Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
July 17, 2023
Für Orland Bishop liegt die Zukunft des Heiligen im »Dazwischen«, in der Schaffung eines neuen Wir, das über unsere Selbstisolation hinausführt. Wir sprachen mit ihm über seine Vision einer Welt, in der das Heilige zu unserer tiefsten Motivation wird.
evolve: Ist die Dimension des Heiligen aus Ihrer Erfahrung etwas Wichtiges für die Entwicklung unserer Kultur und für die Zukunft des Planeten?
Orland Bishop: Die Dimension des Heiligen ist heute weiterhin sehr bedeutsam für die Entfaltung des menschlichen Lebens. Sie deutet auf etwas, das nicht außen und nicht innen, sondern dazwischen liegt. In unterschiedlichen Bewusstseinsstufen hat das Heilige seine Betonung zunächst von der äußeren zur inneren Welt und heute auf das Dazwischen verlagert, als einen Prozess der Gastlichkeit für das, was nicht als heilig betrachtet wird.
Jeder Aspekt der Wirklichkeit, der Erkenntnis und Entwicklung bei uns inspiriert, wird zu einer Möglichkeit, etwas zurückzugeben. Ich denke, dass das Heilige heute mit unserem Willen zu tun hat und damit, wie wir unseren Willen in Beziehung zu unserem Handeln in der Welt tiefer verstehen. Denn wenn unser Wille heilig werden könnte, wird das, was wir tun, heilig.
Das ist eine Bewusstseinsstufe, in der wir nicht nur die Produkte unseres Bewusstseins betrachten können, sondern das Bewusstsein selbst. Dann könnten wir tatsächlich entscheiden, was der Inhalt sein kann und als Folge dessen auch, welches die Produkte unserer Aktivitäten sein können. Das gibt dem Heiligen eine andere Dimension: Es wird uns nicht nur gegeben, sondern es ist etwas, das wir auch geben können. Diese Entwicklungsstufe der Bedeutung des Heiligen ist eine Einladung an uns Menschen, an der Kreation, Neu-Kreation und Co-Kreation von dem, was wir heilig nennen, mitzuwirken.
Im Zwischenraum
e: Worauf beziehen Sie sich, wenn Sie über den Übergang des Heiligen vom Äußeren zum Inneren und schließlich zum Dazwischen sprechen?
OB: Über lange Zeit in der menschlichen Entwicklung wurde das Heilige nicht im Innen erfahren. Der Grund dafür war, dass wir uns in unserem Geist und in unserer Wahrnehmung den Göttern zuwandten. Aber mit dem Überschreiten der Stufe der bloßen Wahrnehmung verortete der Verstand das Heilige in unserem Innenraum. Daraus entwickelten wir moralische, innere Fähigkeiten und die Bewusstheit, dass unser Wille auf unterschiedlichen Ebenen in den Dienst des Heiligen gestellt werden könnte. In vielen Traditionen können wir die innere Aktivität des Heiligen erkennen, z. B. im achtfachen Pfad des Buddhismus, in den tieferen Aspekten des mystischen Christentums und des Sufismus.
Was ich das Dazwischen nenne, hat mit unserem Willen und dem sozialen Willen im Besonderen zu tun. Dieser Aspekt des Willens beinhaltet zwei Dinge: den Inhalt, an dem ich arbeite, aber auch einen Kontext, an dem ich mitwirken könnte, indem ich das Heilige in das Tun für den Anderen einlade. Das Heilige wird nun unsere Fähigkeit, der Welt und dem Anderen etwas zu geben.
e: Dieses Dazwischen bezieht sich einerseits auf unseren Willen und andererseits sprechen Sie über eine soziale Fähigkeit. Bezieht sich das auf einen sozialen Raum, den wir zwischen uns schaffen, der von uns als selbstbewussten, verantwortungsvollen Menschen und dem, was wir zwischen uns erschaffen, abhängt? Der Raum, der dadurch geschaffen wird, lebt nicht nur aus meiner inneren Reinheit oder Heiligkeit, sondern aus einer Art von co-kreativer Kultur, in der wir aufgefordert sind, etwas zu erschaffen, das nicht nur meine Kreation oder die Kreation des Anderen ist, sondern eine co-kreierte soziale Wirklichkeit. Meinen Sie diese Dimension?
»Zukunft ist Liebe zwischen Menschen, die schöpferisches Sein ermöglicht.«
OB: Genau. Wir haben jetzt die Fähigkeit, die Bedürfnisse der Anderen als unterschiedlich von unseren eigenen zu erspüren. Der Wandel, der sich in unserem Bewusstsein ereignet, bezieht sich auf unser Herz-Denken. Das Wissen des Herzens erlaubt dem Menschen, das Bedürfnis des Anderen als vorrangig zu erfahren. Unsere Selbstwahrnehmung ist jetzt imstande, dieses Opfer zu vollbringen und sich damit auch dem Heiligen zuzuwenden, das eigene Gefühl als Geste der Gastfreundschaft und als Einladung gegenüber dem Anderen zu empfinden, indem ich frage: Was brauchst du?
Herz-Denken
e: Sie sagen, wir können von einem anderen inneren Ort aus denken. Was ist dieses Herz-Denken?
OB: Es kam in mein Leben durch die Beobachtung der Interaktion zwischen zwei oder mehreren Personen: Was verändert sich, wenn wir nicht um Eigeninteressen wetteifern? Wenn wir keine Sympathie oder Antipathie für den Anderen entwickeln, sondern Empathie, dann wird das Herz fähig, nicht nur zu wissen, sondern erlangt Weisheit, Verstehen und Wahrheit. Es gibt einen Grad von Wahrhaftigkeit auf der Herzensebene, wo das, was wir Liebe nennen können, eine Klarsicht möglich macht, eine Form des Bezeugens, dass wir unser höheres Ziel in und durch den Anderen entdecken.
Wenn mein Fühlen voll bewusst wird, kann ich ein Gefühl für die Welt erfahren, das mich hoffnungsvoll, dankbar und sehr kreativ werden lässt, im Dienst für das, was die Welt werden kann. In diesem Sinne kann man sagen, die Welt ist im Werden. Man findet dieses Gefühl in der Arbeit vieler Menschen, die den tieferen Sinn von Liebe erforschen. Aber das ist nicht die Liebe als Selbst-Gefühl oder das Gefühl von tiefem Interesse. Es ist eine tiefe Seelen-Aktivität, um in diese Sphäre einzutreten, in welcher sich der Wille vollständig mit dem Denken und Fühlen vereint, und zu einem Erkennen von Vertrauen und Ehrfurcht für das Leben und die Prozesse, die ich bezeuge, wird.
Vertrauen erkennen
e: Das ist eine starke Feststellung: ein Erkennen von Vertrauen. Bedeutet dieses Erkennen von Vertrauen, dass dieses Vertrauen oder diese Vertrauenswürdigkeit der Wirklichkeit etwas ist, das wir erkennen können? Gibt es eine Erkenntnis von Liebe und Vertrauenswürdigkeit, die mein Denken verändert, weil eine andere Wirklichkeit auftaucht, die nicht die des Eigeninteresses ist, und die auch die Bedeutung von Liebe verändert, weil es da etwas gibt, das weit über mich hinausgeht, und das vertrauenswürdig und liebenswert ist?
OB: Der Wandel von der Verstandes-Seele zur Bewusstseins-Seele ist sehr subtil. (Diese Begriffe stammen aus der Anthroposophie Rudolf Steiners, wobei die Verstandes-Seele vor allem mit der Denkfähigkeit verbunden ist, und die Bewusstseins-Seele das bewusste Erleben jenseits von Empfinden und Denken anspricht, A. d. Ü.). In der Verstandes-Seele kann ich mir meines Eigen-Interesses bewusst werden, sie sorgfältig entwickeln und dementsprechende Fähigkeiten erlernen. Das ist heute in unserer Gesellschaft weit verbreitet, wir nennen es Karriere. Wenn ich mich zur Bewusstseins-Seele entwickle, erkenne ich, dass das, was ich als meine eigenen Fähigkeiten entwickelt habe, ein Geschenk für die Anderen werden kann. Es ist so, als ob alle Möglichkeiten, die mir in meinem Eigeninteresse vorher verborgen blieben, sich nun offenbaren, weil der Andere mich daran erinnert, dass ich ein höheres Ziel habe, für das ich der geworden bin, der ich bin; warum ich zu dieser Zeit inmitten all der Gelegenheiten meiner Geburt inkarniert bin, mit diesem Körper, an diesem Ort, in dieser sozialen Wirklichkeit.
Aus dieser Perspektive kann ich mehr von meinem Willen in Freiheit und Vertrauen mit dem Anderen einsetzen. Ich kann verstehen, dass das Schicksal nicht vorgegeben, sondern eine Schöpfung aus Liebe und Sinn ist, um die Teile meines Ichs zu nutzen, die jetzt integriert werden.
e: Es ist interessant, dass Sie es nicht als etwas beschreiben, das wir ersehnen oder anstreben, sondern als eine Erkenntnis von etwas Höherem, das uns ruft und für das wir unsere Fähigkeiten entwickeln können. Wie kommen Sie zu dieser Einsicht?
»Das Heilige wird unsere Fähigkeit, der Welt und dem Anderen etwas zu geben.«
OB: Zu dieser Einsicht kam ich durch die Beobachtung meiner Motive und indem ich sie auflöste. Wir haben die Sprache, aber jenseits der Sprache gibt es die Kraft der stillen Bedeutung, um etwas zu kommunizieren, und das Denken in Gedanken und Gedanken in einen Dialog zu formen, der Verstehen ermöglicht. Wir können diese Fähigkeit des Verstehens bis in die meditative Beobachtung dessen weitertragen, was wir in der Stille beobachten können. Der Prozess, der diese Erkenntnis in unserem Intellekt ermöglicht, ist ins Herz gewandert. Es ist eine Transformation des Menschen, eine Feuertaufe, was heißt, dass ich meinen Willen verwandle – von »Mein Wille geschehe« zu »Dein Wille geschehe«.
Wenn ich tief und achtsam dem zuhöre, was in den Worten des anderen Menschen spricht, kann ich dieses Wesen finden und verstehen. Somit teilen wir dieses Wesen und wir können vom Reden in die Stille gehen und es immer noch erfahren, weil sich das Mysterium des Menschen offenbart. Der Mensch ist ein Träger des zukünftigen Zeitalters, das etwas mit dem Erschaffen aus dem Nichts zu tun hat, ein Erschaffen aus der Stille und einer wirklichen Hingabe unseres Willens an unsere Zukunft.
Liebe zur Zukunft
e: Sie sprechen von einem inneren Identitätswandel, weil ich fühle, wie eine Sphäre sich öffnet, die nicht so sehr meine eigene Identität ist im Sinne eines getrennten Ichs, sondern etwas öffnet sich und hält uns beide und ist verbunden mit der Stille, von der Sie gerade sprachen. Wenn das passiert, öffnet sich das Heilige in einem sozialen, intersubjektiven Raum.
OB: Für unseren heutigen Übergang ist das Heilige der soziale Raum, in dem das Heilige zwei oder mehr Menschen ermöglicht, zu einer Übereinstimmung zu kommen und aus dieser Übereinstimmung entstehen alle Wirklichkeiten. Das hat nichts zu tun mit unserer besonderen Absicht, etwas vorherzusagen. Es ist ein Geschenk, das aufgrund dessen zu uns kommt, was unsere Liebe co-kreativ erschafft. Um sich in der Welt zu inkarnieren, hängen alle Wesen von dieser Liebe ab.
Wenn wir uns von einer gegenstandsorientierten Welt, in der wir Dinge erschaffen, zu einer Kultur entwickeln, in der wir uns auch verantwortlich fühlen für das Erschaffen von Wesen oder für das Erschaffen des Raumes, in dem sich mehr Sein verwirklichen kann, werden wir beobachten, dass die unsichtbare Welt eine Bewegung von Gefühlen ist. Und wenn diese Gefühle uns als Inspiration erfassen, führen sie uns in ein tiefes Gewahrsein, das uns zu einem intuitiven Verstehen bringt: Wir erschaffen co-kreativ eine höhere Schwingung für die Welt, indem wir uns vom Anhaften an Dingen als einzigem Zeugnis unserer Kreativität lösen.
e: Sie beschreiben dies nicht nur als etwas Wünschenswertes, wonach es sich lohnt, zu streben, sondern als etwas, das Sie als einen Übergangsprozess betrachten, der schon jetzt stattfindet. Wie kommen Sie zu der Einsicht, dass es schon jetzt geschieht?
OB: Ich beobachte es in meiner Arbeit und gebe Ihnen ein Beispiel. Ein junger Mann war Mitglied einer Gang und wollte einen Konflikt mit Mitgliedern einer anderen Gang beenden und sie erschießen. Als er mit einem Revolver losgehen wollte, um sie zu erschießen, hatte er die Inspiration, mich in dem Zentrum, in dem ich arbeitete, anzurufen. Was auch immer zu ihm sprach, er folgte der Inspiration und rief mich an, worauf ich ihn einlud, sich mit mir zu treffen. Er sagte mir, dass er verzweifelt sei und sein Leben beenden und andere töten wolle. Ich half ihm, sich auf den gegenwärtigen Moment auszurichten, und fragte ihn, welche anderen Möglichkeiten er habe. Aber sein Herz war verschlossen und er empfand keine Liebe für seine eigene Zukunft. Also fragte ich ihn: Würdest du mir erlauben, an deiner statt deine Zukunft zu lieben, würdest du mir erlauben, diese Zukunft für dich zu halten? Damit die Zukunft in diesem Sinne eine Hoffnung für sein Leben werden konnte. Es war keine bestimmte Hoffnung, nur dies: Lass mich dich und die Absicht zu leben für dich halten. Also machte ich diese Affirmation mit ihm.
»Wenn wir Empathie empfinden, erlangt das Herz Weisheit, Verstehen und Wahrheit.«
Ein paar Wochen später wurde er sieben Mal von Mitgliedern einer anderen Gang in die Brust geschossen und von den Notärzten für tot erklärt. Aber er erinnerte sich an unsere Abmachung. Diese Abmachung belebte ihn wieder und man fand Lebenszeichen und brachte ihn in die Chirurgie. Dort wurde er wieder für tot erklärt. Doch er begegnete dort Wesen, deren Ziel es war, an der Co-Kreation des Lebens teilzunehmen, das er leben sollte. Sie halfen ihm, sich eine Vorstellung von dem zu machen, wie sein Leben aussehen würde. Das inspirierte ihn so sehr, dass er zurück in seinen Körper kam. Dann wurde er ein drittes Mal für tot erklärt. Dieses Mal fühlte er seine eigenen Liebeskräfte, weil er die Liebe all der Freunde und Familienmitglieder, die ins Krankenhaus gekommen waren, spürte, und von einer überbewussten Ebene aus brachte seine Liebe für sie ihn wieder ins Leben zurück. Drei Tage später entfernte er alle medizinischen Geräte, verließ das Krankenhaus und ging nach Hause. Er fühlte sich nicht verwundet, sondern er spürte kraftvoll, dass die Wunde das Geschenk war, das sich für ihn geöffnet hatte. Inmitten dieser höchst gewalttätigen Umstände öffnete sich ein Prozess und ermöglichte einen Wandel für jemanden, der keinerlei Vorbereitung auf das Heilige hatte. Zu diesem Zeitpunkt war die einzige Kraft die Abmachung mit mir, dass ich seine Absicht zu leben für ihn hielt.
Es werde
e: Das ist kraftvoll. Sie sprechen über die Zukunft so, als wäre sie nicht nur eine Möglichkeit, sondern sie scheint auch gerade jetzt in diesem Moment, bevor sie geschieht, eine existierende Wirklichkeit zu sein.
OB: Ich sehe die Zukunft nicht als mehr Zeit an, ich betrachte sie als Liebe zwischen zwei oder mehr Menschen, die schöpferisches Sein ermöglicht. Und wenn wir diese Liebe teilen, wird die Substanz, die der Wirklichkeit ihre Kraft, ihren Sinn und ihren genauen Ausdruck gibt, zugänglicher.
Es ist das Nichts, das die Zukunft ist; aber wir haben Zugang dazu. Wir haben Zugang zu diesem Erkennen, das sagt, »Es werde«, weil diese Ebene des Willens jetzt voll erkennbar ist. Das ist die Essenz des menschlichen Willens für die Zukunft. Es ist das Potenzial der Seele-Geist-Aktivität, um entscheiden zu können, was wir mit der kreativen Kraft gestalten können. Zukunft ist nicht Zeit in dem Sinn, was noch vor uns liegt, sondern was in uns liegt. ■
Das Gespräch führte Thomas Steininger für die Ausgabe 18/2018 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org