Das Schweigen im Supermarkt

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Published On:

July 18, 2019

Featuring:
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 23 / 2019:
|
July 2019
Was das Geld mit uns macht
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Über das Geld als Denkzwang

Wir denken, wir gehen mit dem Geld um, aber es ist viel eher so, dass das Geld mit uns umgeht, es zwängt uns in vorgegebene Denkweisen über uns selbst und die Welt. Diese Denkzwänge will die Professorin für Ökonomie und Philosophie an der Cusanus Hochschule Silja Graupe aufbrechen, auch vor allem bei Ihren Studierenden. Wir sprachen mit ihr über die Denkzwänge des Geldes und Wege in neue Denk- und Erfahrungsformen.

evolve: Sie sprechen oft vom Denkzwang, in den uns das Geld versetzt. Was meinen Sie damit?

Silja Graupe: Zunächst scheint vielen Menschen die Idee, dass unser Denken einem Zwang unterliegen könnte, absurd zu sein. Sind die Gedanken nicht frei, wie es so schön in dem alten Volkslied heißt? Doch dieses Lied spielt nur auf die Freiheit unseres Denkens von äußeren Zwängen wie physische Gewalt an. Die Macht des Geldes ist eine andere. Es wirkt gleichsam durch uns hindurch, bemächtigt sich unseres Innersten.

Einfach gesagt, besteht die Macht des Geldes darin, den menschlichen Geist auf eine einzige Gewohnheit im Denken einzuschränken: den rechnenden Umgang mit Mengen von Waren und deren preisförmige Beziehungen. Zugleich lässt es jedes andere Wissen um die Qualität menschlicher Beziehungen und um unseren schöpferischen Umgang mit Dingen in Vergessenheit geraten. Denken Sie nur einmal an Ihre täglichen Erfahrungen im Supermarkt. Immer wenn wir dort (oder auch anderswo) Geld nutzen, werden wir darin bestätigt, dass wir in unserem alltäglichen Leben scheinbar nichts anderes zu wissen brauchen, als die Preise von Waren und Dienstleistungen. Stillschweigend akzeptieren wir, dass es zwar andere menschliche Kooperationsformen brauchen mag, um die Dinge, die wir kaufen oder verkaufen, herzustellen. Aber wir verlieren die Fähigkeit, über diese Formen zu kommunizieren. Stattdessen hasten wir ebenso eilig wie schweigend durch den Supermarkt oder ziehen ebenso stumm Geld aus dem Automaten. James Buchanan, Träger des sogenannten Wirtschaftsnobelpreises, hat das einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: »Der Händler am Obststand verdrischt vielleicht sein Pferd, erschießt Hunde und verspeist Ratten. Doch keine dieser Eigenschaften braucht meinen Tausch mit ihm, der sich ja nur auf das Ökonomische bezieht, zu beeinflussen.« Meine provokante These lautet: Unser Umgang mit Geld vernichtet jede Form des Erfahrungswissens nicht nur über andere, sondern auch über uns selbst.

Fehlende Gedanken

e: Warum entwickeln diese Denkzwänge solch eine Macht?

SG: Zunächst einmal sollten wir anerkennen, dass damit eine sehr große Freiheit verbunden ist: die Freiheit von jedem bestimmten anderen Menschen. Doch diese Freiheit hat eine Kehrseite. Denn zugleich werden wir von unzähligen namenlosen Menschen abhängig, mit denen wir uns nicht mehr verständigen können. Und hinter genau dieser Unfähigkeit verbirgt sich die Macht des Geldes: Denn alles, über das wir nicht mit anderen Menschen kommunizieren können, können wir dauerhaft auch nicht denken. Und wo die Gedanken fehlen, können wir auch keine Handlungsoptionen mehr erkennen, geschweige denn ergreifen.

e: Ist es möglich, diese Denkzwänge bewusst zu machen, sie offenzulegen?

SG: Ich sehe es als großes Problem der heutigen Wissenschaften an, dass sie uns genau diese Freiheit der Bewusstwerdung nicht zugestehen. So gibt vor allem die Standard-Wirtschaftswissenschaft vor, dass unser bewusster Verstand lediglich aus einer berechnenden Rationalität, also aus dem virtuosen Umgang mit sinnentleerten Zahlen bestehen kann. Genau aber diese Form der Rationalität setzt die Gelderfahrung, wie sie für unser Handeln im Supermarkt typisch ist, immer schon blindlings voraus!

Ich bin der Meinung, dass wir hier unsere Blickweise genau umkehren müssen. Wir müssen nicht mehr nur mit, sondern über das Geld und über das, was es mit uns im Alltag macht, bewusst nachdenken lernen! Dafür ermuntere ich meine Studierenden etwa, ihre Nasen aus den Lehrbüchern zu nehmen, den goldenen Käfig der Wirtschaftswissenschaften zu verlassen und sich über ein paar Wochen ganz bewusst in einem modernen Supermarkt aufzuhalten. Dort sollen sie wieder und wieder genau beschreiben, wie sie ihre Einkäufe wirklich erleben. Spannend ist dabei zu sehen, wie sie in diesem Prozess der Sprachfindung mit einem Male ganz lebendig und zugleich widerständig werden! Was ihnen von klein auf in ihrem Leben zuvor selbstverständlich erschien, wird ihnen nun im wahrsten Wortsinn frag-würdig. So schreibt etwa eine Studentin: »Erst der Anstoß, einen Supermarkt mit offenen Augen und erhobenem Haupt zu betreten, und die permanente Aufarbeitung der Erlebnisse in der Vorlesung haben mir gezeigt, dass es in so einem Supermarkt viel zu entdecken gibt und unglaublich viel damit zusammenhängen kann. Was ich für mich mitnehme, ist auf jeden Fall die Erkenntnis, dass der Supermarkt ein Raum ist, den ich nicht gestalten kann. Ich habe zwar die Wahl, aber woraus ich wählen darf, bestimmt der Supermarkt. […] Wir leben also alle einen vorgegebenen Weg.« Das Schweigen des Geldes wird auf einmal selbst beredt, und daraus wiederum entstehen der Drang und der Mut, Alternativen auszuprobieren und zu versprachlichen!

Gemeinsinn-Ökonomie

e: Welche Alternativen haben wir, um das zu tun?

SG: Ob Finanzkrise, Klimakrise, Politikkrise oder die vielen anderen Formen heutiger Krisen: Viele Menschen spüren heutzutage, dass die Menschheit umdenken muss. Doch wegen des Denkzwanges des Geldes fehlen ihr nicht nur die Worte zur Analyse der Probleme, sondern auch für Alternativen und Visionen eines besseren Lebens.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn wir spontan gefragt werden, was die Alternative zur immer weiter fortschreitenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche ist, können wir dann antworten? Was ist das Gegenteil von Vermarktlichung, Monetarisierung, Verzwecklichung, Beschleunigung und Kommodifizierung von Gesundheit, von Kultur, von Religion, von Natur und von Kunst? In einem Wort? Wahrscheinlich bleiben wir stumm, und es beschleicht uns das beklemmende Gefühl, nichts zu wissen und deswegen nicht antworten zu können. Es ist wichtig zu verstehen, dass dies nicht unsere eigene Schuld ist. Vielmehr wirkt hier die Macht des Geldes, die es uns nicht erlauben will, Alternativen schnell denken zu können.

WIR MÜSSEN NICHT MEHR NUR MIT, SONDERN ÜBER DAS GELD BEWUSST NACHDENKEN LERNEN!

Die Aufgabe ist, sich genau aus dieser Ohnmacht zu befreien! Ich persönlich mache mich etwa für den Begriff der »Gemeinsinn-Ökonomie« stark, um eine intuitiv verständliche Vorstellung von der einen großen Vision zu gewinnen, die uns vom Denkzwang des Geldes befreien kann. Damit meine ich natürlich nicht einfach nur eine leere Begriffshülle, sondern lasse die Gemeinsinn-Ökonomie bei genauerer Erklärung mit alten Traditionen – etwa mit humanistischen Vorstellungen eines moralisch inspirierten Zusammenlebens ebenso wie mit der aristotelischen Vorstellung einer kreativen Imaginationsfähigkeit des Menschen – und zugleich mit Assoziationen von innovativen sozialen Interaktionen außerhalb des Marktes verbinden.

Ich bin überzeugt: Nur wenn wir auf solche kreative Weisen schrittweise wieder die Hoheit über unser Denken zurückgewinnen, werden wir gemeinsam sagen lernen können, wohin wir eigentlich wollen. Damit meine ich keineswegs einfach nur die Vision eines Lebens ohne Geld. Aber doch die Vision eines Lebens, in dem wir die geistlose Denkgewohnheit, die mit dem Geld einhergeht, beherrschen lernen. Auf dass sie umgekehrt die Macht über uns verlieren möge.

Author:
Dr. Thomas Steininger
Share this article: