Das Ende des mentalen Bewusstseins

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

April 23, 2015

Featuring:
Jean Gebser
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Ausgabe 06 / 2015:
|
April 2015
Wir-Räume
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Wir-Erfahrungen als Ausdruck unserer Bewusstseinsentwicklung


Zwei Jahre lang erforschte Andrew Venezia neue Experimente mit Gruppenprozessen und veröffentlichte eine Masterarbeit zum Thema. Für evolve fasst er die Ergebnisse seiner Spurensuche zusammen.

Während eines surreal bekannt wirkenden Moments der Offenbarung wurde mir klar: Ich saß neben einem Menschen, einem Zentrum bewusster Erfahrung des Lebens! Ein Mensch mit seiner eigenen Erfahrung, die sich grundsätzlich von meiner unterscheidet, der aber auch die gleiche Lebendigkeit war, die gleiche Empfindungsfähigkeit wie ich – was in diesem Augenblick auch zutiefst spürbar wurde. Wir waren Bewusstsein, und ich war mir dessen bewusst. Ganz klar bewusst: Wir waren dieses Bewusstsein, diese Empfindungsfähigkeit, diese Intelligenz, dieses Leben – das war alles, was es gab, was war oder je sein würde. Und wir waren es.
So begann vor etwa sechs Jahren meine Erforschung des Wir-Raums und der radikalen Möglichkeiten der Intersubjektivität. Der Begriff „Wir-Raum“ stimmt sehr mit meiner eigenen Erfahrung überein. Aber das Wort wurde auch für alle möglichen unterschiedlichen Erfahrungen von Intersubjektivität genutzt. Viele davon hatten keinen offensichtlichen Bezug zu der tiefen und vollkommenen Transparenz der Grenze zwischen Ich und anderen und der Entstehung eines gemeinsamen Seins, die ich als etwas Heiliges erlebt hatte. Im Extremfall wurde der Begriff einfach für ein herzliches Beisammensein verwendet, wie eine Weihnachtsfeier in einem Yoga-Studio. Gab es da irgendwelche Verbindungen zwischen diesen Erfahrungen. Und was hatte ich überhaupt erfahren? Gab es andere, die das auch erfuhren – oder gar Menschen, die es übten?
Ich war gerade in meinem ersten Jahr eines Masterstudiums in Integraler Theorie an der JFK University in Kalifornien und dachte über das Abschlussprojekt nach, das ich im dritten und letzten Jahr machen sollte. Nach und nach wurde mir klar, dass ich mich einem Forschungsprojekt über Wir-Räume widmen wollte, um diese Frage zu klären und eine Antwort darauf zu finden: Was ist Wir-Raum? Ich las, dachte nach, interviewte Teilnehmer und insbesondere Lehrer oder Begleiter von formellen und informellen Wir-Praktiken. Und ich machte auch selbst den Test und zog in die Nähe von San Francisco, um näher bei einigen Praxis-Gruppen zu sein, nahm daran teil und absolvierte ein halbjähriges Training in einer dieser Methoden.

Wenn wir uns als Kreativität, als Leben, als Intelligenz erfahren, dann nehmen wir die kollektive Fähigkeit zur Weltgestaltung in unsere eigenen Hände.


Eines der zentralen Ergebnisse meiner Forschung war, dass man Wir-Räume in einem Spektrum verstehen kann. Kurz zusammengefasst: Subtile Wir-Räume umfassen Praktiken der persönlichen Verbundenheit, wobei persönliche Selbsterfahrung, Heilung, Entwicklung und Sinnfindung im Vordergrund stehen und tiefere Beziehungen gebildet werden. Kausale Wir-Räume umfassen das schon Gesagte, fokussieren sich aber darüber hinaus auf ein „tiefes Zuhören“, „den Zwischenraum“ und eine Erforschung des Gewahrseins selbst, statt sich auf die Objekte des Gewahrseins zu konzentrieren. Zudem beginnt sich eine transpersonale Gruppenidentität zu zeigen. Erwachte Wir-Räume sind eine Art Wendepunkt, wo sich das lebendige einzigartige Wir der anwesenden Menschen von einer implizit gefühlten Wahrnehmung zu einer erwachten, selbstreflexiven Identität wandelt. Wenn dieses Wir-Sein in der Gruppe stabil ist, kann es durch die Stimmen der Einzelnen sprechen und seine Aufmerksamkeit auch auf praktische oder organisationsbezogene Fragen lenken und somit in den Prozess der Weltgestaltung oder des „Weltträumens“ eintreten. Das ist nur eine Form, Wir-Räume zu verstehen, aber sie ist für mich hilfreich, weil darin die Erfahrung und Intention der Gruppe und der Einzelnen klarer wird. Sonst können solche Erfahrungen leicht sehr unklar und schwammig werden. Ein klareres Verstehen kann hingegen dazu führen, dass wir eher dazu in der Lage sind, die tieferen Ebenen des Wir zu erforschen.
Aber die Kerneinsicht dieses Projekts und meine Erkenntnisse in den darauffolgenden zwei Jahren führten zu dieser Schlussfolgerung: Wir-Räume und ihr radikales Potenzial können nicht getrennt von der Emergenz der integralen Phase der menschlichen Entwicklung, wie sie Jean Gebser beschrieb, verstanden werden. Wir-Räume sind potenziell radikal und wir verstehen sie erst im Lichte unserer Fähigkeit zur Abstraktion, denn in der Erfahrung des Wir-Raums wird unsere Fähigkeit, die Wirklichkeit abstrakt zu ordnen, transparent oder durchlässig. Dabei werden die abstrakten Objekte der Kognition (z. B. Ideen und Konzepte) von unserer Neigung befreit, die Wirklichkeit mit diesen Objekten gleichzusetzen. Die grundlegendste dieser Fixierungen und die Aufspaltung der Wirklichkeit, der Unterschied zwischen Ich und Du (oder allgemeiner Ich und Nicht-Ich) – und zwischen dem, was real und nicht real ist, oder zwischen Nichts, Unendlichkeit und Einheit – werden im integralen Raum zu kreativen Werkzeugen. Sie verzerren und begrenzen also nicht mehr die Möglichkeiten unserer Weltgestaltung.
Diese Grenzen, die ich auch als Wirklichkeitsfixierung bezeichne, liegen dem Selbstgefühl zugrunde, das unsere Weltgestaltung bestimmt: Unser „Mit-der-Welt-zusammen-Sein“ kommt aus diesen Identifikationen, die vor dem konzeptuellen Denken und Erfahren liegen. Unsere heutigen Krisen – die äußeren Krisen des systemischen Zusammenbruchs und die inneren Krisen der Sinnfindung – haben ihre Ursache in dieser Form der Gestaltung und Gliederung unserer menschlichen Wirklichkeit, die Jean Gebser als mental bezeichnete. Als Wir-Raum bezeichnen wir die Fähigkeit, die sich zeigt, wenn wir die Ganzheit des Menschen und seine universale Identität erkennen, die über die mentale Ebene hinausgeht. Dabei erfahren wir in postkonventionellen Beziehungen das Erwachen zur zugrunde liegenden Leerheit und zur kreativen Natur unserer Begrenzungen – sie werden zu etwas, das wir gestalten können.
Was ich hier beschreibe, habe ich erst in Ansätzen gesehen, aber ich bin mir der Möglichkeit und Notwendigkeit dieser Entwicklung bewusst: Wenn wir uns als Kreativität, als Leben, als Intelligenz erfahren, dann nehmen wir die kollektive Fähigkeit zur Weltgestaltung in unsere eigenen Hände – was man in gewisser Weise mit dem luziden Träumen vergleichen kann, wo wir uns im Traum bewusst sind und den Traum gestalten können. Obwohl diese Entwicklung in einer ernsten Weltlage geschieht und mit großer Dringlichkeit verbunden ist, geht es hierbei nicht nur um unser Überleben, damit wir die momentane existenzielle kollektive Krise überwinden. Es geht vielmehr darum, das wichtigste Werkzeug zu nutzen, das uns die Evolution gegeben hat: unsere Fähigkeit zum Abstrahieren. Heute können wir diese Fähigkeit von der Anhaftung an ihre Quelle lösen: der Identität als getrenntes Ego. Wir durchschneiden die Nabelschnur. Das dynamische Potenzial unseres Geistes, unsere Fähigkeit, absichtsvoll eine Welt zu gestalten, haben wir bisher nur im Anfangsstadium erlebt und genutzt.

Author:
Andrew Venezia
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