Die Entwicklung der Werte

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Kolumne
Published On:

April 11, 2022

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Ausgabe 34 / 2022
|
April 2022
Bewusste Netzwerke
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Lassen Sie uns mit einer Frage beginnen: »Was sind gute Werte?« Woher wissen Sie, ob die Werte, die Ihnen besonders am Herzen liegen, angemessen sind? Woher wissen Sie, ob sie wirksam sind, ob sie wahr sind, ob sie den wirklichen Problemen in der Welt gerecht werden? Sind manche Werte vielleicht sogar besser als andere?

Hier gibt es eine Denkweise, die meiner Meinung nach fruchtbar sein könnte. Ich glaube, dass einige Werte bestimmten Gesellschaften oder Zeiträumen entsprechen. Und ich bin der Auffassung, dass einige Werte den Anforderungen dieser Gesellschaften und Zeiträume – und ihren Lebensbedingungen – gerecht werden. Das ist der Grund, warum sie sich überhaupt entwickelt haben.

Man kann drei Gruppen von Werten unterscheiden, die in der Reihenfolge ihrer Entstehung von entscheidender Bedeutung sind: moderne Werte, postmoderne Werte und metamoderne Werte. Mein zentrales Argument lautet, dass postmoderne Werte aus dem Kern oder Zentrum der modernen Werte hervorgehen und dass metamoderne Werte aus dem Kern oder Zentrum der postmodernen Werte hervorgehen.

Metamoderne Werte sind in gewisser Weise modern und postmodern zugleich. Das ist das metamoderne Wertesystem: Man kombiniert die Wahrhaftigkeit des modernen Lebens mit einer sehr gesunden Dosis kritischer Ironie des postmodernen Geistes.

¬ WIE LÖSEN WIR DIE ZENTRALEN FRAGEN DER MODERNEN GESELLSCHAFT? ¬

Das metamoderne Denken schätzt sowohl den Fortschritt als auch die Kritik. Das zentrale Thema ist hierbei das »Sowohl-als-auch«. Die besten Sowohl-als-auch-Varianten des Lebens zu finden, wird selbst zu einem metamodernen Wert. Zumindest muss man beiden Seiten des Arguments eine faire Chance einräumen. Metamoderne Menschen sind bestrebt, ihren Verstand so zu erweitern, dass sie das Bestmögliche aus beiden Welten herausholen: Sowohl-als-auch – Oszillation zwischen zwei Polen oder Überlagerung zweier Potenziale.

Ein zentrales Anliegen der Metamoderne ist die Entfaltung des Menschen, sein persönliches inneres Wachstum über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg. Moderne Werte tauchen an einem bestimmten Punkt in der Geschichte auf. Dann werden sie stärker, sie verbreiten sich in der Welt, übernehmen ganze politische Systeme und gebären schließlich postmoderne Werte. Oft sind es relativ privilegierte Menschen innerhalb der modernen Gesellschaften, die die postmodernen Werte akzeptieren, aufnehmen und verstehen können. Und wenn die postmodernen Werte erst einmal gewachsen sind, viele Veränderungen durchlaufen haben und sich totgelaufen haben, bringen sie metamoderne Werte hervor.

Menschen, die metamoderne Werte verinnerlicht haben, begreifen diese Abfolge. Sie verstehen, dass es im Kern des Menschseins eine Entwicklungssequenz gibt. Unsere Gesellschaft entwickelt sich über Entwicklungsstufen. Und es gibt ­eine Richtung für diese Stufen. Der Mensch und seine Werte, seine Psychologie, seine Persönlichkeit entwickeln sich ebenfalls über Entwicklungsstufen.

Und hier kommt der entscheidende Punkt: Wenn sich die Gesellschaft schneller als wir als Menschen entwickelt, dann werden wir in einer Gesellschaft leben, die nicht mit den Werten übereinstimmt, die uns wichtig sind. Wir werden nicht in der Lage sein, die zentralen Fragen der spätmodernen globalen Gesellschaft zu lösen. Und es wird uns niemals gelingen, die nächste historische Etappe, sagen wir eine postindustrielle, digitalisierte, globale Gesellschaft, sicher zu erreichen.

Die postmoderne Kritik verlangt zu viel von den Menschen. Sie verlangt vom modernen Geist, jemand zu sein, der er nicht ist. Sie erkennt nicht den Entwicklungsaspekt, nämlich dass die meisten Menschen keine postmodernen Werte verinnerlicht haben, weil sie es einfach nicht können. Sie können die inneren Anforderungen, die dieses Wertesystem stellt, nicht erfüllen.

Wie also lösen wir die zentralen Fragen der modernen Gesellschaft? Ich denke so: Nur wenn die Menschen über die modernen Werte hinauswachsen, können wir ­eine nachhaltige Welt, eine gleichberechtigte und faire Wirtschaft schaffen und die Leere in der Seele füllen, die die moderne Gesellschaft bei so vielen hinterlässt.

Die postmoderne Kritik geht in die richtige Richtung, aber sie zeigt uns keinen Weg zum Wachstum auf. Bei metamodernen Werten geht es darum, die innere Entfaltung in den Mittelpunkt der Gestaltung der Gesellschaft zu stellen. Das ist unsere Utopie: eine Gesellschaft, die so gestaltet ist, dass sie jedem von uns hilft, als menschliches Wesen zu wachsen. Von innen nach außen – damit wir der Komplexität der Welt gerecht werden können.

Author:
Daniel Görtz
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