Der nächste Schritt

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Kolumne
Published On:

January 24, 2018

Featuring:
Alison Gibbons
Gerhard Höberth
Hilde Weckmann
Prof. Wolfgang Welsch
Diane Musho Hamilton
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Issue 17 / 2017:
|
January 2018
Die Postmoderne und darüber hinaus
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Fünfzig Jahre nach dem Beginn der Postmoderne stellt sich die Frage, worin ein weiterer Schritt in unserer individuellen und kulturellen Entwicklung bestehen könnte. Wir haben fünf Menschen, die über die Qualitäten einer Kultur jenseits der Postmoderne nachdenken, gefragt:

Was kommt nach der Postmoderne?

Diane Hamilton

Sich von einer postmodernen Weltsicht aus weiterzuentwickeln bedeutet, ein Integralist zu werden, zu dessen Eigenschaften Komplexität, Kompetenz, Fürsorge und Verantwortlichkeit zählen. Ein Integralist hat Dogmen, Entweder-oder-Kategorien und Schwarz-weiß-Denken überwunden. Er oder sie ist fähig, subjektive Wahrnehmungen, Gefühle und Fantasie mit harten Fakten und objektiven Wahrheiten zu verbinden, ohne dabei überwältigt oder verwirrt zu sein.

Die Identität des Integralisten wird fluider und kann sich leicht zwischen dem egozentrischen Bedürfnis nach Selbstfürsorge, der ethnozentrischen Loyalität gegenüber dem Wohlergehen unserer Familien, Gruppen und Nationen bewegen. Sie kann aber ebenso die weltzentrischen Belange für Menschheit und Umwelt erfassen sowie die Frage, wie wir angemessen unseren Platz im Universum einnehmen. Wir sind fähig, mit aktuellen komplexen Herausforderungen umzugehen, die Komplexität, umfangreiche Fragestellungen und den Umgang mit extremen Polaritäten betreffen. Wir können innerhalb der Grenzen unserer Konventionen bleiben und gleichzeitig die Wahrheit jenseits jeder Tradition erfahren. 

Am wichtigsten ist, dass ein Integralist den Mut hat, sich im Vertrauen auf das Leben der Veränderung zu stellen, und er die Fähigkeit besitzt, den schwierigsten Problemen zu begegnen. Wir lernen, Wachstum, Veränderung und Unsicherheit zu umarmen. Dies erfordert eine besondere, zeitgemäße Art von Mut, sich der Fülle von Herausforderungen zuzuwenden, sowie das Vertrauen, dass wir über das verfügen, was wir brauchen, um uns vorwärts zu bewegen. 

Diane Hamilton, Zen-Meisterin und Mediatorin, Autorin von »Eine gute Lösung finden«.

Gerhard Höberth

Die Postmoderne war unter anderem eine Reaktion auf die durch die »Großen Erzählungen« ausgelösten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Nicht zufällig begann mit der Postmoderne auch der Aufstieg des Wirtschaftsliberalismus, der an die Stelle der »Großen Erzählungen« das fast schon physikalisch-systemische Reiz-Reaktions-Muster der »unsichtbaren Hand des Marktes« setzt. Was wir heute erkennen müssen ist, dass »keine große Erzählung« auch eine »Große Erzählung« ist, welche jedoch die geistig-kulturellen Sphären zum sozial-darwinistischen Flachland niederreißt.

Was kommt also nach der Postmoderne? Oder besser: Was sollte im Idealfall nach der Postmoderne kommen? Wir müssen die »Großen Erzählungen« wieder zulassen. Aber wir müssen erkennen, dass sie durch uns erschaffen werden. Nur dann sind permanente Korrekturen und Metamorphosen der Ideen möglich. Wir brauchen also Utopien davon, wie wir leben wollen, ohne sie als unverrückbar zu definieren und ohne sie sofort durch markttheoretische Überlegungen wieder zu verwerfen. Kultur kostet: Ideen und Geld. Deshalb ist der Weg des geringsten Widerstandes für das Geld immer eine Wirtschaft ohne Kultur. Wir brauchen eine permanente und rege Diskussion auf breiter Basis über eine globale und wandlungsfähige »Große Erzählung«. Nur dann fallen wir nicht wieder hinter die pluralistische Postmoderne zurück, sondern transzendieren sie zu einer zukunftsfähigen, egalitären Wertegemeinschaft. 

Gerhard Höberth, Illustrator, Autor, Philosoph, Computer- und Videokünstler.

Wolfgang Welsch

Die Postmoderne, wie wir sie kennen, hat sich längst durchgesetzt. Bereits 1990 war erkennbar, dass selbst die Verteidiger der Moderne ihr Hätschelkind mittlerweile mit postmodernen Kategorien buchstabieren: Pluralität, Diversität, Widerspruch, Komplexität etc. Was kann man mehr wollen?

Was nach dieser De-facto-Einlösung der postmodernen Programmatik noch anstand, war ein wirklicher Schritt über die Denkform der Moderne hinaus. Den hatte die Postmoderne, die nur die Aktualform der Moderne war – ich habe sie deshalb als »postmoderne Moderne« bezeichnet – ja noch nicht vollzogen. Die Moderne war zutiefst dualistisch: Der Mensch galt wegen seiner geistigen Natur als ein absolutes Sonderwesen gegenüber dem völlig geistlosen Rest der Welt. Diese Sichtweise bricht in unserer Gegenwart zusammen. Im Gefolge mannigfacher naturwissenschaftlicher Erkenntnisse begreifen wir den Menschen inzwischen als ein Produkt der Evolution, das zu dem anderen Seienden nicht in Gegensatz steht, sondern mit ihm von Grund auf verwandt und verbunden ist. Die ökologische Bewegung, etliche Tierschutzinitiativen und die philosophische Neuformulierung der Mensch-Welt-Verbindung sind Protagonisten dieser neuen Denkweise, die in der Tat ein Denken nach der Postmoderne darstellt. Der Dualismus liegt hinter uns, ein integratives Denken vor uns.

Prof. Dr. Wolfgang Welsch, Philosoph und Autor u. a. von »Mensch und Welt«.

Hilde Weckmann

Die post-postmoderne oder integrale Welle der Entwicklung wird schon an etlichen Stellen sichtbar und von diversen Autoren beschrieben, wie zum Beispiel in »Integrale Ökologie« von Sean Esbjörn-Hagens und Michael Zimmerman, »Deliberately Developmental Organizations« von Robert Kegan und »Re-Inventing Organizations« von Frederic Laloux. Und hier, im Magazin evolve und vielen Zirkeln und Publikationen wird sie ebenso erprobt wie auf Konferenzen und in verschiedenen Organisationen, Unternehmen und Start-Ups in aller Welt. Die jungen Generationen aus den mittel- und nordeuropäischen und nordamerikanischen Mittel- und Oberschichten sind erstmals in der Menschheitsgeschichte weniger traumatisiert und stellen teils ihre persönliche Entfaltung über ihre ökonomischen Ziele. Das eröffnet neue Entwicklungsmöglichkeiten im Sinne eines Einbezugs des Ganzen und jenseits einer Haltung des »Wir gegen die anderen«. Darüber hinaus gibt es ein großes Spektrum von außergewöhnlichen DenkerInnen, die an vielen Stellen ihre vielschichtigen Weltsichten entwickeln, erproben und verbreiten. Dies ist besonders wichtig und macht aktuell Mut in Zeiten, wo an vielen Orten schlichte unterkomplexe Weltsichten und einfache Lösungsvorschläge in schwierigen Kontexten präferiert werden.

Alle Wellen der Entwicklung sind gleichzeitig aktiv und es bringt alle weiter, wenn differenziertere integralere Ansätze die Leitplanken bilden, innerhalb derer Regeln, Normen und Werte entwickelt werden, die bisher weitgehend von den Religionen bestimmt wurden. 

Hilde Weckmann, Unternehmerin in der Naturkostbranche, Gründerin der European Integral Academy.

Alison Gibbons

Zur Blütezeit der Postmoderne bejubelten Feuilletonisten diverse Beschreibungen eines Endes – am prominentesten unter ihnen Francis Fukuyama, der im Nachdenken über die westliche Demokratie das »Ende der Geschichte« ausrief. Gleichzeitig meldeten sich Stimmen von Umweltschützern, die allerdings deutlich weniger Beachtung fanden, etwa Bill McKibben, der warnte, wir seien auch am »Ende der Natur« angelangt. Anders als bei anderen solcher Deklarationen ist die vom Ende der Natur durch nichts zu erschüttern. Seit dem Jahrtausendwechsel erleben wir daher eine Veränderung in der vorherrschenden Gefühlsstruktur: Während die Moderne untersuchte, wie das menschliche Bewusstsein die Welt erfährt, und die Postmoderne den ontologischen Status der Welt hinterfragte, sind wir nunmehr dazu genötigt, über die schrumpfende, gefährdete Qualität unseres Planeten nachzudenken.

Die komplexen Zusammenhänge der Globalisierung haben den Planeten immer kleiner werden lassen, was paradoxerweise zu mehr kulturellem Austausch wie auch zu mehr Konflikten führt. Diese Vernetztheit wird noch verstärkt durch das kollektive Schicksal der Menschheit, falls unser zerstörerischer Umgang mit der Natur anhält. Nach der Postmoderne kommt demnach eine Zeit, in der wir ethische Verantwortung tragen füreinander als Menschen, für den Planeten und für all seine Bewohner. Konfrontiert mit der Möglichkeit unserer eigenen Auslöschung, beschämt über unsere dekadente Gefühllosigkeit gegenüber der Umwelt, dazu unseres eigenen ökologischen Überlebens ungewiss, legen unsere kulturellen Werke Zeugnis davon ab – wie etwa Lance Olsens Roman »Theories of Forgetting«, der beschreibt, wie das Leben der Menschen und das Schicksal des Planeten Erde in ihrer Zerbrechlichkeit miteinander verflochten sind.

Dr. Alison Gibbons ist Dozentin für Zeitgenössische Stilistik an der Sheffield Hallam University und Ko-Herausgeberin des Buches »Metamodernism: History, Affect, and Depth after Postmodernism«.

Author:
evolve
Share this article: