Das Böse ist stärker – das Gute zahlreicher

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Book/Film Review
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July 16, 2020

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Ausgabe 27 / 2020:
|
July 2020
Schönheit
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Eine Besprechung des Buches »Im Grunde gut« von Rutger Bregman

h denzeilen Zwischen Hobbes oder Rousseau? Die beiden einflussreichen Philosophen stehen für zwei entgegengesetzte Menschenbilder. Thomas Hobbes meinte, der wahre Kern des Menschen sei böse, das Leben im Urzustand sei »schmutzig, brutal und kurz gewesen«, es habe ein »Krieg eines jeden gegen jeden« geherrscht. Erst Zivilisation und Moral hätten die Bestie Homo gezähmt, zumindest einigermaßen. Hundert Jahre später vertrat Jean-Jacques Rousseau dagegen die Auffassung, im Urzustand sei unsere Gattung gekennzeichnet von Friedfertigkeit und Harmonie gewesen. Erst die Zivilisation habe uns verdorben. Mit dem Ersten, der ein Stück Land eingezäunt habe und erklärte, »das ist meins«, seien wir auf die schiefe Bahn geraten.

Der holländische Historiker Rutger Bregman hat wie ein Ermittler Beweise zusammengetragen, die Rousseaus Sicht belegen. Biologisch und kulturell verdanke der Mensch seine Überlebenskunst der Fähigkeit, mit seinen Artgenossen zu kommunizieren und zu kooperieren. Nicht brutales Konkurrenzdenken, sondern Zusammenarbeit sei das Erfolgsrezept. Survival of the friendliest. Das Buch ist nicht nur eine kenntnisreiche Faktensammlung aus Anthropologie, Evolutionstheorie, Sozialpsychologie und Soziologie. Bregman versteht sich auch wie ein guter Wissenschaftsjournalist darauf, die Leser auf eine spannende Recherchereise mitzunehmen. Anhand anschaulicher Beispiele erhärtet er seine These: Der Mensch sei viel besser, als wir gemeinhin glauben. Freispruch für Homo sapiens!

BIOLOGISCH UND KULTURELL VERDANKT DER MENSCH SEINE ÜBERLEBENSKUNST DER FÄHIGKEIT, MIT SEINEN ARTGENOSSEN ZU KOMMUNIZIEREN UND ZU KOOPERIEREN.

Besonders wertvoll ist die Entlarvung einiger moderner Märchen. Schon mal von den Versuchen Stanley Milgrams gehört?

Ganz normale Menschen seien bereit, so das Ergebnis, Probanden mit Stromstößen zu bestrafen, bis zur tödlichen Stromstärke. Oder vom Stanford Prison Experiment? Zwei Gruppen von Männern, als Wärter oder als Gefangene ausgelost, und nach wenigen Tagen hätten sich die Wärter in brutale Folterer verwandelt. Bregman hat nachrecherchiert. Es stellt sich heraus, dass die Ergebnisse in weiten Teilen manipuliert waren. Beim Gefängnisexperiment hatte der Leiter die Wärter massiv unter Druck gesetzt, die Häftlinge zu malträtieren; und Milgram verschwieg, dass die Versuchspersonen wussten: Weder die Stromstöße noch die Gequälten sind real, es handelt sich um eine Inszenierung.

Die beiden Studien wurden womöglich deshalb weltberühmt, weil sie ein tiefsitzendes Vorurteil bestätigten. Es lautet in etwa so: Man müsse nur ein wenig an der dünnen Schicht von Zivilisiertheit kratzen und schon werde die Bestie (sprich: unser wahres Wesen) sichtbar. Bregman nennt das die Fassadentheorie. Unser Selbstbild scheint stark von negativen Glaubenssätzen geprägt zu sein, für die wir unbewusst Bestätigung suchen – und finden. Das gilt auch für Wissenschaftler, die den Narrativen ihrer jeweiligen Zeit folgen. Dass für diese Wahrnehmungsverzerrungen auch das kollektive Unterbewusstsein verantwortlich ist, hat Bregman allerdings nicht berücksichtigt. Denn in unserem Geist wirkt eine 2.000-jährige, von der Kirche geprägte Konditionierung, wonach der Mensch sündig und »das Fleisch« schwach sei. Das Buch ignoriert auch das Wissen um das Ego, den Ich-Geist. Dessen Wurzel ist der – meist unbewusste – Gedanke, man sei von der allumfassenden Wirklichkeit getrennt. Aus dieser vorgestellten Trennung entsteht tatsächlich Böses: Abwertung, Neid, Gier und Hass.

Der Autor steht vor der uralten Frage, warum – wenn der Mensch »im Grunde gut« ist – so viel Grausames geschieht? Besitzdenken und Macht korrumpierten den eigentlich guten Kern, so seine Argumentation. In ihrem Streben nach Zugehörigkeit verirrten sich Menschen, etwa wenn sich das Böse als »gute Sache« verkleide. Um gute Kameraden zu sein, schießen Soldaten; um Wissenschaftlern zu helfen, verabreichen Probanden Stromstöße. Andererseits zeigt sich selbst in Extremsituationen (Kriege, Naturkatastrophen und Unglücke), dass Menschen mitfühlen und einander helfen. Und auch im Alltag zeige sich, wohin man blicke, dass Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft überwiegen.

In den Medien jedoch wird ein anderes Bild präsentiert. Die Berichterstattung betont negative Vorkommnisse, bedrohliche Nachrichten, Geschichten von Grausamkeit. Sie fokussiert auf spektakuläre Ausnahmen, um sich Vorteile im Wettbewerb um die Gunst des Publikums zu verschaffen. Hirnforschung und Psychologie bestätigen, dass negative Nachrichten bei den Medienkonsumenten nicht nur besonders aufmerksam aufgenommen, sondern auch länger im Gedächtnis behalten werden. Noch so viele Hinweise auf funktionierendes menschliches Miteinander kommen nicht gegen den starken Eindruck an, den Storys über Lügner und Betrüger, über Mörder und Folterer erzielen.

Für Bregman ist es an der Zeit, das fatale Image von Homo sapiens zu korrigieren. Es gelte, einen Wirkmechanismus zu durchbrechen, den er mit dem NoceboEffekt beschreibt. Wie beim Placebo die heilende Wirkung durch den Glauben an Heilung entsteht, provozieren beim Nocebo schädliche Überzeugungen den Schaden. Konkret: Wenn man Menschen so behandelt, als seien sie ihrem Wesen nach faul, intrigant, egoistisch und unmotiviert, dann wird man sie mit einem rigiden System von Belohnung und Bestrafung gefügig machen – und erntet exakt das vorausgesagte Verhalten. Umgekehrt breitet das Buch zahllose wissenschaftliche Belege aus, dass sich Menschen motiviert zeigen, wenn man auf ihre Motivation vertraut; dass sie gerne etwas beitragen, wenn man sie für hilfsbereit hält. Schüler erbringen bessere Leistungen, wenn man sie ihnen zutraut (und versagen überproportional oft, wenn die Lehrer ihnen unbewusst signalisieren, dass sie sie für eine Niete halten). Wie der Volksmund treffend formuliert: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Ein Resonanz-Phänomen.

Bregman fordert einen »neuen Realismus«, der auf der Erkenntnis basiert: Meistens verhalten sich Menschen grundgut. Das könnte alles verändern. Unternehmen könnten sich von ihren Befehl-und- Kontrolle-Systemen verabschieden und der Eigenmotivation ihrer Mitarbeiter vertrauen. Freies Lernen, bei dem die Schüler selbst am besten wissen, welcher Stoff dran ist, würde starre Lehrpläne überflüssig machen. Bürgern, denen man die Kompetenz zutraut, die Geschicke ihrer Gemeinde mitzubestimmen, würden besser informierte Entscheidungen treffen als Bürokraten, die fern von der Basis agieren.

Eine ferne Utopie? Das Buch nennt zahlreiche Beispiele, wo der neue Realismus bereits wirkt und das Zusammenleben von Menschen von Grund auf verändert. Etwa die Firmen, die der ehemalige Unternehmensberater Frédéric Laloux für seine Studie »Reinventing Organisations« beschrieben hat. Darin agieren CEOs als Coaches und nicht mehr als Hierarchen, weil Hierarchien weitgehend aufgehoben wurden. An deren Stelle treten wachsendes Vertrauen, achtsame Kommunikation und kultivierte Selbstverantwortung. Das funktioniert nicht nur in kleinen Nischenbetrieben, sondern auch mit Zehntausenden Mitarbeitern.

Bregman verfällt nicht in naiven Gutglauben. Er benennt auch sehr klar die Bedingungen, unter denen Menschen Böses tun. Etwa wenn sie an der Macht sind und mit brutalen Mitteln durchsetzen, dort auch zu bleiben. Oder wenn Menschen für die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe zu Fremdenfeinden werden und bereit sind, buchstäblich über Leichen zu gehen, wie sich beispielsweise im Kriegsgeschehen zeigt. Doch offensichtlich gibt es auch helle Seiten im Prozess der Zivilisierung. In den vergangenen 200 Jahren haben Rechtsstaatlichkeit und humane Moral große Fortschritte gemacht, wurde die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, ist mit den Sozial staaten ein Modell der Solidarität entstanden. Diese Rahmungen, wenn auch weit weg von Vollendung, haben sich als günstig dafür erwiesen, dass sich Homo sapiens von seiner besseren Seite zeigen kann. Insofern ist Bregmans Fazit nachvollziehbar: Das Böse ist stärker – aber das Gute ist zahlreicher.

Author:
Michael Gleich
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