Über die Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Begegnung von spiritueller Praxis und moderner Unternehmenskultur.
Schon seit einiger Zeit ist das Thema Achtsamkeit ein Dauerbrenner in Mainstream-Magazinen. Aber die jüngste Cover-Story des Time Magazine, auf dem die „Achtsamkeitsrevolution“ ausgerufen wurde, ist wohl ein Höhepunkt dieser Entwicklung, die vor 35 Jahren bescheiden begann. Damals entwickelte Jon Kabat-Zinn seine Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, die buddhistische Meditationsmethoden mit psychologischen Übungen verbindet. Seitdem hat diese Methode und in ihrem Fahrwasser eine Reihe spezialisierter Anwendungen von Achtsamkeit einen überraschenden Siegeszug angetreten. Achtsamkeit wurde nicht nur zu einem äußerst erfolgreichen therapeutischen Mittel bei psychischen Problemen wie Burnout oder Depression. Meditation hilft inzwischen auch Kindern mit Aufmerksamkeitsdefiziten und Angststörungen, wieder innere Ausgeglichenheit zu erfahren. Kriegsveteranen finden Wege, besser mit ihren traumatischen Erinnerungen umzugehen. Spitzensportler steigern ihre Leistungen durch Meditation. Und Manager kommen so besser mit den Anforderungen ihres Alltags zurecht. Die heilsamen Effekte innerer Stille konnten auch schon wissenschaftlich nachgewiesen werden und haben viele Menschen in unseren gehetzten Gesellschaften die Kraft der Achtsamkeit entdecken lassen. Aber warum sieht sich Time nun dazu veranlasst, eine Revolution auszurufen?
Eine Antwort gibt Otto Scharmer, der einen „Tipping Point“, einen Wendepunkt beim Interesse an Achtsamkeit kommen sieht. Er berichtete vom diesjährigen World Economic Forum in Davos, dass innere Sammlung dort ein „Hot Topic“ war: „Achtsamkeitsübungen wie Meditation werden nun in Technologie-Unternehmen wie Google und Twitter, in traditionellen Unternehmen aus dem Auto- und Energiesektor, in Staatsbetrieben in China, in UN-Organisationen, Regierungen und der Weltbank genutzt.“ Er zitiert Loic Le Meur, einen Technologie-Unternehmer aus dem Silicon Valley: „Es ist schon witzig, alle Leute, die ich kenne, haben mit Meditation angefangen. Im Valley gibt es einen richtigen sozialen Druck, damit zu beginnen. Seit sechs Monaten meditiere auch ich jeden Tag.“
Achtsamkeit hat ihren Weg in die Kultur von Unternehmen und Organisationen gefunden, weil ihre Effekte es nachweislich ermöglichen, mit Stress und möglichen Burnout-Auslösern besser umzugehen. Dabei ist in den Hintergrund gerückt, dass Achtsamkeitsübungen in den spirituellen Traditionen, in denen sie entstanden sind, im Kontext einer ethischen und philosophischen Orientierung stehen. Unter diesen Vorzeichen war es immer auch ihr Anliegen, Selbstbezüglichkeit zu überwinden – also Achtsamkeit nicht allein für sich selbst zu kultivieren, sondern als Gestaltungsfaktor in der Welt zum Ausdruck zu bringen. Was passiert aber, wenn Meditation nur als Technik des Selbstmanagements verwendet wird?
„Im Silicon Valley gibt es einen richtigen sozialen Druck, mit Meditation zu beginnen.“
Loic Le Meur
Ein Zwischenfall im Februar bei der von Google veranstalteten Konferenz „Wisdom 2.0“, bei der es um Achtsamkeitskultur im Unternehmen ging (eine Perspektive, die Google mit dem Projekt „Search Inside Yourself“ vorantreibt) stimmt in diesem Zusammenhang nachdenklich. Während eines Vortrages betraten Aktivisten die Bühne, um gegen die Wohnungsnot in San Francisco zu protestieren, denn Wohnraum in der Bay Area ist fast nur noch für die sehr gut verdienenden Mitarbeiter im Silicon Valley bezahlbar. Die Aktivisten kritisierten die ihrer Ansicht nach mangelnde soziale Verantwortlichkeit von Google und wollten auf die Diskrepanz zwischen dieser „Unachtsamkeit“ und dem großangelegten Achtsamkeitsprogramm hinweisen. Während Sicherheitspersonal die Aktivisten nach draußen geleitete, wurde das Publikum aufgefordert, den Vorfall achtsam wahrzunehmen: „Wie ist es, in einer Konfliktsituation mit Menschen zu sein, die ein aufrichtiges Anliegen vertreten, das nicht dem entspricht, was wir selbst denken“, hieß es. In der Blogosphäre zog dieser „Zwischenfall“ zum Teil harsche Kritik nach sich: „Das ist keine wirkliche Achtsamkeit, das ist selektive Wahrnehmung, optimiert zum eigenen Vergnügen“, äußerte etwa die Bloggerin Katie Loncke von der „Buddhist Peace Fellowship“.
Diese Konfrontation zeigt, welche neuen Herausforderungen sich ergeben, wenn eine spirituelle Übung wie Meditation auf moderne Unternehmensoptimierung und individualistischen Zeitgeist trifft – und im Kontext der hier bestehenden Absichten praktiziert wird, ohne dass diese reflektiert würden. Andererseits: Regelmäßige Achtsamkeitspraxis kann das Bewusstsein weiten und so dazu beitragen, dass Menschen und ihre Absichten sich verändern. Vielleicht steht die Business-Welt in diesem Sinne tatsächlich am Beginn einer Achtsamkeitsrevolution – die künftig dann auch der spirituellen Dimension des Menschseins mehr Raum und Ausdruck geben kann, wenn sie sich ihres Kontextes bewusster wird?