Die Heilkraft der Verbundenheit

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 18, 2019

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Ausgabe 23 / 2019:
|
July 2019
Was das Geld mit uns macht
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Das Trauma der Kolonialisierung überwinden

Neuseeland ist im Umgang mit ihrer indigenen Bevölkerung vergleichsweise fortschrittlich. Trotzdem wirken die Folgen der Kolonialisierung weiter. Louise Marra hat es sich zur Aufgabe gemacht, Begegnungsräume zu schaffen, in denen die Maori und die ins Land Zugewanderten in Gesprächen Wunden der Vergangenheit heilen können.

evolve: Wie kamen Sie dazu, sich für einen neuen Umgang mit den Folgen der Kolonialisierung in Neuseeland zu engagieren?

Louise Marra: Ich stamme zum Teil von den Maori ab und wuchs in einer abgelegenen Waldregion von Neuseeland auf. Seit acht Jahren arbeite ich im Pocket Projekt von Thomas Hübl mit und dabei erkannte ich, dass der Wandel, den wir anstreben, nicht nur den Umgang mit Komplexität erfordert, sondern auch mit Traumen und deren Heilung. Ich habe daher in Neuseeland eine Bewegung gegründet, um ein Gespräch über Heilung zu beginnen, damit wir unser Herz und unseren Geist öffnen und so die Verletzungen heilen, die durch die Kolonisierung entstanden sind. Teil des Projektes ist es, Menschen dabei zu helfen, die Folgen inter-generationaler und kollektiver Traumen zu verstehen und über einen nationalen Heilungsprozess nachzudenken. Wir sind ein außergewöhnliches Land, denn es gab ein großes Umsiedlungsprogramm für die Maori. Zudem wurde unser Land auf Basis eines Vertrags mit den Maori gegründet – dem Vertrag von Waitangi. Aber Umsiedlung bedeutet noch nicht Heilung.

In unserem Land beschäftigen wir uns damit, all die Symptome zu finden, ohne dabei aber wirklich in die Tiefe zu gehen und tatsächlich die Wunden zu heilen und zu einer Erneuerung zu finden, um die derzeit vorherrschende Denkweise zu überwinden. Eines meiner Programme mit dem Titel »Führende sind Heiler« verbindet den Archetyp des Führenden mit dem des Heilers. Denn erfolgreich zu führen bedeutet heute, unsere Beziehung zu uns selbst, zueinander, zur Vergangenheit und zum lebenden Planeten zu heilen.

e: Wie sehen Sie die Auswirkungen der Kolonialisierung? Und wie erfahren das die Menschen, mit denen Sie arbeiten – sowohl die Maori als auch die Nachfahren derer, die das Land kolonialisiert haben?

LM: Die Kolonialisierung Neuseelands liegt noch nicht lange zurück, und die Menschen erinnern sich an Dinge, die tatsächlich passiert sind. Die Kolonialisierten haben das Gefühl, dass es da ein riesiges, hungriges Maul gibt, das versucht, alles zu verschlingen und ihnen keinen Platz übriglässt. Sie werden nicht wertgeschätzt und ihre Lebensweise wird nicht anerkannt. Das führt zu Angst und großer Scham.

Der Grundgedanke der Kolonialisierung ist, dass weiße Menschen überlegen sind. Dieses Gefühl, nichts wert zu sein, führt dazu, dass du dich nicht am richtigen Platz fühlst. Genau wie andere indigene Völker sind die Maori durch ihre Weltanschauung stark mit der Erde verbunden, alles ist für sie Bruder oder Schwester. Die Trennung im Denken, die durch die Kolonialherren eingeführt wurde, hat ihre Verbundenheit miteinander und mit dem lebendigen Planeten zerstört.

Bei den Nachfahren der Kolonialherren gibt es auch Angst. Bei einer Gesprächsreihe zum Thema Rassismus und Heilung spreche ich auch über weiße Privilegien. Dabei stoße ich immer wieder auf Ängste, dass die Menschen etwas aufgeben müssen. Und damit haben sie Recht: Wir brauchen mehr wechselseitiges Teilen in unserer Lebensweise und bei der Machtausübung.

Dieses grundlegende Trauma der Trennung vom Land und voneinander verursacht ein Gefühl von Mangel, weshalb wir miteinander konkurrieren. Beide Seiten müssen zusammenkommen und erkennen, dass beide in diesem System gefangen sind. Wie können wir auf eine wirklich menschliche Weise zusammenkommen, um diese tiefen Wunden gemeinsam zu heilen?

DAS GRUNDLEGENDE TRAUMA DER TRENNUNG VOM LAND UND VONEINANDER VERURSACHT EIN GEFÜHL VON MANGEL.

e: Wie unterstützen Sie diese Heilungsprozesse?

LM: Für mich bedeutet Heilung, dass mehr Licht durch das ganze System fließen kann, sodass die Menschheit, unser kollektiver Körper, seine Resonanz und Schwingung ändern kann. Ich arbeite in unterschiedlichen Schichten. Manchmal gestalte ich ein Event, indem wir einfach miteinander reden, doch selbst dann ist sehr viel im Raum anwesend und es bringt große Erleichterung, darüber zu sprechen.

Im Kontext von »Führende sind Heiler« gibt es u. a. ein einjähriges Programm, in dem wir mit Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsgruppen in ganz unterschiedliche Gebiete reisen, z.B. in die Berge, an traditionelle Plätze, zu den ärmsten Gemeinden des Landes, um dort Gruppenarbeit und Workshops für Persönlichkeitsentwicklung durchzuführen.

Wir lernen, uns zu vergegenwärtigen, was in uns geschieht und wir lernen, es gemeinsam durch Liebe und Mitgefühl zu vergegenwärtigen, sodass das, was innen ist, nach außen kommt und man ihm begegnen kann. Die Psychotherapie ist ein wunderbares Werkzeug, aber sie lässt den Einzelnen oft mit seiner Scham allein wieder der Welt begegnen. Gemeinsam daran zu arbeiten beschleunigt nach meiner Erfahrung den Prozess und unterstützt den kollektiven Körper, die kollektive Intelligenz bei ihrem Wachstum, sodass wir in der Lage sind, mit dieser Scham umzugehen. Meiner Erfahrung nach unterstützt das gemeinsame Vergegenwärtigen den Prozess der Heilung und Integration.

In der Kultur der Maori und der pazifischen Ureinwohner gibt es wunderbare Wege, das zu beschreiben, was zwei Menschen – so wie Sie und mich jetzt – miteinander verbindet; etwas, das entweder klar und fließend ist oder das gestört und verwickelt wird. Wir arbeiten viel mit diesem verbindenden Element, das zwischen allem existiert, und wir lernen, es zu berücksichtigen.

In meinem Programm schöpfen wir sowohl aus der »modernen Quelle« als auch aus der »traditionellen Quelle«, um die Stärken beider zu verbinden. Der Vertrag von Waitangi gewährt jedem das Recht, hierher zu gehören. Und so hoffe ich, dass wir ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln und alle Menschen darin gemeinsam auf der Insel leben und sie miteinander teilen können.

e: Sie versuchen herauszufinden, was Menschen miteinander verbindet und sagen, dass jeder die Auswirkungen dieses kollektiven Traumas erfahren kann. Indem es bewusst wird und man es erforscht und spürt, kommt es aus dem Schatten und in die Sphäre des menschlichen Miteinanders.

LM: Auf meinem Weg habe ich gelernt, dass wir viel liebevolle Achtsamkeit brauchen, um diese Gefühle zu umarmen, denn sie fühlen sich so hässlich an. Doch wenn wir sie als etwas Hässliches behandeln, tauchen sie wieder unter. Wir brauchen daher diese liebevolle Präsenz, um die Wunden zu umarmen, ohne Angst vor ihnen zu haben. Wenn ich mich persönlich kolonialisiert fühle, verteidige ich mein Territorium und will einfach nur schreien: »Hau ab!« Und allein dafür, das mit liebevollem Verständnis zu umarmen, habe ich lange gebraucht.

e: In der Reaktion der Bevölkerung und der Premierministerin auf die Schießerei in Christchurch vor einigen Monaten zeigte sich große menschliche Reife. Wie haben Sie das erlebt?

ML: Es hat sich wirklich so angefühlt, als ob das kollektive Herz sich öffnet. Die Fähigkeit vieler Neuseeländer, ihr Herz zu öffnen und sich einfach mit den Menschen und ihrem Anliegen zu verbinden, wurde sichtbar. Zusammen mit anderen arbeite ich daran, dieses kollektive Herz offen zu halten. Ich glaube auch, dass dadurch die Bereitschaft, über das zu sprechen, was diesen Hass verursachte, stärker geworden ist. Es ist ein Dialog entstanden, der weniger offensiv ist und in dem man viel mehr bereit ist, sich verletzlich zu zeigen. Der Austausch über die Evolution als Gesellschaft wurde tiefer und reicher.

Es liegt noch ein weiter Weg vor uns, aber ich glaube, dass es wirklich möglich ist, die Folgen der Kolonialisierung von Aotearoa (Neuseeland) zu heilen. Es dauert vielleicht 20 Jahre, aber wenn wir eine dementsprechende Bewegung schaffen können, ist es möglich. Davon bin ich überzeugt und arbeite mit anderen zusammen, die ebenso davon überzeugt sind.

Author:
Mike Kauschke
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