Dialogos als heilige Kraft

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Interview
Published On:

July 17, 2023

Featuring:
John Vervaeke
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Issue:
Ausgabe 39 / 2023
|
July 2023
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Antworten auf die Sinnkrise

»Die Krise der Welt ist eine Sinnkrise«, sagt der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke. Sinn im Leben zu finden bedeutet, auch einen neuen Bezug zum Heiligen zu finden. Die neuen Praxisformen des Heiligen, die gerade entstehen, sind so auch die Grundlage einer neuen Kultur.

evolve: Gibt es einen Weg, das Heilige in die offene Gesellschaft zu integrieren?

John Vervaeke: Ein guter Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist das Adjektiv, das du in dem Ausdruck »offene Gesellschaft« verwendet hast. Beim Begriff der Offenheit und ihrem Verhältnis zum Heiligen beziehe ich mich auf das lateinische Wort inventio, zu dem das Verb invenire heißt, was so viel bedeutet wie »entdecken«, aber auch »ermöglichen«. Die inventio oder re-inventio des Heiligen unterscheidet sich von den beiden Versuchen, wie wir das Heilige bisher zu verstehen suchten.

Bei dem einen handelt es sich um das Gegenteil von Offenheit, nämlich eine Vorstellung von Abgeschlossenheit, von Vollendung, von Vollkommenheit. Diese Sicht auf das Heilige ist zutiefst konservativ. Man will dabei alles vermeiden, was sich von der Vollendung, der Abgeschlossenheit und Vollkommenheit entfernt. Dann sieht man die Dinge eher als Abfall von der Vollkommenheit und die Beziehung zum Heiligen bedeutet eine Rückkehr. Im Herzen des Fundamentalismus herrscht Nostalgie; wir versuchen zu der Vollkommenheit zurückzukehren, aus der wir herausgefallen sind.

Den entgegengesetzten Begriff des Heiligen, der ein bestimmtes Konzept von Offenheit betont, hat uns das Projekt der Moderne geschenkt, die ein Kind der Aufklärung ist. Es ist die Vorstellung von Offenheit als Fortschritt. Das ist ein Prozess, den wir nicht zum Abschluss bringen, wir bewegen uns ständig weiter. Und doch gibt es eine geheime Affinität zwischen diesem Begriff des Heiligen und dem Nostalgischen. Wir sprechen zwar davon, dass die Zukunft offen ist, sehen sie aber doch in einem endgültigen Rahmen. Wir sehen sie wie das perfekte Abbild davon, wie wir uns perfekt durch die Zukunft bewegen. Diese Vorstellung ist natürlich eine Utopie. Es gibt einen Begriff des Heiligen, der seinem Wesen nach utopisch ist. Die beiden großen bluttriefenden Ideologien des 20. Jahrhunderts, Kommunismus und Nationalsozialismus, gründeten in utopischen Visionen. Bei beiden handelt es sich um ein grundlegendes Missverständnis des Heiligen. Die Frage lautet also: Wie gelingt es uns, einen neuen Begriff von Offenheit und von Heiligkeit zu gewinnen, der beides zusammenführt, ohne uns in die Nostalgie des Fundamentalismus oder aber in den Totalitarismus der Utopie abstürzen zu lassen?

»Sinn ist also von Anfang an auf Beziehung angelegt.«

Ich habe einen Vorschlag, wie man das Heilige und die Offenheit verstehen könnte. Er speist sich aus einem dialogischen Verständnis des Heiligen.

Geteilte Erkenntnisfindung

e: Weshalb stellst du das dialogische Verständnis des Heiligen ins Zentrum?

JV: Das Dialogische ist ein Weg, wie wir Offenheit so bewirken können, dass wir uns in einer rechten Beziehung zum Heiligen befinden. Offenheit stellt uns einen Weg zur Verfügung, in der rechten Beziehung zum Heiligen zu stehen, und das Heilige gibt uns die Tiefe, in der die Lebensfähigkeit und die Tugend der Offenheit gründen.

e: Das Wort religio bedeutet wieder verbinden, und Verbindung ist ja nichts anderes als Beziehung, und der Dialog ist eine Möglichkeit dazu, in Beziehung zu sein.

JV: Ja, religio als Verbundenheit rückt wieder in den Vordergrund in der derzeit stattfindenden Neubewertung des Heiligen als Sinntiefe. Der Sinn, von dem wir hier sprechen, ist jedoch nicht der »Sinn des Lebens«, denn das wäre wieder eine abgeschlossene, vollständige, vollkommene Sache. Wir sprechen vom »Sinn im Leben«. Das ist religio, das heißt, in rechter Beziehung zu stehen. Es heißt, innerlich zu leben, eine tiefe, fundamentale Erfahrung der Verbindung mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der Welt zu machen. Das gibt Sinn im Leben.

Sinn ist also von Anfang an auf Beziehung angelegt. Und er ist von Anfang an auf Dialog ausgelegt, denn Beziehungen sind ständig gefährdet. Der Prozess der Selbstorganisation, der sie ermöglicht, macht sie anfällig für Selbsttäuschung, für Schwachsinn, für Trennung. Deshalb kannst du mir helfen, mich selbst zu trans­zendieren, und ich kann dir helfen, dich zu transzendieren, so dass wir beide, du und ich, besser einen Sinn finden können, der sich im Dialog einstellt.

Wenn wir Sinn als dynamische Verbindung verstehen, die ständig der Korrektur bedarf, haben wir eine dialogische Offenheit in den Prozess der Verbundenheit aufgenommen, die für den Sinn im Leben entscheidend ist. Wenn du sie in diesen dialogischen Prozess einbringst, erhältst du Sinn nicht als statische Verbindung. In diesem Prozess ermögliche ich es dir, dich zu öffnen, und du ermöglichst mir, mich zu öffnen. Es ist also ein wechselseitiges Sich-Öffnen, das heißt: Liebe, die uns die Unerschöpflichkeit des Sinns erschließt, der uns verfügbar ist. Das ist mein Entwurf für ein neues Modell des Heiligen, eng verknüpft mit Offenheit und Dialog.

Wohnen in der Tiefe

e: Du benutzt für diese Form der Beziehung manchmal auch das Wort Beheimatung. Warum?

JV: Im Englischen gibt es den Ausdruck »homing in on«, das heißt, immer wieder die rechte Beziehung zu finden und sich auf die rechte Beziehung zuzubewegen. Wir kommen zwar nicht in die ­»Heimat« im Sinn eines permanenten Aufenthaltsortes, wir kommen aber immer wieder nach Hause – zueinander und in die Realität – auf eine Weise, die meines Erachtens durch das Wort »wohnen« ganz gut erfasst wird. Wir beginnen beieinander zu wohnen, wie Heidegger es formuliert hat. Es geht also nicht um einen bestimmten Ort, an dem man zur Ruhe kommt. Dieses »Wohnen« heißt, in die rechte Beziehung mit der Tiefe zu kommen und immer wieder darauf abzuzielen.

Das Gespräch führte Thomas Steininger für die Ausgabe 35/2022 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org

Author:
Dr. Thomas Steininger
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