Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 17, 2017
Diese Ausgabe von evolve haben wir mit Arbeiten des Medienkünstlers Wolf Nkole Helzle gestaltet. Wir sprachen mit ihm über seine Kunst zwischen Stille und Cyberspace.
evolve: Was ist dein inneres Anliegen in deiner künstlerischen Arbeit?
Wolf Nkole Helzle: Bis auf wenige Ausnahmen ist meine künstlerische Arbeit durch Fragen motiviert. Zum Beispiel habe ich bei einer meiner zentralen Arbeiten „Homo universalis“ in den letzten 20 Jahren mehr als 40.000 Menschen in vielen Ländern der Welt fotografiert. Am Anfang lautete meine Frage: „Wie kann ich mir vorstellen, ein 7-Milliardenstel zu sein?“ Im Lauf der Zeit hat sich die Frage dann gewandelt zu: „Wer sind wir?“ Für diese Arbeit habe ich mit Studenten der TU München und Nürnberg (IF-Lab der InterFace AG) eine Software entwickelt, mit der es möglich ist, Tausende von Einzelporträts hauchdünn übereinander zu schichten, so dass jedes einzelne gleichberechtigt in dem daraus entstehenden Gesicht enthalten ist. Und das ergibt EIN Bild des Menschen – zu dem auch ich gehöre. Wenn möglich, zeige ich dazu auch die Einzelgesichter. Mit jedem Foto, das ich mache, erhalte ich eine Information über uns als Mensch. Sozusagen von verschiedenen Variationen vom Gleichen. Das Individuelle und das Kollektive, das Eine und das Viele – „I am We“ so lautet eine Überschrift über meine Arbeiten, und ich entwickle verschiedene Formate, um dieses Thema zu bearbeiten.
evolve: Es geht also darum, Einzelbilder – entweder von Menschen, von einem Weg oder einer Landschaft – übereinander zu schichten, um die Vielheit der Menschen oder auch der Momente einer Landschaft in eines zu fassen?
Wolf Nkole Helzle: Ja, in der Serie „Walks“ ist es in gewisser Weise die Verdichtung von Raum und Zeit. Ich gehe eine Strecke von z. B. fünf Kilometern, bleibe immer wieder stehen, mache ein Foto, gehe weiter. Alle einzelnen Fotos ergeben – wie bei den individuellen Porträts – ein Bild, das einen ganz anderen Eindruck hinterlässt, so als ob die Welt der Zeit entrückt wird.
evolve: Was fasziniert dich daran, diese Orte aus ihrer Konkretheit herauszuholen oder aufzulösen und in einen solch zeitfreien Raum zu setzen?
Wolf Nkole Helzle: Zuerst mal geht es mir dabei um die unglaublich hohe Intensität des Tuns. Das hat viel damit zu tun, dass ich als Person die Dinge in mich aufnehme. Ich reise dazu an Plätze, die mich interessieren und zu denen ich durch die Versunkenheit über die Kamera meinen Weg finde.
Es findet eine Transformierung dessen statt, was man sieht. Im besten Fall empfindet man sich als ein Teil der Natur und lässt sich darauf ein und berichtet davon. Es ist eine Komprimierung, eine Verdichtung, es ist der Versuch, eine Sprache zu finden, was entsteht aus der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung.
Ich habe in den 70er Jahren Malerei studiert, dann war ich 20 Jahre in der Softwareindustrie und bin vor wiederum über 20 Jahren wieder mit den neuen Medien in die Kunst eingestiegen. Und jetzt male ich sozusagen mit der Kamera. Es ist die durch Bewegung einverleibte Erfahrung einer Landschaft, verdichtet in einem Bild. Nach einer Reise gibt es vielleicht 20 oder 30 Motive, von denen dann die gelungensten ausgewählt werden. Ich als Künstler empfinde mich für Bilder verantwortlich. In der ersten Phase arbeite ich als Künstler so gut, wie ich kann. In der zweiten Phase lege ich die Bilder in die Hände der Öffentlichkeit, dort entfachen sie ihre Wirkung, für die ich ebenfalls verantwortlich zeichne, allerdings ein weiterer Aspekt hinzukommt, die Rezeption.
evolve: Deine Bilder entstehen durch die meditative Begegnung mit einem Ort, an dem du viel Zeit verbringst und auf den du dich einlässt. Daher rühren die meditative Wirkung und der Eindruck von Transparenz in deinen Bildern. Man hat das Gefühl, die Bäume und die Landschaft zu sehen, aber gleichzeitig schaut man hindurch. Das gibt auch dem eigenen Bewusstsein eine Weite und ein Aufatmen.
Wolf Nkole Helzle: Die Bilder von den Bäumen sind letztes Jahr auf der Schwäbischen Alp entstanden. Es waren freistehende Bäume und bevor ich anfing zu fotografieren, hatte ich den Impuls, zu jedem Baum zu gehen und zu fragen, ob er damit „einverstanden“ ist, dass ich Bilder von ihm mache. Und teilweise hatte ich das Gefühl, der Baum sagt: „Ja, endlich mal jemand, der mich wahrnimmt.“ Ich ging dann großflächig um den Baum herum und habe bei jedem Schritt ein Foto gemacht. Hinterher bin ich dann wieder zu dem Baum gegangen und habe mich bedankt. Bei diesen Arbeiten ging es weniger um das Verdichten von Raum und Zeit, als darum, dass man den Baum von allen Seiten gleichzeitig sieht. Ich wollte erfahren wie es ist, viele Perspektiven gleichzeitig einzunehmen.
evolve: In der Beschreibung zu diesen Arbeiten über Bäume habe ich folgenden Satz gelesen: „Der Zustand des Nicht-Denkens eröffnet uns neue Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen.“ Was bedeutet für dich dieser Zustand des Nicht-Denkens?
¬ Der Künstler taucht ein in das Mysterium des Lebens, um davon in seiner Handschrift zu berichten. ¬
Wolf Nkole Helzle: Vor 10 Jahren bin ich mit meiner Frau, die Bildhauerin ist, von Stuttgart auf die Schwäbische Alb gezogen. Dort erleben wir eine Stille, die nicht einfach Stille als Abwesenheit von Lärm ist, sondern eine Unabgelenktheit und Nähe zur Natur, die wir als konstruktiv für unsere Arbeit empfinden. Damals habe ich in den ersten Wochen wirklich erkannt, worauf ich mich eingelassen habe. Ich war erst unruhig, und dann habe ich gemerkt, dass mich die Stadt und alles, was ich bis dahin getan habe, von mir selbst und vom Kontakt mit mir selbst abgelenkt hat. Damals habe ich für mich eine Methode des Nicht-Denkens entwickelt, die ich auf Schwäbisch „Bled gugga“ nenne. Das mache ich jetzt seit 10 Jahren jeden Tag morgens mindestens eine halbe Stunde und am Abend nochmal. Indem ich die Welt in der direkten Wahrnehmung erfahre, wächst mir sehr viel zu, das sich direkt auf mein Tun und Lassen auswirkt. Dabei habe ich festgestellt, dass mich das Denken dauernd unterhält und mir erzählt, wie die Welt wohl sei – dabei ist sie aber ganz anders. Sie findet jenseits von Sprache und jenseits von Zeit und Raum statt. Das Leben auf der Alb und diese Zeit der Zurückgezogenheit und Stille haben unter anderem die „Walks“ und die „Trees“ hervorgebracht.
evolve: Du bezeichnest dich als Social Media Artist oder als Medienkünstler und nutzt die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung und der Softwaretechnik in deiner Arbeit. Wie siehst du das Verhältnis zwischen den technologischen Möglichkeiten, Werkzeugen und Prozessen und deiner künstlerischen Arbeit, die ja auch aus der direkten Wahrnehmung und diesem Raum der Stille kommt?
Wolf Nkole Helzle: Ich fände es unerträglich, wenn es im Cyberspace keine Kunst gäbe – oder wenn es uns als Menschen dort nicht mehr gäbe. Viele Menschen schätzen sich selbst nicht oder sind nicht dankbar, Mensch zu sein und dieses Leben leben zu können. Wir geben immer mehr an Maschinen ab, wir binden uns immer mehr an Algorithmen – d. h. an Berechenbarkeiten. Ein Freund, der in Bremen IT unterrichtet und auch Medienkünstler ist, hat mir erzählt, dass das Thema unserer Zeit nicht so sehr die Digitalisierung, sondern die Algorithmisierung ist, also unser Bedürfnis nach Sicherheit, denn ein Algorithmus ist der Versuch, etwas berechenbar zu machen, beobachtbar, unfehlbar. Mit Hilfe von Algorithmen versuchen wir immer mehr, der Unberechenbarkeit des Lebens zu entkommen. Als Künstler schaue ich da anders drauf und mische mich ein, sodass auf den Milliarden von Smartphone-Oberflächen möglichst viel Kunst – d.h. wir selbst – vorkommt.
evolve: Du nutzt in deiner Kunst auch technologische Systeme, die deine Bilder berechnen, z. B. für diese Überlagerungen. Wie nutzt du diese Möglichkeiten und die sozialen Medien so, dass der Algorithmus nicht bestimmend wird?
Wolf Nkole Helzle: Seit einem halben Jahr habe ich ein Projekt, bei dem ich jeden Tag eines meiner Bilder auswähle und auf 30 Social-Media-Plattformen in aller Welt poste – ich nenne es „Today’s Joy“. Menschen sitzen jeden Tag stundenlang vor dem Bildschirm und nehmen Informationen auf, warum soll dort nicht auch ein kleines Bild erscheinen, dass persönlich erlebte Freude in Kleinstform thematisiert und mich nicht nur als Konsumenten sieht oder verdinglichen will? Für mich ist die digitale Lebensumgebung einfach das: eine Lebensumgebung, wie andere Umgebungen auch.
Jeder von uns macht sich ein Bild von der Welt und zieht dann dort ein. Du und ich, wir führen also genau das Leben, das wir bis in das letzte Detail genauso wollen, mit allem, was dazu gehört, denn sonst würden wir es anders machen. Wenn ein Mensch sich selbst nicht mag, dann stellt er eine entsprechende Welt her und lebt in dieser Welt. Doch wenn der Großteil der Menschen ihr Leben und alles, was damit zusammenhängt, wertschätzen, dann entsteht eine andere Welt. Wichtig ist nicht die Wirkung im Außen, sondern die innere Haltung, aus der die Welt dann entsteht. Wenn man daran eine Kleinigkeit ändert, ein kleines Bisschen mehr Wertschätzung hineinbringt, dann verändert sich die Welt, in der wir leben.
evolve: Siehst du deine Kunst als Beitrag, mit medialen Mitteln diese Haltung der Wertschätzung anzusprechen oder zu vermitteln?
Wolf Nkole Helzle: Meine neue Serie „Into the light“ befasst sich mit der Frage: „Wie können wir stoffgeworden unsere Herkunft wahrnehmen?“ Und damit sind wir wieder beim Nicht-Denken, beim In-der-Stille-leben. Beides unterstützt mich dabei hinzuschauen: Wo existiere ich? Woher kommen wir? Warum sind wir da? Das ist der wesentliche Beweggrund, aus dem ich meine Kunst mache. Mein Logo ist ein Schöpflöffel, der aus einer weißen Fläche herausschöpft, er symbolisiert die Schöpfung als solche. Der Künstler kann in das Mysterium des Lebens eintauchen und davon in seiner Handschrift berichten. Das ist eine ewige Transformation: sich immer wieder in das Nicht-Vorhandene, in das Nicht-Greifbare, in das Jenseits von Raum und Zeit und Sprache zu begeben und dann die daraus entstehenden Werke in die Welt zu geben. Aber so, dass sie nicht auf mich deuten, sondern auf das, woher sie kommen.
evolve: Du hast auch die Plattform „I am We“ gegründet, auf der Leute Bilder hochladen können und darüber ins Gespräch kommen oder sich sogar treffen. Siehst du als Medienkünstler den ganzen Prozess, durch den Menschen in diese Partizipation kommen, als Kunstwerk?
Wolf Nkole Helzle: „I AM WE_interactive image“ (www.interactive-image.org) ist ein Netzkunstprojekt, welches von mir in seiner Struktur und Erscheinungsweise angelegt wurde und ganz auf Partizipation ausgelegt ist. Wir feiern gerade das 5-jährige Jubiläum mit 500 Teilnehmern aus 70 Ländern, über 70.000 hochgeladenen Bildern und weit mehr als 240.000 Kommentaren. Es handelt sich um eine Sammlung von Bildertagebüchern, jeden Tag kann man in sein eigenes Tagebuch je ein Bild hochladen. Eine der dahinterstehenden Fragen meinerseits lautet: „Was passiert genau jetzt gleichzeitig auf der Welt?“. Aus den Einzelbildern werden in einer immer sich verändernden Reihenfolge die Profilbilder der Teilnehmer als Mosaikbild berechnet und dargestellt.
So lernt man sich ganz besonders als „Leser“ von Tagebucheinträgen kennen. Daraus entstand von Anfang an auch das Bedürfnis, sich persönlich kennenzulernen, und so trifft sich jedes Jahr eine Gruppe von Teilnehmern in je einem anderen Land, dieses Jahr im Juni in Heiligkreuztal zum Jubiläumstreffen zum Thema Verbundenheit.
evolve: Wie ist deine Sicht auf die sozialen Medien? Siehst du in ihnen weiterhin das Potential für Partizipation und Begegnung? Und vielleicht auch verstärkt durch die Kunst?
Wolf Nkole Helzle: Ich bin kein Gegner der sozialen Medien. Ich sehe, dass wir als Menschheit mit einer unglaublichen Energie diese Geräte entwickeln, herstellen und nutzen. Ein Beispiel: Apple hat in San Francisco eine Entwicklerkonferenz für ca. 50.000 Leute angeboten, die innerhalb von 5 Sekunden ausgebucht war. Es ist ein riesiger Markt, an dem unendlich viele Leute beteiligt sind, mit all ihren Wünschen, Hoffnungen und Träumen. Fast jeder von uns füttert ein solches Gerät mit allen möglichen Inhalten über sich selbst, wir kommunizieren und schauen Inhalte an. Ich frage mich manchmal, was für ein Wunsch dahinterliegt. Ich kenne ihn nicht, aber ich spüre, dass ein Wunsch da ist. Vielleicht der Wunsch, sich auszudrücken, ein kollektives Gedächtnis zu füttern und zu nutzen, ein Teil von etwas Größerem zu sein.
Bei einem Lehrauftrag in China habe ich erfahren, wie die Studenten ihre Smartphones als Arbeitswerkzeug benutzen. Ich habe eine kleine Serie mit ihnen gemacht: wir sind raus in den Hof gegangen, einer von ihnen hat sich in die Mitte gestellt und auf mein Zeichen haben sie alle mit ihren Handys ein Foto von der Person in der Mitte gemacht. Ein paar Minuten später hatte ich sie alle auf meinem Handy. Viele der Studenten sind ständig mit ihren Freunden in Kontakt und nutzen die sozialen Möglichkeiten in einer Welt, in der Familien nicht mehr so nahe zusammenleben. Die meisten der Studenten sehen ihre Eltern ein Mal im Jahr.
Ein Smartphone ist nicht nur ein Telefon, es ist ein Werkzeug des Selbstausdrucks und der Kommunikation. Natürlich gibt es auch negative Auswirkungen wie z. B. das Mobbing oder Abhängigkeit – oder dass andere uns abhängig machen wollen, weil sie an uns verdienen wollen. Aber das liegt nicht an den sozialen Medien, das hat es vorher schon gegeben. In meiner Jugend wurde das Fernsehen verteufelt.
evolve: Welche Weiterentwicklung siehst du für deine Kunst in diesem Spannungsfeld?
Wolf Nkole Helzle: Ein Beispiel: Im Rahmen der „Weltausstellung Reformation“ bin ich gerade in Wittenberg mit einem anderen partizipativen Projekt, das ich dort „Digitale Bilderkollekte“ nenne (www.my-matrix.org). Aus tausenden von Einzelbildern berechne ich ein dreidimensionales Mosaik, welches sich bewegt und somit immer wieder andere Bereiche sichtbar macht. Es ist ein Teilhabe-Projekt, wobei ich Bilder zum Thema Wertschätzung von den Besuchern sammle – und wenn man etwas wertschätzend anschaut, hat man einen ganz anderen Blick darauf. Es kann dieses Smartphone vor mir sein, das zum einen etwas ganz Selbstverständliches ist, das man einmal kauft und dann einfach benutzt. Oder man sieht, was dieser Gegenstand alles für einen tut und wie viele Menschen, so wie wir beide daran beteiligt waren, dass es das überhaupt gibt. Unter welchen Bedingungen wird so etwas hergestellt? Daran sind mit Sicherheit mindestens 250000 Leute beteiligt. Es ist also eine Veränderung der Wahrnehmung und des Sehens, um etwas wertschätzend zu betrachten.
Vorher war ich in Berlin auf dem Kirchentag. Dort gab es intensive Gespräche mit Menschen über dieses Kunstwerk. Und ich wurde angefragt, ob ich mir vorstellen kann, das Projekt vom Kirchentag über den Zeitraum eines Jahres in einer ganzen Region mit der Bevölkerung zu machen, also Bilder zu allem zu sammeln, was da ist, z. B. die Natur oder die Bräuche. Oder mit Schülern, indem sie mit ihrem Handy über einen gewissen Zeitraum Dinge fotografieren, die in ihrem Leben wichtig sind. Am Ende könnte man eine Art Turm bauen, in dem die Arbeit dann langfristig läuft, vielleicht auch von außen sichtbar. Die vielen tausend Bilder bewegen sich und dadurch entsteht ein Verständnis für diese Vielfalt. Gleichzeitig ergibt das zusammen aber auch wieder ein Bild, an dem alle beteiligt sind. Durch dieses Projekt ist es leichter nachzuvollziehen: „Wenn ich etwas mache, kann ich es auch sehen.“ In unserer alltäglichen Welt ist vieles für uns so komplex, dass wir leicht sagen können: „Ich bin so unbedeutend, ich kann sowieso nichts ausrichten.“ Aber das ist nicht so, denn mit allem Tun und Lassen gestalten wir unser Leben und unsere Welt.