Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
October 24, 2022
Die Macht der Würde zeigt sich am deutlichsten, wenn Würde verletzt wird. Wir reagieren meist spontan heftig, wenn wir würdelos behandelt werden, sei es, dass wir uns abschotten, die inneren Mauern hochziehen oder mit verbaler Aggression antworten und gelegentlich sogar gewalttätig werden. Auf der Ebene von Clans werden Menschen immer noch um der Ehre willen ermordet und Kriege werden neben anderen Motiven auch aufgrund verletzten Nationalstolzes begonnen und angefeuert. Denn Ehre und Stolz haben zutiefst mit Würde zu tun. Wir verbinden Ehre meist mit einem hohen gesellschaftlichen Stand, mit Rang und Namen, während wir beim Stolz auf eine außerordentliche Leistung zurückschauen. Ehre und Stolz können verloren gehen, doch Würde bleibt. Als Basis von Ehre und Stolz lässt sie sich jedoch weniger einfach beschreiben, da sie nicht an Äußerlichkeiten haftet, sondern existenziell zum Wesen des Menschen gehört.
Bemerkenswert ist, dass der Begriff der Würde in der abendländischen Geistesgeschichte spät auftauchte. Cicero war wohl einer der ersten, der Würde als Wesensmerkmal des Menschen beschrieb. Dann dauerte es 15 Jahrhunderte, bis in der Renaissance der italienische Philosoph Mirandola »die Rede über die Würde des Menschen« schrieb. Es dauerte nochmals zwei Jahrhunderte, bis Kant das Thema wieder aufnahm und einen Schritt weiterging: Jeder Mensch habe Anspruch auf seine Würde. Und zum ersten Mal setzte sich der Gedanke durch, dass auch der Menschheit als Ganzes Würde zukommt. So schrieb er: »Die Menschheit ist selbst eine Würde.«
Ins allgemeine Bewusstsein kamen die Würde und ihre Bedeutung für das Zusammenleben von Menschen und Nationen jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Gräueltaten, die nationalsozialistische Schreckensherrschaft, der Abwurf der Atombombe zeugten in schier unüberbietbarem Maß vom Gegenpol der Würde – der Verachtung von Menschen und Leben überhaupt. So versammelten sich 1945 Männer und Frauen aus allen Weltgegenden in San Francisco und formulierten die Präambel der Charta der Vereinten Nationen, die mit folgenden Worten beginnt: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, … unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen … « Drei Jahre später wurde die Erklärung der Menschenrechte durch die UNO-Generalversammlung verabschiedet. Sie beginnt mit: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren …«
¬ WÜRDE IST EINE HERZENSQUALITÄT, NÄHRT SICH VON DER STILLE DES HERZENS. ¬
Inzwischen wurde das Thema Würde in das Grundgesetz verschiedener Nationen aufgenommen. Wie alle anderen Werte läuft sie Gefahr, dass sie ein Konzept, eine lobenswerte Absichtserklärung bleibt, die im alltäglichen Zusammenleben nicht wirkmächtig wird. Erst wenn Würde zu einer inneren Haltung wird und in uns die Gewissheit wächst, dass wir voll der Würde sind, mehr noch Würde selbst sind, kann sie unser Verhalten bestimmen. Sie ist eine Herzensqualität, nährt sich von der Stille des Herzens.
Im Rückblick auf mein eigenes Leben begann auch ich erst spät, mich dem Thema der Würde zuzuwenden, und zwar als ich mit Schrecken feststellen musste, insgeheim Männer wie Frauen in bestimmten Situationen zu verachten. Dieses Eingeständnis löste in mir einen Suchprozess aus, nach den Quellen der unverletzbaren Würde zu forschen, Quellen, die uns die Kraft geben, eigene destruktive Tendenzen anzunehmen und zu transformieren. Und ich bin fündig geworden in den vorpatriarchalen Muttergottheiten und in Aussagen im ersten Buch Mose.
Es ist höchste Zeit, dass wir uns auf die Heiligkeit und Größe der Würde rückbesinnen und die Worte aus dem Ersten Testament in unserem Leben lebendig werden lassen. Gott sprach: »Lasst uns den Menschen als unser Abbild machen.« Die Heiligkeit der Würde darf im Blick auf die großen Herausforderungen der heutigen Zeit nicht auf den Menschen beschränkt bleiben, denn die ganze Schöpfung ist selbst Würde.