Der Tanz eines neuen Menschseins

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

April 23, 2015

Featuring:
Kristie Simon
Ken Wilber
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Ausgabe 06 / 2015:
|
April 2015
Wir-Räume
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Wie wir über die Gender-Polarität hinausgehen können


Können neue Formen des Zusammenkommens von Frauen und Männern die tief eingeprägten Gendermuster aufbrechen und einen schöpferischen Raum öffnen, in dem wir uns als Menschen neu erfahren und begegnen können?

Wenn ich die Tänzerin Kirstie Simson zusammen mit anderen in dynamischer Bewegung sehe, dann spüre ich eine neue Möglichkeit für Frauen und Männer. Im klassischen Ballett führen uns oft Prinzessinnen mit der Anmut eines Schwans oder dunkel gekleidete Helden die klassische Polarität zwischen Weiblichem und Männlichem vor Augen. Anders bei Simson: Der Wirbel von Begegnung, Fallen, Rollen und Heben folgt nicht den erwarteten Mustern. Tänzerinnen drücken und springen energievoll, Tänzer rollen auf dem Boden und empfangen – oder andersherum, in endlosen Wechseln von Aktion und Reaktion. Ein kraftvoller Impuls bewegt sich von einem Tänzer zum anderen, pulsiert durch den Körper und löst eine Berührung oder eine Bewegung aus. Die Beteiligten erscheinen in diesem spontanen Wechselspiel befreit – einfach und offen. Ich vergesse dabei, dass ich Frauen und Männern zuschaue, und bin überrascht und erstaunt über die ständige Entfaltung von Möglichkeiten zwischen diesen Menschen. Die Bewegung und Spannung zwischen ihnen hat nichts Sexuelles, es ist reine Kraft – nicht im Sinne einer moralischen Reinheit, sondern von ungekünstelt, offen und essenziell.

Ich vergesse, dass ich Frauen und Männern zuschaue, und bin erstaunt über die ständige Entfaltung von Möglichkeiten zwischen diesen Menschen.


Die Mitte bildet Kirstie Simsons Stärke und Präsenz – sie ist eine beeindruckende Erscheinung, fast zwei Meter groß, muskulös, mit großen, ausdrucksstarken Händen. Die London Times bezeichnete sie als „Naturgewalt“ wegen der unbändigen Kraft ihrer Tanz-Perfomances. Sie ist eine der Mitbegründerinnen der Kontaktimprovisation und hat die seltene Fähigkeit, eine neue Wahrnehmung des Möglichen zwischen Menschen entstehen zu lassen – einen neuen „Wir-Raum“, der über die Erwartungen hinausgeht, die wir als Frauen und Männer gewohnt sind.
Das ständig wachsende Interesse an der bewussten Schaffung von Wir-Räumen, die in unserem Menschsein bisher ungekannte Möglichkeiten und Fähigkeiten eröffnen, ist enorm bedeutsam für mich, insbesondere für die Frage unserer Identität als Frauen und Männer. Simson versucht diesen Raum durch Tanz zu öffnen, aber es gibt noch viele andere Experimente mit dem „Intersubjektiven“ – der lebendigen Innenerfahrung in einer Gruppe –, die auch eine neue Beziehung zwischen Frauen und Männern ermöglichen. Durch meine Arbeit habe ich erlebt, dass ein neues Wir das Potenzial hat, die tief eingeprägten Muster zwischen Männern und Frauen zu verändern. Es könnte den Boden bilden, auf dem wir ein neues Menschsein tanzen können.

Unbewusste Neigungen

Jeder von uns ist bewusst oder unbewusst in Wir-Räume eingebettet. Wie uns Ken Wilbers integrale Theorie sagt, hat jede Gesellschaft – oder jede Gruppe von Menschen – ein gemeinsames Inneres, das wir als Kultur bezeichnen können. Diese kulturelle oder intersubjektive Dimension besteht aus der Sprache, den Umgangsformen und den Annahmen über die Realität und wer oder was wir darin sind definieren. Diese Dimension bildet auch die Grundlage unserer Identität – unseres unbewussten, spontanen Ich-Gefühls. Manche bezeichnen die intersubjektive oder kulturelle Dimension als eine Sphäre der Werte, aber für mich ist das eher verwirrend als nützlich. Wenn wir über Werte nachdenken, kommen uns eine ganze Reihe von Aspekten in den Sinn: charakterliche Qualitäten (z. B. Ehrlichkeit), politische Ansichten (z. B. konservativ) oder persönliche Lebensweisen (z. B. Polyamorie). Aber die Werte, die das Intersubjektive formen, sind viel tiefer – sie bilden ein unsichtbares Gerüst, das unsere Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen beeinflusst. In einem modernen westlichen Kontext schafft dieser unsichtbare Rahmen schließlich auch Männer und Frauen, die schließlich glauben, dass sie vom Mars oder von der Venus sind.
Die Tiefe dieser Trennung zeigt sich, wenn sich Frauen auf den Weg zum Mars machen und Männer die Venus erreichen wollen. Im Jahre 2012 entdeckten drei Wissenschaftler der University of North Carolina, der New York University und der University of Utah, dass männliche Führungskräfte in traditionellen Ehen, wo die Frauen zu Hause bleiben, am Arbeitsplatz unbewusst eher feindselig gegenüber Frauen eingestellt sind. Sie sind auch felsenfest überzeugt, dass die Rolle des Mannes darin besteht, seine Frau und die Familie zu ernähren. Auf die Frage, ob ein Mann, der zu Hause eher traditionell eingestellt ist, am Arbeitsplatz Gleichberechtigung annehmen kann, gaben die Wissenschaftler eine klare Antwort: Nein. Aber dieses Problem der unbewussten Annahmen sehen wir auf beiden Seiten. Wiederholte Studien haben gezeigt, dass Mütter, die sich primär um ihre Kinder kümmern, auf dem Spielplatz oder bei Elternaktivitäten an der Schule jene Männer meiden, die in der Familie die Betreuung der Kinder übernehmen. Solche Frauen und die männlichen „Führungskräfte“ sind Gender-Traditionalisten. In einem Kontext, der nicht der Gender-Trennung entspricht, sind sie nicht in der Lage, einen Wir-Raum zu schaffen, der das andere Geschlecht mit einschließt.
Die Einsicht, dass die Gender-Polarität, der zufolge Frauen für die Sorge um Heim und Kind und Männer für den Aufbau der Gesellschaft verantwortlich sind, nicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden können, ist schon ein wichtiger Schritt. Es gibt Männer, deren Frauen arbeiten und die ihre Kolleginnen am Arbeitsplatz unterstützen. Es gibt Männer, die die Betreuung der Kinder übernehmen. Wahrscheinlich wird sich noch viel verändern, wenn die ältere Generation, die stärker an traditionellen Gender-Erwartungen festhält, abnimmt. Laut einer Befragung des Pew Research Center aus dem Jahre 2013 sind die Männer und Frauen der Generation Y näher an einer Lohngleichheit als jede andere Generation vor ihnen. Das stimmt auf den ersten Blick hoffnungsvoll, dass die Geschlechtergleichheit weiter vorangeht. Aber leider liegt der Hauptgrund für die derzeitige Angleichung in Wirklichkeit am Einkommensverlust junger Männer. Frauen der Generation Y sagen häufiger als Männer, dass sie sich mehr auf ihre Karriere konzentrieren als ihre männlichen Altersgenossen – ein Grund könnte die zunehmende Unklarheit der Männer über ihren Platz in der Gesellschaft sein. In den Antworten – und auch schon bei den Fragen – dieser Studie bekommt man den Eindruck, dass Männer und Frauen in einer Art Nullsummenspiel miteinander konkurrieren. In der Tat gehen die jungen Frauen davon aus, dass sie in ihrer Karriere zurückbleiben werden, wenn sie Kinder bekommen, so wie es schon bei den zwei vorangehenden Generationen der Fall war. Solange in der Struktur der Gesellschaft und unseres Selbst eine Trennung der Geschlechter besteht, können Frauen und Männer kaum anders, als im Konflikt miteinander zu stehen. Der intersubjektive Wir-Raum, der durch solch eine Trennung geschaffen wird, hält diese Trennung aufrecht – egal ob Männer oder Frauen im Vorteil zu sein scheinen.

Ein neues Wir

Als mich zum ersten Mal die Begeisterung erfasste, eine Welt zu schaffen, die auf der Gleichberechtigung der Geschlechter basierte, hatte ich keine Ahnung von den Möglichkeiten des Intersubjektiven. Aber selbst als junge Aktivistin in meinen Zwanzigern erkannte ich, dass der Kampf für die gesetzliche Unterstützung einer Gleichberechtigung der Geschlechter – so herausfordernd er auch war (und immer noch ist) – nicht ausreichen würde, um Frauen und Männer in einem neuen Umgang miteinander zu befreien. Es folgte mein Studium der Entwicklungspsychologie, weil ich mich fragte, ob wir unsere Kinder anders erziehen könnten, um eine gleichberechtigte Welt zu schaffen. Aber ich erkannte, dass die Kinder von der Welt geformt wurden, in der sie lebten. So war die Verantwortung wieder bei mir: Wir als Erwachsene, denen die Zukunft am Herzen liegt, tragen die Verantwortung, ein neues Wir zu schaffen, das es der nächsten Generation ermöglicht, in ein neues Menschsein hinein zu wachsen, in dem sie nicht mehr von sich selbst und voneinander getrennt sind. Aber wie?

Durch meine Arbeit habe ich erlebt, dass ein neues Wir das Potenzial hat, die tief eingeprägten Muster zwischen Männern und Frauen zu verändern.


Schließlich folgte ich einer Intuition, die mir sagte, dass ich an einen Ort in mir gehen musste, den ich noch nicht kannte. Deshalb schloss ich mich einer spirituellen Gemeinschaft an, der es in ihrer spirituellen Praxis darum ging zu einem „Höheren Wir“ zu erwachen – ein bewusstes, intersubjektives Feld, das transpersonal und voll von lebendig-kreativer Intelligenz war, die die ganze Gruppe erfüllte. Dieses Teilhaben an einem „höheren Wir“ bedeutete, dass jeder von uns bewusst seine Identität verändern musste: weg von den persönlichen Verteidigungsmechanismen, Ängsten, Wünschen und Gewohnheiten, die uns als Individuen – und Frauen und Männer – formten. Wir saßen zusammen in einem Kreis und unsere tiefste Aufmerksamkeit und Absicht war auf das Ganze zwischen und jenseits dieser speziellen Gruppe gerichtet, von der wir ein Teil waren. Als Frau war ich mit Tendenzen konfrontiert, die ich in mir noch nicht wahrgenommen hatte, es war eine Angst vor dem Loslassen und vor dem Sich-Einlassen auf etwas, das ich noch nicht kannte. An dieser Schwelle zog ich mich instinktiv zurück. Die Männer hingegen konnten sich in dieser Umgebung nicht auf intellektuelle Argumente und abstrakte Begriffe verlassen oder die Gespräche durch Unterbrechungen und zuviel Reden dominieren. Damit sich diese andere Intelligenz zwischen uns zeigen konnte, mussten wir uns selbst öffnen – durch eine unabhängige Entscheidung, die all unsere Aufmerksamkeit und Fürsorge auf den subtilen, lebendigen Prozess richtete, der sich im Raum zwischen uns entfaltete. Diese Entscheidung war Hingabe und aktive Antwort zugleich. Bemerkenswert dabei war, dass der höhere Wir-Raum, den wir so entdeckten, auch die Polaritäten transformierte, die unsere Annahmen über die Wirklichkeit formen. Das Selbst und der Andere, Geist und Körper, Einheit und Verschiedenheit, Passivität und Aktivität, Autonomie und Kommunion: All diese Polaritäten, die den modernen Geist bestimmen, verloren ihre Ausschließlichkeit, ohne dass die wichtigen Unterscheidungen ausgeblendet wurden.
Und wie stand es nun um die Polarität zwischen Männern und Frauen, um maskulin und feminin? Ich kann nur sagen, dass meine Erfahrung in dieser Hinsicht begrenzt, aber kraftvoll war. Wir konnten diese Arbeit nicht weiterführen, aber ich erkannte doch, dass etwas radikal anderes möglich wird, wenn wir unsere Identität in dieser Weise verändern. Diese Möglichkeit tiefer auszuloten, hätte eine bewusste, tiefe und andauernde Hingabe erfordert, um das höhere Wir, das wir in unserer spirituellen Praxis erfuhren, zur Transformation unseres Lebens, unserer Gewohnheiten und unseres Selbst zu nutzen. Aus einer Reihe von Gründen waren wir dazu nicht in der Lage.

Jeder von uns ist bewusst oder unbewusst in Wir-Räume eingebettet.

Tanz jenseits der Trennung

Aber das Potenzial, das ich in diesen Treffen gesehen hatte, ließ mich nicht mehr los. Vor Kurzem lud mich eine enge spirituelle Freundin, die ich einige Jahre nicht gesehen hatte, nach Portugal ein, um mit ihr zusammen ein Retreat für Frauen zu leiten. Im Laufe des Wochenendes leitete ich die Frauen an, sich immer mehr mit dem tiefsten Teil in ihnen zu verbinden, der kein Geschlecht hat. Verankert in diesem weiten Raum zeigte sich immer dynamischer eine andere Möglichkeit des Menschseins als Frauen. Zwischen uns entzündete sich eine große Befreiung: Unser Frausein stand nicht mehr im Fokus unserer Aufmerksamkeit. Dadurch befreite sich eine begeisterte Inspiration und eine Wahrnehmung des Möglichen für die Einzelnen und die Gruppe. Am Ende des Retreats lud meine Freundin die jungen Männer ein, die bei der Organisation des Frauen-Retreats geholfen hatten, an unserem letzten Treffen teilzunehmen. Später sagten sie uns, dass sie mit einem Gefühl der Angst hereingekommen waren – oft war zuvor in solchen Frauengruppen das Gefühl der Trennung zwischen Frauen und Männern nur noch größer geworden. Aber sobald sie diesen Wir-Raum betraten, konnten sie in sich etwas loslassen. Ein Feld des Nichtgetrenntseins und des tiefen Interesses ergriff die Gruppe, die nun aus Frauen und Männern bestand. Die Männer sagten, dass sie noch nie eine solche Abwesenheit von Grenzen zwischen Männern und Frauen erfahren hatten. Die Tür zu einer neuen Welt öffnete sich einen Spalt weit.
Für mich bedeutet dieser Spalt alles. Wie können wir ihn vergrößern? Momentan erscheinen die Dynamiken dieser alten Gendertrennung so destruktiv. Zu viele junge Männer wirken verloren und verwirrt darüber, was junge Frauen wollen und fühlen sich überflüssig. Junge Frauen sind selbstbewusst, aber zu oft nehmen sie sich unbewusst zurück, weil sie perfekt erscheinen wollen oder sich auf ihre Attraktivität verlassen, aber dabei ihre eigene Würde aufs Spiel setzen. Offensichtlich sind dies die gegenwärtigen Variationen tief eingeprägter Gender-Muster: Er wird dadurch motiviert, dass er von ihr gebraucht und wertgeschätzt wird; sie zieht ihre Motivation aus der Anerkennung anderer.
Durch das Erwachen zu einem höheren Wir können wir eine andere Motivation entdecken, die uns vereint statt trennt. Wir können die Erwartungen außer acht lassen und die Freude und Befreiung erfahren, miteinander einen neuen Tanz des Menschseins zu schaffen.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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