Transformative Geschichten
Die Filmserie »Shifting Landscapes«
April 11, 2022
Etwas Seltsames geschieht gerade: Dem Empfinden nach entfaltet die Erde eine so nicht erwartete Präsenz. Seit dem Dürresommer 2018 wird bis ins Alltagsbewusstsein hinein spürbar, wie sie auf das Handeln des Menschen reagiert. Machtvoll, verstörend und zerstörend artikuliert sie sich als ein lebendes System, aus dessen massiv geschädigten Fließgleichgewichten heraus eine neue Wirklichkeit entsteht. Zunehmend wird das Narrativ der Moderne, das unendliches Wirtschaftswachstum und die Kontrollierbarkeit aller Lebensvollzüge verheißt, von dieser sich abzeichnenden Katastrophe überlagert. Wobei in den letzten Jahrzehnten ein erwachendes Gespür für die Verwobenheit alles Lebendigen besagtes Narrativ immer mehr ad absurdum geführt hat. Heute ist ein wechselseitiges Miteinander mit der lebendigen Erde auch und gerade wissenschaftlich als reale Möglichkeit begründbar. Doch birgt eine solche Umorientierung auch Herausforderungen.
Schon mit dem für die Umweltbewegung der 1970er-Jahre ikonisch gewordenen Foto vom »blauen Planeten« war die Erde plötzlich auf staunenswerte Weise präsent geworden, wirkte dabei aber wie entrückt. Dann, mit der ökonomischen Globalisierung seit den 90ern, wurde der Globus zur Planungsfläche neoliberaler Gewinnmaximierungsstrategien. Nun hingegen erscheint die Erde in keiner Weise mehr entrückt und auch nicht mehr abstrakt wie ein Globus. In immer wieder erschütternder Unmittelbarkeit zeigt sie sich als ein Gegenüber, das in einer ebenso existenziellen wie zutiefst gestörten Beziehung mit uns steht.
Für diese Verwandlung vom Ding zum Du haben James Lovelock und Lynn Margulis als Pioniere der Naturwissenschaft mit ihrer »Gaia-Hypothese« einst den Namen einer griechischen Göttin entlehnt. Hieran anknüpfend schildert Bruno Latour, Vordenker des Anthropozän-Diskurses, in »Das terrestrische Manifest«, wie auf der Klimakonferenz 2015 in Paris die Erde erstmals von der Bühne der Weltpolitik aus neu wahrnehmbar geworden sei: nicht mehr als bloße Materie, Rohstofflager oder Ressource, sondern als »Wirkkraft« im Rang eines neuen weltpolitischen Akteurs. Fortan seien die Staatschefs genötigt, sich mit dem »Neuen Klimaregime« zu arrangieren. Mit dieser Analyse wurde der Topos Gaia endgültig in die Diskurse von Wissenschaft und Politik wie auch in die zeitgenössische Kunst eingeführt.
¬ IN IMMER WIEDER ERSCHÜTTERNDER UNMITTELBARKEIT ZEIGT SICH DIE ERDE ALS EIN GEGENÜBER. ¬
Ganz anders das Bild von Mutter Erde, in vielfältigen Ausformungen weltweit tradiert und bis heute präsent. Als Pachamama auf dem südamerikanischen Kontinent oder auch bei indigenen Völkern Nordamerikas ist Mutter Erde eine eminent politische, ebenso kämpferische wie spirituelle Kategorie. Bei uns hingegen taucht dieser Topos kaum in politischen Kontexten auf, sondern wirkt primär auf der Gemütsebene, als warmer Gegenpol zur kalten Rationalität der Moderne. Er beinhaltet so etwas wie die Verheißung einer wiederfindbaren großen Harmonie. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn bei den Erdfesten alljährlich im Frühsommer hier und da der Eindruck entstehen kann, eine Rückkehr in magisch-mythische Zeiten umfassender Geborgenheit im Schoß von Mutter Erde sei möglich oder gar das Ziel.
In der Psychologie besteht ein »Komplex« aus unbewussten, mit starken Gefühlen behafteten Vorstellungen und damit einhergehenden Gedanken. Als solcher prägt er unser Verhalten, ohne dass es uns bewusst ist. So gesehen dürfte der Mutter- Erde-Komplex Ausdruck eines tief empfundenen Leidens am allerorts spürbaren Beziehungsverlust und Abgetrenntsein in modernen Gesellschaften sein. Wobei die große Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Geborgenheit nur zu leicht dazu führen kann, Zuflucht in vormodernen und entliehenen Ritualen aus vermeintlich intakten Beziehungswelten zu suchen. Wenn derlei Dynamiken weithin unbewusst bleiben, dann nicht zuletzt, weil, wie es scheint, bis heute kaum eine Forschung sich dieses Komplexes wirksam angenommen hat. Vielleicht ist das, die fehlende Auseinandersetzung, hierzulande noch immer eine Nachwirkung des Missbrauchs, den der Nationalsozialismus in diesem ganzen sozialpsychologischen Feld betrieb.
Mit der westlichen Moderne ist das Geistige flächendeckend zu einer einseitigen, bloß zweckhaften und damit oft toxischen Rationalität geronnen. Von daher stehen namentlich wir in Europa vor der Aufgabe, erstarrtem Geist nicht etwa in esoterische Gefilde auszuweichen, sondern ihm mit lebendigem Geist, mit einem Ringen um Bewusstheit zu begegnen. Wie kann Mutter Erde als Bild für verkörpertes Sein, für dessen schöpferische, bedingungslos freigiebige, aber auch das Sterben umfassende Kraft dazu beitragen? Wir wissen es wohl noch nicht.