von einem Sinn für Möglichkeiten und Verantwortlichkeit, nicht übertrieben zuversichtlich oder blasiert, aber auch nicht verleugnend. Dieser Form des Engagements liegt keine unterschwellige Ängstlichkeit zugrunde, noch führt sie zu Angst oder apokalyptischem Denken.
Um es klar zu sagen: die Krise fordert Erwachen, Verkörperung und Präsenz, eine tiefe und umfassende existentielle Wandlung. Antworten, die mit Angst und Wut durchsetzt sind, ziehen lediglich Energie von der eigentlichen Aufgabe ab und schaffen Verwirrung. Der Ruf nach integralem Aktivismus ist ein Ruf jenseits von Angst, nicht in sie hinein. Aber die Krise läßt unsere – individuelle und kollektive – Haltung der Verleugnung immer klarer werden. Sie fordert Veränderung von uns. Dringend. Auf eine Art, die wir noch nicht kennen. Es ist ein Zen-Koan, eine Frage, die wir nicht zu schnell beantworten sollten, sondern stattdessen „leben“ und „lieben“ können, wie Rilke dem jungen Dichter Franz Kappus sagte. Die Frage wird unser Bewusstsein transformieren, als Individuen und als Gemeinschaft –  und folglich auch unser Handeln und unsere Welt.
Wenn der nächste Buddha eine Sangha sein wird, wie viele meinen, dann werden wir uns ändern müssen, nicht nur individuell, sondern im Umgang miteinander – in unserer Art zu sprechen und uns auszutauschen, wie wir uns begegnen und aufeinander reagieren. Wir werden auf neue Weise zusammenkommen müssen – sodass wir höhere Formen von Energie und Bewusstsein ausdrücken. Wie? Das kann nicht ausgedacht und als Rezept buchstabiert werden, es muss ko-kreativ erforscht und umgesetzt werden. Und das können wir nur in dem Maße tun, in dem wir uns einander in einer lebendigen, gemeinsamen, existenziellen Suche begegnen.
Wenn wir spezifische Bereiche für effektives Handeln entdecken, ist es wichtig zu handeln. Aber, wie Ken Wilber hervorhebt, „Gedanken sind Dinge“, und es dauerte viele Jahre, bis die Denker der Renaissance und Aufklärung eine neue Weltsicht schufen, sodass schließlich die Amerikanische und Französische Revolution möglich wurden. Einige wichtige Beiträge eines integralen Aktivismus finden in der Noossphäre, der Sphäre des Geistes, statt, und bilden so die Grundlage für einen Systemwandel. Aktivismus zeigt sich also auf allen Ebenen, nicht nur in offensichtlichen sozialen oder politischen Zusammenhängen.
Konkrete, dringende Aufgaben liegen direkt vor uns. Wir sind die Menschen, aus denen sich die Sangha, die der nächste Buddha sein wird, zusammensetzen wird. Was müssen wir tun und sein, individuell und gemeinsam, um diese Emergenz zu ermöglichen? Wie können wir in neuer Weise miteinander sprechen? Wie können wir uns begegnen, sodass sich in unserem Miteinander etwas genuin Neues, Lebendiges, Bewusstes, Konkretes, Kraftvolles entwickelt, das diesem Moment der Krise entspricht?
Unsere besten, derzeitigen Antworten auf diese Fragen sind nur provisorisch; sie werden sich weiterentwickeln müssen. Es ist dringend notwendig, dass wir uns leidenschaftlich jenseits unseres derzeitigen Bewusstseins strecken, um bessere Antworten zu finden, sie umzusetzen, von dem zu lernen, was passiert. So können wir diese Erfahrungen zu einem kontinuierlichen Prozess von Revision und Verfeinerung werden lassen. Echter integraler Aktivismus muss Erkenntnissuche und Handeln zugleich sein. Unser Leben kann von dieser dringenden Frage verändert werden und sich mit Verantwortung aufladen. Deshalb ist unsere menschliche Begegnung ein Kernbereich des integralen Aktivismus.

Author:
Terry Patten
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