Perspektiven einer immanenten Spiritualität
evolve: Als spirituelle Lehrerin vermittelst du eine lebensnahe Spiritualität, der es auch darum geht, in der Welt zu wirken und sie zu verändern. In welchem Verhältnis stehen für dich die spirituelle Praxis und die damit verbundene Erfahrung zu unserem konkreten In-der-Welt-Sein?
Annette Kaiser: Für mich ist besonders wichtig, dem immanenten Prinzip der Spiritualität mehr Raum zu geben. In der Sufi-Tradition ist die Liebe die Grundkraft, die das ganze Universum hervorbringt – eine Liebe für alles, was ist und alles, was wird. Liebe drängt immer nach Einheit, das sehen wir zum Beispiel, wenn wir unseren Körper betrachten: ein wahres Wunderwerk, das die Wissenschaft noch lange nicht wirklich versteht. Der Sinusknoten im Herzen besteht zum Beispiel aus 10.000 Zellen, die im Gleichklang den elektromagnetischen Rhythmus angeben. Und doch ist jede Zelle einzigartig. Das Zusammenspiel dieser Zellen, der Nerven, der Blutbahn, des Gehirns, des Bauches ist ein wirkliches Wunder. Darin wirkt für mich dieses immanente Prinzip des Lebens. Das Leben bewirkt, dass das Organ Auge sehen kann. Das Organ selbst kann nicht sehen, es braucht das Leben dazu.
Leben, in seiner spirituellen Tiefe verstanden, ist ein immanenter Drang im Menschen. Wenn wir uns dem Moment hingeben, dann wird in uns ein Drang spürbar, der Teil eines Größeren werden möchte. Die Antriebsfeder ist die Evolution, die durch die Liebe bewegt wird. Es ist das Eros-Prinzip, ein innerer Drang, der Zauber der Anziehung, der uns vorantreibt zu einer integrierenden Vereinigung. In dieser Vereinigung öffnen wir uns dem größeren Wir der Menschheit. Das ist der Kern einer Welt-Spiritualität.
e: Du sprichst von einer inneren Haltung, in der wir uns in unserem Bewusstsein mit der Welt als Ganzes verbinden können.
AK: Ja, unser Mitgefühl als empfindender Aspekt unseres Gewahrseins kann sich ständig erweitern. Wenn wir präsent sind, und dieser fühlenden Komponente Aufmerksamkeit schenken, wie weit gehen wir in unserer mitfühlenden Umarmung? Machen wir einen Unterschied, ob mein Kind krank ist oder das Nachbarkind? Wo setzen wir die Grenzen? Es ist hoch interessant, in welchem Zusammenhang unser Mitgefühl schrumpft, und wo es sich wirklich öffnet. Und wo dieses Empfinden die Weite hat, um wirklich die gesamte Menschheit zu umfassen. Das ist für mich eine ganz wichtige Frage gerade in der heutigen Zeit, ob wir als einzelne Menschen immer mehr die ganze Menschheit fühlen, denkend, handelnd umfassen können.
Liebe drängt immer nach Einheit.
Ich schaue mir häufig die Erde als Ganzes an, diese Bilder, die vom Mond aus gemacht wurden, sind so wunderschön. Wir haben eine Meditation entwickelt, bei der wir jeden Tag drei Minuten der Welt schenken, wobei wir sie ganz bewusst visualisieren und schauen, wo es Herzenslicht braucht und lassen es dort auf die Erde strahlen. Und wenn du das täglich praktizierst, vertieft sich deine Perspektive. Dein bewusstes Sein, dein Herz weitet sich, in einer Präsenz, die die ganze Erde umfasst.
e: Welche inneren Qualitäten können wir entwickeln, um unser Mitfühlen in dieser Weise zu erweitern?
AK: Wir brauchen zuallererst Bewusstheit oder Gewahrsein, das war immer die Grundlage einer spirituellen Vertiefung. Gewahrsein ist eine klare Unterscheidungskraft, eine neutrale Beobachtungsgabe, die nichts will außer erkennen. Je mehr wir aus der Bewusstheit heraus lernen, desto feiner werden der Geist und das Denken. Die Schärfe nimmt zu – aber auch eine Leichtigkeit des Erkennens. Es ist ein Denken aus einer Art Freiheit heraus, in der das Denken geschieht. Dadurch wird das Denken viel präziser.
Wie weit gehen wir in unserer mitfühlenden Umarmung?
Aber in unserer Kultur ist das Geistige oft auch etwas spröde. Deshalb kommt für mich das fühlende Prinzip hinzu. In der Erfahrung des Gewahrseins wird dieses Fühlen diamantklar. Das fühlende Prinzip steht mit dem Herzen und mit dem Mitgefühl in Verbindung. Durch dieses fühlende Element entwickelt sich im Gewahrsein auch eine Intuition, ein Wissen, das jenseits des Denkens ist. Große Wissenschaftler haben wichtige Erfindungen oft erst intuitiv erfasst. Diese Präsenz, dieses wache Da-Sein ermöglicht uns, den Raum des Bewusstseins intuitiv zu erfassen. Denken, Fühlen, Intuition sind für mich verschiedene Ausdrucksformen von Geist, die wir ständig verfeinern können.
e: Wie können wir in unserer konkreten menschlichen Begegnung diese innere Verfeinerung stärken?
AK: Es braucht Präsenz, das Gewahrsein in diesem Augenblick, in dem ich ganz gegenwärtig und offen bin für Begegnung. Das ist eine Wahrnehmungsebene, die die Verschiedenheit respektiert. Aber tiefer verwurzelt bin ich auch gleichzeitig in dem, was vor jeglicher Verschiedenheit ist, nämlich das ungetrennte Sein jetzt.
Es gibt eine ganz einfache Übung: Ich lasse zwei Menschen sich vis-a-vis setzen und bitte sie, den anderen Menschen zu beschreiben. Dabei werden oft äußere Merkmale genannt, wie dunkle Haare, blaue Augen und so weiter. Dann unterbreche ich und sage, dass sie nun mit dem Herzen fühlen sollen: Schaut diesen Menschen einmal auf eine andere Weise an, schaut mit dem Herzen. Jedes Mal sehe ich dann, dass plötzlich ein Zauber zwischen den beiden Menschen entsteht. Die Angst, bewertet zu werden oder nicht gesehen zu werden, fällt weg. In der Begegnung wird etwas frei, so dass eine tiefere Ebene der Verbundenheit sprechen kann, auf der ein All-Eins-Sein erfahrbar wird. Da wird es lebendig.
e: Die gemeinsame Lebendigkeit übersteigt dann auch diesen persönlichen Rahmen.
AK: Ja, denn der persönliche Rahmen wird irgendwann auch uninteressant. Erst wenn der Rahmen größer wird, kann die Bewusstheit, die der Mensch als einzigartige Gabe zum Werden beitragen kann, aufleuchten. Solange wir zu stark im personalen Bereich gefangen sind, kommen wir nicht in die Größe, die wirklich gemeint ist.