Den Gast wie Gott empfangen

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Published On:

November 5, 2018

Featuring:
Aslınur Akdeniz
Marian Brehmer
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Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
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Brücken zwischen den Kulturen aus der Weisheit des Sufismus

Aslınur Akdeniz wurde in einem Dorf in der Türkei geboren, Marian Brehmer in Norddeutschland. Heute leben sie als Paar in Istanbul und es verbindet sie ihre Liebe zur Spiritualität und Poesie des Sufismus. Ihre Beziehung sehen sie als einen Impuls zur interkulturellen Heilung und Verständigung. Dieses Ethos der Verbundenheit vermitteln sie auch in ihrer Gemeinschaft in Istanbul und auf Pilgerreisen zu den heiligen Stätten des Sufismus.

Beim Council-Training in der Ojai Foundation in Kalifornien.

evolve: Aslınur, du bist durch deine Familie mit der Sufitradition verbunden. Wie beeinflusste die Sufiweisheit dein Leben?

Aslınur Akdeniz: Diese Verbindung zur Sufitradition kommt durch meine Urgroßmutter väterlicherseits. Sie war ein Sufi­Derwisch und gab die weibliche Sufiweisheit an meine Großmutter weiter, von ihr ging sie auf meinen Vater über und von meinem Vater auf mich. Das Grundprinzip des Sufismus, das wir in unserer Arbeit anwenden, ist der Dienst am Nächsten. Sufis glauben, dass Dienst an der Menschheit Dienst am Göttlichen ist. Wenn wir einem Menschen begegnen, wissen wir, dass er oder sie eine Manifestation Gottes ist und nicht getrennt von Gott.

Für mich ist diese Verbindung zur Sufitradition ein Familienerbe und ich bewahre sie als ein Geschenk, als Segen meiner Familie. Als Kind war ich mir dessen auf einer energetischen Ebene sehr bewusst. Mein Vater war dafür bekannt, ein großer Sufi zu sein und wurde in der Nachbarschaft sehr geliebt. Als ich zwei Jahre alt war, starb er. Dass er physisch nicht mehr anwesend war, machte mich umso neugieriger auf seine Geschichten und auf seelischer Ebene war ich ihm umso verbundener.

Die Wahl eines Studiengangs wurde für mich geleitet von der Absicht, mich an diese Tradition zu erinnern. In der Sufi­Philosophie heißt es, dass wir nichts erlernen können, sondern uns erinnern. Das Wort »Zikr« für das zeremonielle Gebet in der Sufi­Tradition bedeutet »sich zu erinnern«. Dieses Erinnern steht im Zentrum meines Weges.

e: Marian, wie kamst du als Deutscher zum Sufismus und schließlich in die Türkei?

Marian Brehmer: Für mich war es auch ein Erinnern. Der Weg zum Sufismus, in die Türkei und in die islamische Kultur ergab sich nicht aus rationalen Überlegungen, sondern da war etwas in mir, das sich erinnert hat. Ein Jahr vor meinem Abitur 2009 reiste ich nach Syrien. Die deutsche Organisation ZIS (Stiftung für Studienreisen) vergibt Stipendien an Studenten, damit sie an Orte ihrer Wahl reisen und dort ein Forschungsprojekt durchführen können. Ich ging für sechs Wochen nach Syrien, um interreligiöse Beziehungen zu untersuchen. Schließlich landete ich in einer Moschee in Aleppo, die von Sufis geführt wurde. Ich wurde ihr Gast und mir wurde in der Moschee ein Bett angeboten. So wachte ich jeden Morgen mit dem muslimischen Morgengebet auf. Ich nahm an ihren Ritualen teil. Am meisten war ich von ihrer Gastfreundlichkeit berührt, ihrer Wärme, ihrer Hilfsbereitschaft und ihrer Menschlichkeit. Sufis und auch Muslime im Allgemeinen glauben, dass der Gast Gott in Verkleidung ist. Wenn also jemand an die Tür klopft, behandelt man ihn wie Gott.

Ich begann auch als freier Journalist für deutsche Zeitungen und Websites zu schreiben. Da zu der Zeit bereits so viele negative Informationen über islamische Länder und den Islam in den Medien verbreitet wurden, wollte ich andere Geschichten über diese Orte erzählen.

Das Grundprinzip des Sufismus, das wir in unserer Arbeit anwenden, ist der Dienst am Nächsten.

e: Wie bringt ihr beide die Spiritualität des Sufismus, die ihr so tief erfahren habt, in eurem Leben und eurer Arbeit zum Ausdruck?

MB: Im traditionellen Sufismus schloss man sich formell einer Gemeinde von Derwischen an, wenn man den Sufi­Weg gehen wollte. In unserer Arbeit praktizieren wir eine lose, offenere Form der Sufi­Praxis, die sich auf die Gemeinschaft konzentriert. Es gibt keine Hierarchie, keinen Meister, sondern der Kreis der Gemeinschaft ist der Meister. Der Meister ist in dir und der Kreis wird zum Lehrer. Es ist eine verbindende Weisheit, die von jedem Mitglied des Kreises ausgeht. Wir haben wöchentliche Treffen, die »Awakin Circles«, eine Verbindung von Erwachen (awake) und Familie (kin), also »Erwachen als Familie«.

Das Format dieser Kreise, das von der Organisation »ServiceSpace« inspiriert wurde, ist sehr einfach: Wir meditieren eine Stunde lang in Stille. In der zweiten Stunde sitzen wir im Kreis und lesen einen spirituellen Text aus verschiedenen Traditionen und tauschen uns darüber aus. Oder wir haben eine Frage und sprechen aus dem Herzen darüber. Dabei benutzen wir eine Methode, die sich »Council« nennt und aus der Tradition der amerikanischen Ureinwohner stammt. Es ist eine Gesprächspraxis, bei der man sehr tief zuhört und nicht aus dem Verstand spricht, sondern aus dem, was in diesem Moment in einem lebendig ist. Durch diese Form des Teilens und Raumhaltens füreinander entsteht eine kollektive Weisheit.

So hat sich eine Gemeinschaft gebildet, in der wir uns gegenseitig unterstützen, zum Beispiel wenn jemand Englisch lernen oder ein Auto leihen will. Es ist in gewisser Weise ein kleines soziales Ökosystem, mit dem wir in der Stadt experimentieren.

Außerdem arbeiten wir zurzeit an einem Projekt, bei dem wir Pilgerreisen in die Türkei, in den Iran und vielleicht auch nach Indien organisieren. Das beruht auch auf meiner Vision, besonders Westler in islamische Länder zu bringen und sie die Spiritualität dieser Länder erfahren zu lassen. Ich glaube, dass Menschen durch den bewussten Besuch heiliger Orte wie Sufi­Schreine, Moscheen und auch Orte in der Natur eine andere From des Verstehens finden können.

Pilger-Kreisgespräch am Grabmal des spirituellen Sufi-Narren Mullah Nasruddin.

e: Im Moment gibt es viele Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland und es gibt starke Meinungen über die politische Situation in beiden Ländern. Wie seht ihr eure Arbeit in diesem politischen Kontext?

AA: Als ich in Deutschland war, traf ich Marians Eltern und die Freunde der Familie. Ihre erste Frage betraf Erdogan und die wiederholten Terroranschläge in Istanbul. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie wir dort leben können. Das zeigte sehr deutlich, dass wir gemeinsam das Narrativ, das in den Medien verbreitet wird, verändern müssen.

Die Beziehung zwischen Marian und mir sehe ich auch als Brücke. Manchmal verstehen wir sie als etwas, das über uns hinausgeht. Es ist nichts Persönliches mehr, sondern eine Gelegenheit für diese zwei Energien von Ost und West, um zusammenzukommen und sich auf einer tieferen Ebene zu verbinden, aus dem Herzen, jenseits von Politik, Wirtschaft und Religion. Was auch immer wir auf verschiedenen Ebenen tun, trägt zur deutsch­türkischen Beziehung bei. Es ist uns nicht so wichtig, ob wir jetzt oder in fünf Jahren ein konkretes Ergebnis sehen, denn durch unsere Gemeinschaftsarbeit haben wir gelernt, uns auf kleine Veränderungen zu konzentrieren. Wenn du dich nur auf einen zu großen Kontext richtest, wirst du daran gehindert, deine Gaben zu teilen, weil dich dein Verstand daran hindert. Du hast so viele Erwartungen und Ängste: Wie kann ich als Einzelner die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland beeinflussen? Stattdessen versuchen wir, mit kleinen Taten zu einem neuen Narrativ beizutragen, indem wir zwischenmenschliche und interkulturelle Nähe und Kooperation stärken.

Author:
Mike Kauschke
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