Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 21, 2016
Kreativität ist zu einem der größten Modewörter geworden. Sie wird immer wichtiger – für Individuen, die sich in der Dichte der Großstädte von anderen unterscheiden wollen, und auch für Unternehmen, um auf dem immer globaleren Markt neue Wettbewerbsvorteile zu erreichen. Andreas Reckwitz spricht in seinem Buch »Die Erfindung der Kreativität« von der Herausbildung eines»Kreativitätsdispositivs«. Er meint damit eine immer mehr um sich greifendeErwartungshaltung in allen Bereichen des täglichen Lebens und Arbeitens. In derErziehung, im Konsum, im Sport, im Beruf oder in der Sexualität, überall wirdder Kreativitätsanspruch immer stärker. Ein Anspruch, den wir selbst unsauferlegen, der aber auch durch die sich immer weiter entwickelndeKreativitätsindustrie gefordert und gefördert wird.
Diese um sich greifende Kreativitätserwartung habe, so Andreas Reckwitz am Endeseines Buches, bisher kaum zu einer grundsätzlichen Erneuerung der modernenWirtschaft, Gesellschaft und Kultur geführt. Sie fügt der scheinbarunendlichen, steuerungslosen Steigerungsdynamik des modernen Kapitalismuseinfach eine nächste Schleife hinzu. Um wirklich kreativ zu sein, müssen wirFreiräume schaffen, die dem Diktat der Kreativität, der schnelllebigen Lust am Neuen, eine Verlangsamung und Konzentration entgegensetzen. Erst hier wird es uns vielleicht möglich, wirklich kreativ zu werden. Wir brauchen eineUnterscheidung zwischen einer konditionierten, von außen an uns herangetragenenKreativität des Sensationellen und einem tieferen Kreativsein, das – so könnteman vielleicht sagen – natürlich und spontan und in eigener Zeit und Form unserem Wesen entspringt.
In vielen Bereichen wird der Kreativitätsanspruch immer stärker.
Schon Abraham Maslow, einer der Väter der Humanistischen Psychologie, traf dieseUnterscheidung. Die oberflächliche, sich am Äußeren orientierende Kreativitätbezeichnete er als »spezielle Kreativität«. Sie bringt neue Produkte hervor –Brücken, Häuser, Autos, manchmal auch literarische Texte. Sie ist aber oft nurdie Fortsetzung oder Neukombination dessen, was andere begannen. Dem setzteMaslow eine »selbstaktualisierende Kreativität« entgegen, die er als einenschöpferischen Strom verstand, der aus der Tiefe eines integrierten Menschenfließt. Diese schöpferische Lebendigkeit versetzt uns in die Lage, sowohl dasKonkrete, Seltene, Frische des Lebens, als auch das Allgemeine, Abstrakte,Grundsätzliche zu erfassen und aus deren Verbindung wie ein Kind zu staunen und manchmal ganz Neues zu entdecken. Die selbstaktualisierende Kreativität gehört auch zu den Gipfelerfahrungen, in denen wir eine tiefe Einheit mit der Existenzerfahren können. Maslow nannte das »Selbsttranszendenz«. Manchmal vergessen wirdie Besonderheit solcher Erlebnisse und machen daraus »nur« ein neues Produkt.
Auchdiese Art von Kreativität hat ihre Berechtigung für uns Menschen. Aber beide Formen von Kreativität gehören zu zwei unterschiedlichen Welten: derunendlichen und der endlichen Welt. Wenn es uns gelingt, sie miteinander zuverbinden, dann entsteht eine integrierte Kreativität. Laut Maslow ist es dieseKreativität, die»große Werke der Kunst, der Philosophie oder Wissenschafthervorbringt«. Diese Integration ist vielleicht eine notwendige Antwort aufeine Kreativitätskultur, die ganz dem neoliberalen Perfektionszwang untergeordnetist.
Dieum sich greifende Vereinnahmung der Kreativität birgt eine Herausforderung und Chance. Die Krisen der Gegenwart erfordern die Entfaltung eines menschlichenPotenzials, die uns geschichtlich bisher immer nur sporadisch gelungenen ist: Kreativität, die wie ein verspielter Quell aus der Tiefe des Seins und ausunseren ungestillten Sehnsüchten strömt, die aber auch mit der Leichtigkeiteines ganzheitlich erfüllten Lebens die Welt unseres täglichen Lebens, Liebensund Arbeitens nachhaltig verwandelt.