By clicking “Accept All Cookies”, you agree to the storing of cookies on your device to enhance site navigation, analyze site usage, and assist in our marketing efforts. View our Privacy Policy for more information.
Wir verbannen den Tod, und doch umgibt er uns, wird von uns in die Welt gebracht. Wie kann ein neues Verhältnis zum Sterben uns selbst neues Leben schenken? Und zu einer Transformation unserer Gesellschaft beitragen, die uns mit den größeren Wirklichkeiten verbindet, von denen wir immer ein Teil sind?
Es war eine Erfahrung, die mich nicht mehr verließ. Im Sommer 1994 saß ich in einem Boot inmitten des Ganges bei Varanasi. Vor mir brannten an den Ufern des Flusses unzählige meterhohe, lodernde und qualmende Scheiterhaufen. Auf ihnen lagen die Körper verstorbener Menschen. Der Qualm und der intensive Geruch verliehen der Szene eine archaische Qualität. Seit 3000 Jahren bringen gläubige Hindus die Leichen ihrer Angehörigen in diese heilige Stadt, um sie dort als Asche dem Fluss zu übergeben. Der Tod war mitten im Leben.
Wie aus einem anderen Universum erschien mir dieser Anblick aus dem kleinen Boot auf dem Ganges – gleichzeitig irritierend und faszinierend. Die Selbstverständlichkeit des Todes als Teil eines ewigen Kommens und Gehens war ewig weit entfernt von meinen europäischen Erfahrungen mit dem Tod.
Der verbannte Tod
Wir wissen, dass wir den Tod so weit wie möglich aus unserer Gesellschaft verbannt haben. Zuletzt war die Covid-19-Pandemie eine Erinnerung daran, wie hilflos wir als Gesellschaft dem Phänomen des Sterbens gegenüberstehen. Viele Maßnahmen waren vielleicht verständlich, aber sie legten doch unseren kulturellen Umgang mit Tod und Sterben offen. Wir waren nur in der Lage, mit technokratischen Maßnahmen auf diese zutiefst existenzielle Situation zu reagieren. Auch darin zeigte sich die Unfähigkeit unserer Gesellschaft, dem Tod zu begegnen. Dabei ist genau diese Unfähigkeit, eine Wirklichkeit jenseits unserer technischen Systeme wahrzunehmen, ein Grund dafür, dass wir unsere Lebensgrundlagen bedrohen. Die ökologische Zerstörung, der Klimawandel mit seinen schon jetzt spürbaren Folgen wie eskalierenden Waldbränden und Taifunen, vernichtet den Lebensraum vieler Pflanzen und Tierarten und auch für uns Menschen. Das endlose Wachstum, das unsere modernen Gesellschaften weiterhin prägt, ist eine tödliche Spirale.
Hinzukommt, dass unsere scheinbar todlose Gesellschaft auch das Mysterium verbannt hat. Der Tod zwingt uns dazu, dem großen Geheimnis, dem großen Unbekannten zu begegnen. Es ist gerade das Ende unseres Lebens, das uns dazu zwingt, uns mit der Frage auseinanderzusetzen, wer wir eigentlich sind und wofür wir leben. Es gibt in unserer offenen Gesellschaft unzählige Antworten auf diese Fragen, aber können wir trotzdem gemeinsam unsere Todesvermeidung überwinden, um uns wieder als Teil des großen Kreislaufs des Lebens zu verstehen?
Eine Geschichte des Todes
In unserer modernen Kultur kommen wir allein ins Leben und verlassen das Leben allein. Das war nicht immer so. In indigenen Gesellschaften waren wir vor allem Teil einer Ahnenreihe, in der das Leben weitergegeben wurde. In diesen Gesellschaften haben wir das Leben von unseren Vorfahren erhalten und geben es an unsere Kinder weiter. In Ritualen und Zeremonien stehen die Ahnen als Ratgeber zur Verfügung, und die traditionellen Lehren der Vorfahren werden treu an zukünftige Vorfahren weitergegeben, unsere Kinder und Enkel. Man ist Teil einer Ahnenreihe innerhalb der größeren Abstammungslinie eines gemeinsamen Volkes. Dieser Ahnenkult lebt noch heute in den Hausaltären vieler chinesischer und japanischer Häuser mit ihren Bildern der Ahnen, aber auch der Enkel, umgeben von Göttern und Bodhisattvas. Bei einigen indigenen Völkern Amerikas muss ein Mörder den Platz und den Namen des Ermordeten im Familienverband einnehmen, um deren Ahnenreihe wieder herzustellen. Diese animistischen Kulturen sahen sich als Teil eines Prozesses, eines großen Werdens und Vergehens.
»Das endlose Wachstum, das unsere modernen Gesellschaften prägt, ist eine tödliche Spirale.«
Unsere abendländische Tradition steht in ihrem Verhältnis zum Tod auf dem Fundament des Alten Ägyptens. Vielleicht wie keine andere Kultur haben die ägyptischen Pyramiden dem Tod, aber eben auch der Transzendenz, ein Denkmal gesetzt. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel gesellschaftliche Arbeit in die Errichtung dieser gigantischen Steindenkmäler geflossen sein muss, kann man erahnen, wie zentral das Reich des Jenseits für die Ägypter gewesen ist. Im Alten Ägypten steht eine andere Vorstellung vom Tod im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nicht die ewig sich fortführende Ahnenreihe des Lebens, sondern die Beziehung zu einer anderen Welt außerhalb der Zeit.
Die abrahamitischen Religionen sind sozusagen die Erben dieser ägyptischen Vorstellung eines Jenseits. In dieser Tradition sind wir doppelte Bürger des Diesseits und Jenseits, und unser Sterben ist auch ein Heimkommen in jene andere Welt. In der ägyptischen Kosmologie entstand eine Wahrnehmung des Unveränderbaren, des Ewigen, des Zeitlosen. Während indigene Kulturen das Heilige vor allem im ewigen Fluss des Lebendigen suchten, entstand hier eine Vorstellung des Heiligen als dem Ursprung allen Lebens. Diese Erfahrungen des Heiligen prägten die Vorstellungen der spirituellen Traditionen über den Tod als Übergang im ewigen Fluss des Lebens oder als Wiedervereinigung mit dem Ursprung allen Seins. Unsere mittelalterlichen Klöster waren Teil dieser Kultur, die im Tod auch eine Heimkehr in den Ursprung sah.
Kierkegaard und die Krankheit zum Tod
Die Moderne hat unser Verhältnis zum Tod völlig verändert. Und es gibt niemanden, der diesen radikalen Wandel früher angesprochen hat als der dänische Philosoph und Begründer des Existenzialismus Sören Kierkegaard. Er lebte Anfang des 19. Jahrhunderts in einer europäischen Gesellschaft, die mit wachsender Geschwindigkeit damit begann, ihre Beziehung zur Transzendenz und zur Dimension des Heiligen aufzugeben. Inspiriert von wissenschaftlichen, ökonomischen und imperialistischen Erfolgen der europäischen Gesellschaften suchten die Menschen in Europa ihr Heil genau in diesen Bereichen: dem wissenschaftlichen Erkennen der Welt, dem wirtschaftlichen Wohlstand, dem imperialen Machtausbau. Kierkegaard sah sich selbst als einen Rufer in der Wüste. Er war bekannt für seine sarkastische Gesellschaftskritik an den Wissenschaftsgläubigen, die die Welt nur auf deterministische Weise wahrnehmen konnten. Genauso ergoss sich sein Spott über die Spießbürger seiner Gesellschaft, die ihr Menschsein im Trivialen ihrer alltäglichen Geschäfte verloren.
Einer seiner zentralen Gedanken war, dass das aufgeklärte, wissenschaftsorientierte und pragmatische Christentum im damaligen Dänemark die Beziehung zum Tod verloren hatte. In seinem Buch »Die Krankheit zum Tod« beschreibt er, wie der moderne Mensch seiner Zeit in seiner neuen Individualität den Tod radikal neu wahrnimmt. In der neuen Betonung unserer von allem anderen getrennten Existenz sind wir dazu verurteilt, am Tod zu verzweifeln. Die einzige Kur gegen diese Krankheit zum Tode ist für Kierkegaard ein existenzieller Sprung. Ein Sprung ins Vertrauen, in Kierkegaards christlicher Sprache unser Vertrauen in Gott. Aber er versteht diesen Aufruf auch als einen absurden Schritt. Denn das Vertrauen ist in nichts anderem als sich selbst begründet. Das ist der berühmte existenzielle Sprung, den er seinen dänischen Mitbürgern zumuten wollte. Sie sind ihm nicht gefolgt. Unsere moderne Gesellschaft hat genau jene Richtung eingeschlagen, die er mit solcher Vehemenz in seiner Zeit an den Pranger gestellt hat. Die Werte der Moderne kristallisieren sich immer mehr um den unaufhörlichen technischen Fortschritt.
Was unsere Gesellschaft bewegt, ist nicht die Lebendigkeit des Lebens. Wir stehen als Getrennte und Vereinzelte dem Strom des Lebens gegenüber. Und wir haben den Bezug zum Heiligen oft völlig verloren. Das Wort selbst erscheint uns fragwürdig. Als Vereinzelte erleben wir uns in einer mehr und mehr technischen Welt, die in sich selbst nicht in der Lage ist, uns Sinn und Bedeutung zu geben. Und dann sind wir auf einmal einer Erfahrung ausgesetzt, in der die Bedeutungslosigkeit unserer materiellen Welt nicht mehr geleugnet werden kann. Diese Leere hat schon Kierkegaard gesehen. Seine Antwort war der Sprung ins Vertrauen.
Ein guter Tod
Es gibt eine wachsende Bewegung, die die Art und Weise unseres Sterbens verändern will. Beispiele dafür sind die Death-Positive-Bewegung, Palliativstationen, Hospize und die Ausbildung von Sterbebegleitern, die Menschen aus dem Leben begleiten.
Wenn ich an einen guten Tod denke, erinnere ich mich an meinen Freund Terry Patten. Terry war ein besonderer Mensch. Er war gegründet in einer lebenslangen tiefen spirituellen Praxis und einem intensiven Engagement für die Welt. Vielleicht war es seine Hingabe an die heilige Dimension der Wirklichkeit, die sein Leben so sehr geprägt hat, verbunden mit einem tiefen Einfühlungsvermögen für Menschen, auch für ihren Schmerz. In seinen letzten Lebensjahren konzentrierte er seine gesamte Arbeit auf das, was er »eine neue Republik des Herzens« nannte, und rief uns auf, Bürger einer Gesellschaft zu werden, die sich der Kultivierung des Herzens verpflichtet fühlt. Aus meinen Gesprächen mit ihm weiß ich, wie wichtig ihm die Unterscheidung zwischen einem sentimentalen Herzen und einem spirituellen Herzen war. Terry war ein spiritueller Aktivist, der die Anerkennung der wirklichen, ungebrochenen Ganzheit mit der Notwendigkeit verband, auf die Krisen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, mit einem spirituellen Herzen zu antworten. Die tödlichen Auswirkungen des modernen Lebens auf unseren Planeten schmerzten ihn tief.
Vor einigen Jahren, an seinem 70. Geburtstag, wurde bei Terry ein seltener, sehr aggressiver Lungenkrebs diagnostiziert, der ihm nur noch wenige Monate zu leben gab. Terry reagierte auf diese Nachricht auf eine sehr ungewöhnliche Weise. Diese extreme Situation wurde für ihn zu einem Anlass für spirituelles und aktivistisches Engagement. Er verband seinen eigenen Tod mit dem Sterben der Arten und Lebensräume auf unserem Planeten. Er schrieb eine Art Abschiedsbrief an viele seiner langjährigen Freunde, ohne den Abschied zu erwähnen, sondern nur die Dankbarkeit und Wertschätzung für die gemeinsame Arbeit. Terry organisierte mit einigen seiner Weggefährten ein gemeinsames Online-Seminar mit dem Titel »Brightening Every Darkness« – Jede Dunkelheit zum Leuchten bringen – und bot seine Seelenkraft als Licht in dunklen Zeiten an. Auch hier wurde sein eigener Tod zu einer Metapher dafür, wie wir auf unserer schönen Erde leben können: ein radikales Vertrauen in das Leben, das in der Liebe, dem Wirklichen, verwurzelt ist und das Sterben als Teil des großen Lebenszyklus einschließt. Sein letztes Seminar hielt er von seinem Krankenhausbett aus.
Terry hatte ein gutes Leben und einen guten Tod. Sein fehlender Widerstand gegen seine Sterblichkeit brachte ein tiefes Feld von Liebe und Dankbarkeit, Vertrauen und Präsenz hervor, das ihn umgab, als er starb. In dieser ultimativen Begegnung mit dem Ende des eigenen Lebens offenbart sich das Potenzial, im Schmerz des Herzens zu leben und sich dem Geheimnis zu öffnen.
Die Kostbarkeit des schlagenden Herzens
Ich erzähle die Geschichte meines Freundes Terry, um auf die Kraft und Möglichkeit eines guten Todes hinzuweisen. Viele, die schon einmal am Bett eines geliebten sterbenden Menschen gesessen haben, wissen, dass ein guter Tod ohne Kampf oder Widerstand ein Leben mit Anmut und Würde beendet. Keiner weiß, was als Nächstes kommt. Das Vertrauen in die große Entfaltung des Lebens, die das Sterben einschließt, macht uns sensibler für die Kostbarkeit des Lebens selbst. Was wäre, wenn unser Handeln aus dieser Erkenntnis heraus entstünde?
Mit dem eigenen Sterben konfrontiert zu sein, verändert unsere Wahrnehmung der Welt. Oft nehmen wir unser Leben ja als eine Geschichte, als unsere eigene Geschichte war, in der wir bemüht sind, das nächste Kapitel aufzuschlagen. Wenn es aber kein weiteres Kapitel gibt, das man aufschlagen kann, dann sieht man das Buch des eigenen Lebens in einer Gesamtheit, die man zuvor vielleicht nicht wahrgenommen hat. Dieses Buch zu schließen, eröffnet auch eine neue Leichtigkeit und Freiheit.
»Der Tod zwingt uns dazu, dem großen Geheimnis, dem großen Unbekannten zu begegnen.«
Angesichts des Todes verliert die eigene Welt viel von ihrer hypnotischen Kraft – all die Dinge, mit denen man sich in seiner Geschichte identifiziert hat. Vielleicht ist das der Grund, warum die vielen kleinen Tode, die wir in unserem Leben erleben, so lebensspendend sind. All das, was sterben darf, macht den Weg für das Neue frei. Wenn etwas nicht mehr repariert werden muss, zeigt es sich in seiner eigenen besonderen Schönheit.
Natürlich ist der Tod ein besonderer Augenblick des Vertrauens. Jeder kleine oder große Tod ist ein Akt des Vertrauens. Wenn wir gezwungen sind loszulassen, dann ist das ein Augenblick der Ungewissheit, der uns mit unserem eigenen Vertrauen konfrontiert – und das gilt für jeden existenziellen Augenblick für uns persönlich, aber genauso für uns als Kultur und Zivilisation.
Als ich für diese Ausgabe von evolve mit dem 97-jährigen Benediktinermönch Bruder David Steindl Rast zu diesem Thema sprechen durfte, traf er eine Unterscheidung, die meinen Blick veränderte. Wenn wir nicht vom Tod, sondern vom Sterben sprechen, dann zeigt sich, wie dieses Sterben immer schon Teil des Lebens war. Sterblichkeit und Geburtlichkeit sind der Atem des Lebens. Beide in ihrer Einheit wahrzunehmen, verändert meinen Blick auf den Tod. Bin ich in der Lage, mich auf diesen Prozess einzulassen? Vielleicht ist das ja der existenzielle Sprung, von dem Kierkegaard spricht. Bei meinem Freund Terry Patten konnte ich die Zärtlichkeit, die leuchtende Verletzlichkeit wahrnehmen, die sich hier zeigt. Wie können wir angesichts der Kostbarkeit des schlagenden Herzens, des Atems und des Lichts, das sich auf einer Wasseroberfläche spielt, angesichts der Kostbarkeit unseres endlichen Lebens, die uns das Sterben bewusst macht, so rücksichtslos mit dem Netz des Lebens umgehen, dessen Teil wir sind?
Damit das Sterben wieder ein Teil des Kreislaufs des Lebens sein kann, bedarf es der Transformation. Können wir dem Leben, dem Kreislauf von Leben und Sterben, der uns selbst mit einschließt, vertrauen?
Kein Augenblick braucht dieses Vertrauen mehr, als der Moment, wenn das eigene Sterben im Raum steht. Aber auch unser Alltag wird verwandelt, wenn wir fähig sind zu sterben, um leben und wachsen zu können. Und es scheint, dass wir auch als Zivilisation die Fähigkeit brauchen, viel von den eigenen manifestierten Grundlagen loszulassen, um dem Leben auf dieser Erde neue Kraft zu geben.
»Mit dem eigenen Sterben konfrontiert zu sein, verändert unsere Wahrnehmung der Welt.«
Author:
Dr. Thomas Steininger
Share this article:
Related Articles:
Wandel aus Verbundenheit
Es wird immer klarer, dass wir nur gemeinsam auf die Herausforderungen der Gegenwart antworten können. Nötig ist eine Weisheit, die aus der Verbundenheit entsteht. Aber wie finden wir Zugang dazu? In Experimenten mit intersubjektiven Feldern, in denen Menschen zusammenkommen, um Fragestellungen miteinander zu bewegen und Entscheidungen zu treffen, wird diese Möglichkeit erforscht. Wir haben sechs Menschen, die sich mit intersubjektiven Feldern beschäftigen, gefragt:In sozialen Feldern scheint sich ein Raum jenseits des Individualismus zu öffnen. Was ist dieser Raum und warum ist er heute relevant?
Der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke beschäftigt sich intensiv mit der Sinnkrise, mit Weisheit und mit der Erneuerung unserer kulturellen Grundlagen aus der Wertschätzung des Heiligen heraus. Dabei sieht er den dialogischen Prozess des Forschens im Dialogos als eine Qualität dieser kulturellen Transformation. Wir sprachen mit ihm über diesen grundlegenden Wandel unseres Denkens und unseres Seins in der Welt.
In der Praxis des Emergent Interbeing wird ein Feld zwischen Menschen lebendig, in dem die Kräfte des Lebens in seiner evolutionären Entfaltung wirken. Je freier wir sind von festgefügter Identität, desto mehr sind wir Ausdruck und Mitgestaltende eines gemeinsamen Werdens.