Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
October 24, 2022
Als Philosoph, Musiker, Künstler und Kenner des frühen Buddhismus spürt Stephen Asma in verschiedenen Bereichen der Kraft unseres Vorstellungsvermögens nach. Und er beschreibt eine Evolution der Imagination, die er für die wichtigste Fähigkeit unseres Geistes hält.
evolve: Wie sehen Sie die Entwicklung der Vorstellungskraft, und wie kann sie sich in Zukunft weiterentwickeln?
Stephen Asma: Ich glaube, wir befinden uns an einem seltsamen Punkt in der Entwicklung der kognitiven Psychologie und der Philosophie des Geistes, die die Vorstellungskraft seit etwa 150 Jahren ignorieren. Das ist eigenartig, weil sie ein so entscheidendes Element des Geistes ist. In meiner eigenen Arbeit versuche ich daher, unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Imagination zu lenken. Die Psychologie hat die Vorstellungskraft außer Acht gelassen und den Weg des Behaviorismus und der Konditionierung eingeschlagen. Und als wir begannen, wieder über den Geist nachzudenken, landeten wir bei einer Computermetapher, dem Computational Mind, einem rechnenden Geist. Fachleute in der akademischen Welt sprechen heute über den Geist als eine Kombination aus Berechnung und/oder Konditionierung. Was fehlt, ist der Kern des Geistes, nämlich die Vorstellungskraft.
Ich habe Philosophie und Biologie studiert und bin im Grunde meines Herzens Darwinist. So begann ich, über die Vorstellungskraft aus einem evolutionären Blickwinkel nachzudenken. Wenn man sich die Leute anschaut, die über die Evolution des Geistes nachdenken, neigen sie dazu, über die Entwicklung der Sprache zu reflektieren. Wir wissen aus der Evolutionsforschung, dass die Evolution der Sprache nach verschiedenen Schätzungen etwa 200.000 Jahre alt ist oder auch erst vor etwa 50.000 Jahren einsetzte. Mir fiel auf, dass es viel ältere Denkweisen gibt, die vorsprachlich sind und auf die Zeit vor der Entstehung von Sprache zurückgehen. Sie haben viel mehr mit Bildern zu tun oder sogar mit der Art und Weise, wie der Körper simulieren kann, was ein anderer Körper tut, und wie Wissen und Informationen durch verkörperte Simulation vermittelt werden. Der Tanz zum Beispiel muss eine ritualisierte Form der Kommunikation gewesen sein, lange bevor es die propositionale Sprache gab, die uns bestimmte Inhalte vermitteln kann.
¬ DIE VORSTELLUNGSKRAFT WIRKT AUF DEN KÖRPER AUF EINE ART UND WEISE, WIE ES INHALTLICHE INFORMATIONEN NICHT KÖNNEN. ¬
Wenn man über die Evolution der Imagination nachdenkt, muss man sich fragen: Wie hat der Mensch angefangen, sich Dinge vorzustellen, und was ist die Vorstellungskraft? Eine der frühesten Formen der Vorstellungskraft ist der träumende Geist. Träumen ist im Grunde eine unwillkürliche Form der Imagination. In den meisten Fällen hat man keine Kontrolle über das, was man träumt. Wenn Sie nachts einschlafen, erleben Sie in Ihrem Kopf ein freies Spiel von Bildern, Erinnerungen, Assoziationen und kleinen Dramen einer virtuellen Realität. Wir Menschen sind von dieser unwillkürlichen Vorstellungskraft zu etwas übergegangen, das wir als absichtsvolle Form der Vorstellungskraft bezeichnen können, bei der das freie Spiel der Bilder zunehmend unter die Kontrolle einer ordnenden Instanz kam. Nun konnten wir diese Bilder und Erzählungen zu neuen Kombinationen und neuartigen Geschichten formen. Wir sehen dies in der Kultur und Religion. Im frühen Animismus hatten Wälder und Flüsse Persönlichkeiten, was ein Ausdruck der Vorstellungskraft war. Und im Laufe der Entwicklung entstanden Sprache, Literatur und Geschichten. Das ist sozusagen der Bogen der Entwicklung der Vorstellungskraft.
Und dann fragen Sie zu Recht: Wohin entwickelt sich das Vorstellungsvermögen in der Zukunft? Heute sehen wir eine Rückkopplungsschleife: Die natürlichen Fähigkeiten des Geistes, die sich entwickelt haben, bringen eine Kultur hervor, und diese Kultur potenziert neue Fähigkeiten des Geistes.
Anfänge der Imagination
e: In den Höhlenmalereien vermischen sich Mensch und Tier. Das scheint eine der ersten Formen zu sein, in denen die Vorstellungskraft in der Kultur zum Ausdruck kommt. Aber wann haben die Menschen begonnen, ihre Vorstellungskraft bewusst für die Schaffung sozialer Räume oder Kultur einzusetzen?
StA: Schon bei den ersten Überresten menschlicher Kultur sehen wir, wie sich die Imagination vermischt. Das Gilgamesch-Epos ist eine der allerersten Geschichten, die uns überliefert sind. Darin gibt es das Mischwesen Humbaba, mit dem Gilgamesch und Enkidu kämpfen müssen.
Von Anfang an beginnt die Imagination, soziale Räume zu bilden. Aus der Kognitionswissenschaft und der Anthropologie wissen wir, dass sich Menschen um Meme-Strukturen versammeln – so wie mein Sohn mit seinen Freunden lustige Meme austauscht. Wir denken bei Religion an ein System von Glaubensvorstellungen. Aber das ist eine Ableitung von etwas viel Früherem. In der frühen Religion verbindet man sich mit Mem-Komplexen, die weitgehend mit Bildern und Vorstellungen zu tun haben. Ein Gott oder eine Göttin hat eine umfassende Bildstruktur. Ganesha hat den Kopf eines Elefanten und den Körper eines Menschen. Und durch die Verehrung dieses bildhaften Mem-Komplexes erlangt man seine soziale Identität und die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe.
e: Sie deuten an, dass diese Bilder eine tiefe emotionale Wirkung haben. Man erkennt in dem Bild etwas, das einen tief berührt, mit Ehrfurcht, Angst, Liebe oder Sehnsucht. Und das wird zu einem Organisationsprinzip, um Gemeinschaft zu schaffen.
StA: Ja, lange vor der Orthodoxie und der Kontrolle von Überzeugungen und sogar vor der Sprache sehen wir eine unmittelbare Anziehungs-/Abstoßungsbeziehung zu Bildern. Eines meiner anderen Interessensgebiete ist der Horror und die Kulturen, die sich mit Monstern beschäftigen. Götter haben oft auch etwas Monströses. Vishnu in der Bhagavad Gita ist schön und attraktiv, aber auch erschreckend. Als Arjuna zu Vishnu, der als Wagenlenker verkleidet ist, sagt: »Zeige mir dein wahres Ich«, sagt er: »Du kannst die Wahrheit nicht ertragen. Ich werde deinen winzigen Verstand sprengen, wenn ich dir die unglaubliche Macht und den Schrecken meines wahren Wesens zeige.«
¬ WIR MÜSSEN ANERKENNEN, DASS WIR ALLE TIEF MIT EINER MYTHO-POETISCHEN WELT VERBUNDEN SIND. ¬
Die Bilder in der frühen Religion und in den frühen imaginativen Kulturen sind also sehr affektiv. Sie wirken auf die affektiven Systeme des Gehirns. Ich hatte das Glück, mit Jaak Panksepp zu arbeiten, dem Vater der affektiven Neurowissenschaften. Er war der Erste, der die emotionalen Systeme untersuchte, die wir mit anderen Säugetieren gemeinsam haben. Er ging davon aus, dass es sieben solcher Systeme gibt. Angst ist offensichtlich eines der allgegenwärtigen Systeme, Liebe, Verlust und Sorge sind weitere emotionale Systeme, die wir häufig miteinander vermischen. Eine aktivierte Neugier und die Suche nach Ressourcen sind ebenfalls emotionale Zustände.
Die Vorstellungskraft wirkt auf den Körper auf eine Art und Weise, wie es inhaltliche Informationen nicht können. Ein wunderbares Gedicht hat eine Wirkung auf den Körper. Es gibt verschiedene Ebenen der Verkörperung in der Sprache. Ein emotionales Bild oder das Betrachten einer emotionalen Geschichte aktiviert direkt das System der Spiegelneuronen, durch das wir das Verhalten anderer simulieren und uns in die Emotionen anderer einfühlen können.
Imagination in der Popkultur
e: Diese affektive Resonanz auf Bilder weist auch einen Bezug zu Rudolf Ottos Ideen über das Heilige auf. Ein Aspekt des Heiligen ist oft Ehrfurcht, die in zwei Richtungen gehen kann: Ehrfurcht als überwältigende Liebe, als überwältigendes Gefühl der Verbundenheit, oder eine erschreckende Ehrfurcht. Als kulturelles Phänomen im Westen scheinen das mangelnde Interesse an der Vorstellungskraft und der Verlust einer Auseinandersetzung mit dem Heiligen zusammenzuhängen.
StA: Die akademische Welt hat den Kontakt mit dem Wert und der Bedeutung der Vorstellungskraft und gleichzeitig mit den magischen und mytho-poetischen Qualitäten der Natur und des Selbst verloren. Die Systeme, die sich seit der wissenschaftlichen Revolution entwickelt haben, haben keinen Zugang zu diesen tiefen Quellen des Selbst oder der Natur, die vielleicht etwas mit dem zu tun haben, was Otto das Heilige oder Numinose nennt. Dieses mechanische Paradigma hat zu bemerkenswerten Fortschritten in der Medizin und beim Verständnis des Körpers geführt. Aber es ist viel verloren gegangen, und wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem wir zu den eher magischen, mytho-poetischen Qualitäten des Selbst und der Natur zurückkehren müssen.
Während sich die akademische Welt aus methodischen Gründen von dieser Sicht des Selbst und der Natur entfremdet hat, ist der Durchschnittsmensch immer in engem Kontakt mit dem mytho-poetischen Geist geblieben. Das zeigt sich an der Allgegenwart und tiefen Durchdringung der Popkultur – Erzählungen, Filme, Fernsehen, Romane und Spiele. Die Menschen leben in dieser Welt, die völlig mytho-poetisch ist.
Wir müssen anerkennen, dass wir alle tief mit einer mytho-poetischen Welt verbunden sind, sei es durch Filme wie Star Wars, durch Spiele, virtuelle Realität oder traditionelle Religion. Wir haben aber keine Sprache mehr für diese Welt, denn durch die Wissenschaft wird Wissen durch ein hypothetisches, rationales, schlussfolgerndes Modell bestimmt. Das lässt die gesamte Kunst, die Philosophie und eine verkörperte Erkenntnis außen vor. Dabei ist die verkörperte Erkenntnis die viel ältere und wichtigere Form des Wissens.
e: Die Popkultur ist voll von Bildern, aber sie haben einen kommerziellen Charakter. Diese künstlich erschaffenen Bildwelten schwächen vielleicht auch das Potenzial echter mytho-poetischer Bilder.
StA: Man kann sehr tief in mytho-poetische Geschichten wie Star Wars eintauchen. Oder in Computerspiele, wie mein Sohn. Sie eröffnen ein eigenes Universum. Einige von ihnen sind bemerkenswert in ihrer Tiefe. Aber in unserer Kultur sehen wir das vor allem als eine Ablenkung. In Anbetracht dessen zögere ich, einigen der imaginativen Erzählwelten, in die Menschen eintauchen, einen hierarchischen Wert zuzuschreiben. Ich interessiere mich nicht wirklich für Star Wars, aber ich vertiefe mich in den frühen Buddhismus.
¬ DIE IMAGINATION IST EIN INNERER ORT, WO DIE HOFFNUNG UNAUFHÖRLICH SPRIESST. ¬
Vielleicht veranschaulicht meine eigene Geschichte, was ich meine: Als ich Beatles-Fan war, begeisterte mich ihr Interesse am Hinduismus. Plötzlich hörte ich Sitar und Ragas und las über veränderte Bewusstseinszustände, Ebenen der Meditation und des Bewusstseins. Ich fing an, Aldous Huxley zu lesen und sah mir dann die Upanischaden an. Und ehe ich mich versah, lernte ich Pali, damit ich buddhistische Schriften lesen kann. Das war mein Weg in die Tiefe. Ich würde die Beatles nicht als oberflächlich bezeichnen, aber es war Popkultur. Ich bin von der Popkultur zu den echten Sutras gelangt. Damit will ich sagen, dass Impulse aus der Popkultur manche Menschen auch ermutigen, sich tiefer mit der Vorstellungskraft zu beschäftigen. Irgendwo muss man ja anfangen, und die Popkultur ist uns allen zugänglich. Star Wars zum Beispiel enthält Ideen aus Buddhismus und Daoismus. Es ist großartig, wenn ein junger Mensch dadurch sein Verständnis von sich selbst und der Welt erweitert.
Vorstellungskraft des Neuen
e: Sie haben vorher von einer Rückkopplungsschleife gesprochen: Menschen schaffen eine Kultur, und diese Kultur wirkt sich dann auf die sich entwickelnden Fähigkeiten der Menschen aus. Damit ist eine Emergenz von etwas Neuem angesprochen. Die Imaginationen der Popkultur sind häufig aber eher eine Neumischung bekannter Bilder, die wir bereits kennen. Eine moralische oder wahrhaft utopische Imagination, die etwas zu imaginieren sucht, was es noch nicht gibt, spricht das menschliche Potenzial auf einer tieferen Ebene an, die die Popkultur nicht erreicht.
StA: Ich denke, das ist richtig. Wir begannen als eine sehr reaktive Spezies, die nur versuchte, zu überleben. Die Geschichten, die weitergegeben wurden, handelten vom Überleben: Meide den Wald bei Nacht, weil es dort Ungeheuer gibt. Das ist ein ziemlich guter Rat, wenn es Raubtiere gibt, die einen umbringen könnten, wenn man sich vom Stamm trennt und in diese Gegenden geht.
Aber jetzt leben wir in einer Welt, in der es neu entstehende bildliche Ausdrucksformen gibt, die uns beeinflussen können. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit einer bewussten Entwicklung auch im Bereich der Imagination.
Es ist Teil der moralischen Vorstellungskraft, dass wir die entfremdenden, entmenschlichenden Qualitäten machtvoller Institutionen beschreiben können. Und es werden neue Möglichkeiten entworfen. Es wird über ein universelles Grundeinkommen nachgedacht, bei dem die Menschen nicht arbeiten müssten, um zu überleben. In diesem Fall könnten die Menschen das Bewusstsein und den künstlerischen Ausdruck erforschen und die Gemeinschaft so entwickeln, dass die Vorstellungskraft zur Verbesserung der Gemeinschaft eingesetzt wird.
Die Vorstellungskraft war schon immer der zentrale Motor für Hoffnung und Bedauern, weil man sich vorstellen kann, wie die Dinge in der Vergangenheit hätten besser sein können. Aber sie ist auch die große Inspiration für mögliche Welten in der Zukunft. Was könnten wir in der Zukunft erreichen? Die Imagination ist die Antriebskraft für das, was noch nicht ist, für das, was sein könnte. Es ist ein innerer Ort, wo die Hoffnung unaufhörlich sprießt.
e: Wir leben in einer Zeit mit vielschichtigen Krisen, die zu einer tiefgreifenden Instabilität führen. Wie sehen Sie die Rolle der Vorstellungskraft bei der Bewältigung dieser Situation?
StA: Wenn uns etwas rettet, dann ist es die Vorstellungskraft, denn nur so können wir die Klimakrise abwenden oder abmildern. Es wird die Vorstellungskraft sein, die den technologischen, wissenschaftlichen oder sozialen Wandel vorantreibt, der zumindest die Probleme verlangsamt oder alternative Lösungen findet.
Aber ein anderes Szenario könnte sein: Wir werden die Ressourcen dieses Planeten aufbrauchen und müssen woanders hingehen. Auch das wird nur durch die Wissenschaft mit ihrer großen Vorstellungskraft geschehen. Das ist nicht mein Wunsch und ich erwarte es auch nicht, aber wir sollten ehrlich über diese Möglichkeit sprechen. Ich halte es immer noch für möglich, dass wir unsere Welt retten können. Dabei könnte etwas, das wir uns noch nicht vorstellen können, den Ausschlag geben. Was immer es ist, es wird ein Ergebnis der Vorstellungskraft sein.
Aber es gibt auch eine negative Seite, die besorgniserregend ist. Wenn man sich in den Vereinigten Staaten und in Deutschland umschaut, findet man ein sehr hohes Maß an Verschwörungsdenken. Hier ist die Imagination völlig aus dem Ruder gelaufen, vollkommen losgelöst vom gesunden Menschenverstand und von den wissenschaftlichen Fakten. In Amerika hatten wir einen Mann, der mit einer Kopfbedeckung mit Hörnern und Büffelfell bekleidet als »QAnon-Schamane« aufgrund einer imaginierten Verschwörung in das Kapitol, den Regierungssitz eindrang. Das Vorstellungsvermögen ist also nicht per se gut oder schlecht. Es ist beides.
Ein Teil der Entwicklung der Vorstellungskraft und der Bildung zur Vorstellungskraft besteht darin, Orte zu finden, wo das Vorstellungsvermögen an die geteilte Welt der gemeinsamen Erfahrung anknüpfen kann. Wenn es uns gelingt, die Vorstellungskraft weiterzuentwickeln, sodass sie auf einer gemeinsamen Grundlage und Wahrnehmung der Welt basiert, dann glaube ich, dass sie Gutes bewirkt, aber andernfalls kann sie auch eine Menge schrecklicher Dinge bewirken.