Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 2, 2021
Der Markt hat heute die Rolle übernommen, die früher einem Gott zugesprochen wurde. Was bedeutet diese Allmacht und wie können wir sie durchschauen? Und liegt im Kern dieser Allmacht eine Art Bilderverbot? Wie können wir uns daraus befreien und gemeinsam neu über unsere Gesellschaft und Wirtschaft nachdenken und ins Gespräch kommen?
Was ist eigentlich Liebe? Und was hat Liebe mit dem Markt zu tun? Im Deutschen gibt es den Ausdruck »käufliche Liebe« und wir meinen damit die Prostitution. Der französische Sozialphilosoph André Gorz hat in seinem Buch »Kritik der ökonomischen Vernunft« über die Käuflichkeit in unserem Leben nachgedacht. In unserer Gesellschaft, so Gorz, gibt es den Impuls, alle Beziehungen zu Kaufbeziehungen zu verwandeln. Neben der Prostitution lenkt er sein Augenmerk auch auf die Pflegeberufe. Denn auch dort wird sehr schnell klar, dass es etwas gibt, das man nicht kaufen kann: menschliche Fürsorge. Wir können professionelle Fürsorge käuflich erwerben, menschliche Fürsorge bleibt genauso wie wirkliche Liebe immer ein Geschenk.
Der Markt ist tief in unsere Seele eingedrungen. Es ist alltäglich geworden, dass wir uns selbst vermarkten. Facebook, Instagram und TikTok sind Vermarktungsmaschinen einer Click- und Thumbs-up-Ökonomie. Aber auch traditionelle Einrichtungen wie das deutsche Bildungswesen erlebten in den letzten Jahren eine Revolution. Der Bologna-Prozess hat die Universitäten marktkonformen Effizienzkriterien unterworfen, man erkennt die alten Bildungseinrichtungen nicht wieder. Dabei sind wir noch weit entfernt von den Entwicklungen im angelsächsischen Raum, wo die besten Universitäten heute de facto als Aktiengesellschaften geführt werden.
Alles ist Markt oder wird Markt. Der Soziologe Ulrich Bröckling beschreibt das so: »Die Allgegenwart des Marktes lässt nur die Alternative, sich entweder rücksichtslos dem Wettbewerb zu stellen oder als Ladenhüter zu verstauben. Des Marktes Wille geschehe.« Diese theologische Formulierung ist nicht unpassend. Wir schreiben dem Markt heute Eigenschaften zu, die wir früher Gott vorbehalten haben. Der Markt ist allwissend. Er ist allmächtig. Der Mythos des Marktes in unserer Gesellschaft hat manche Ähnlichkeiten mit dem Gottesglauben früherer Kulturen. Als Institution gibt es ihn schon lange in unserer Geschichte. Er hatte nur nie diese Bedeutung.
Die klassischen Griechen machten als Seefahrernation das Mittelmeer mit ihrem Seehandel zu einem großen, griechischen Kulturgebiet. Auch als die Römer von ihnen die Vorherrschaft übernahmen, war das »mare nostra« vor allem ein großer Handelsraum. Nach den Römern kamen die Araber. Sie starteten sozusagen den Welthandel und brachten die muslimische Kultur über ihre Handelsrouten bis nach Indonesien.
Doch weder die Griechen noch die Römer oder Araber definierten sich und ihre Kultur über den Markt. Das große identitätsstiftende Zentrum der Araber war das Wort Gottes, das im Koran niedergeschrieben war. Es war die Umma, die weltweite Gemeinschaft der Gottesfürchtigen. Und als Gläubige waren sie durchaus bereit, die Kräfte des Marktes radikal einzuschränken. Bis heute gilt im Islam das Zinsverbot.
Auch die katholischen Spanier und Portugiesen entfesselten einen neuen Weltmarkt, als sie nach Amerika übersetzten, um die Handelswege nach Indien zu öffnen. Für sie war der freie Markt ebenfalls nicht das Zentrum ihrer Welt. Auch wenn es in vielem um Gold ging, waren sie doch von ihrem »apostolischen Auftrag« für eine christliche Herrschaft und von ihrer Mission geprägt, die heidnischen Länder zu christianisieren. Das war auch ein Grund, warum die Spanier und Portugiesen letztlich von den Holländern und den Engländern ausgebootet wurden. Deren Glaube war flexibler. Ihr Glaube – bei den Holländern war es der Calvinismus – entdeckte den Markt als christliche Tugend. Der deutsche Soziologe Max Weber sprach davon, dass der Kapitalismus aus dem Geist des Calvinismus geboren wurde. Der Markt begann damals stark zu werden, aber noch war er nicht Gott.
Das Einzige, was uns in den neuen Zeiten der Multiperspektivität und des Relativismus blieb, war der Markt.
Die Rechtfertigung der Briten für ihre indischen Kolonien war auch nicht mehr die christliche Taufe der Hindus. Ihre »Mission« war es, die »Errungenschaften« der europäischen Zivilisation zu verbreiten. Sie brachten den Fortschritt in Form des britischen Rechts und der europäischen Wissenschaft. Für über zwei Jahrhunderte wurden Fortschritt, Freiheit und Wissenschaft zur Identität der Europäer. Erst als die Postmoderne in den 60er- und 70er-Jahren diese Werte immer mehr in Frage stellte und die neue französische Philosophie das Projekt der Moderne für gescheitert erklärte, wurden diese Werte vom Thron gestoßen. Das Einzige, was uns in den neuen Zeiten der Multiperspektivität und des Relativismus blieb, war der Markt. Es ist vielleicht eine Ironie der Geschichte, dass die Philosophen der Postmoderne, die sich selbst oft als antikapitalistisch verstanden, mit ihrer Dekonstruktion von Wissenschaft und Fortschritt dem Markt zur alleinigen ideologischen Herrschaft verhalfen.
Mit der Postmoderne begann eine neue Erzählung. Es ging nicht mehr um das Christentum, auch nicht mehr um Fortschritt und Wissenschaft. Verstärkt durch die neuen Medientechnologien, die in Wahrheit oft an ihrem Sensationswert gemessen werden, begann das postfaktische Zeitalter. Der Markt selbst wurde zur letzten Ideologie.
Der Mythos des Marktes hat zwei Dimensionen, eine innere und eine öffentliche. Kritische Ökonomen wie Walter Ötsch sprechen davon, wie die Mathematisierung der Ökonomie in sich eine der unhinterfragten Grundlagen des herrschenden Wissenschaftsbetriebs ist. Viele der Axiome, auf denen die Standardmodelle unserer Ökonomie beruhen, sind letztlich willkürlich gesetzt.
Es ist eine der dogmatischen Annahmen des Wissenschaftsbetriebs, dass sich die Wirklichkeit in algorithmischen Gleichungen darstellen lässt. Die Mathematisierbarkeit der Welt ist so etwas wie der innere Mythos des Marktes. In Teilen ist diese Annahme auch sehr erfolgreich. Nur zeigen sich in unserer Zeit immer mehr die Grenzen, an denen sich die Wirklichkeit hartnäckig weigert, nicht mehr als eine mathematische Formel zu sein.
Die öffentlichen Mythen des Marktes sind jene, denen wir täglich auch in den Medien begegnen. Da ist der Mythos der »unsichtbaren Hand«. Angeblich sichert der Markt, unsichtbar »wie aus Zauberhand« gerade dann, wenn wir alle nur an uns selber denken, unser Gemeinwohl. Dabei gab es noch keine Zeit in unserer Geschichte, in der wir dem Markt nicht durch kluge Politik nachhelfen mussten. Das »freie Spiel« von Angebot und Nachfrage, das für den Neoliberalismus so entscheidend ist, ist auch ein falscher Mythos, weil es in der Wirklichkeit dieses freie Spiel nicht gibt. Konkrete Märkte haben immer auch ganz bestimmte Machtgefüge, die diese Märkte prägen. Der vielleicht wichtigste Mythos des Marktes besagt, dass er »ein natürliches« System ist, ein Naturgesetz. Milton Friedman, einer der Väter des markt-radikalen Denkens, spricht deswegen auch davon, dass es keine soziale Marktwirtschaft geben kann. Für ihn gibt es entweder den Markt, der sich frei als Naturgesetz entfalten darf, oder es gibt ihn nicht. Er erklärt: »Es gibt keinen Markt mit Adjektiven.« Im Zentrum der Marktmythen steht aber etwas, von dem nicht viel gesprochen wird: ein Bilderverbot.
Bilderverbote sind schon lange Teil unserer Religionsgeschichte. Sie entstanden mit den großen, monotheistischen Religionen. Wahrscheinlich entstanden sie damals auch als ein Akt der Befreiung. Das jüdische Verbot, sich ein Bild Gottes zu machen, war ein Emanzipationsakt gegenüber den Göttern, Geistern und Dämonen, die uns damals beherrschten. Das Allerheiligste frei von Bildern zu halten, eröffnete uns Menschen den Weg, eigenständige Individuen zu werden. Es ließ die Rationalität in uns zu einer dominierenden Kraft werden, zuerst in der Philosophie, dann in der Wissenschaft und schließlich in der modernen Technologie. Doch existiert auch heute noch das Bilderverbot, das am Anfang dieses Prozesses stand? Und was hat der freie Markt damit zu tun? Der freie Markt ist in sich ebenfalls eine große technologische Vision. So, wie er in den ökonomischen Lehrbüchern erklärt wird, ist er ein Hyper-Algorithmus, der aus sich heraus in der Lage ist, unser Leben zu regeln. Und dazu braucht er ein Bilderverbot.
Auf den ersten Blick überrascht das, denn der Kosmos des Marketings überflutet uns mit einer Bilderwelt – von Marlboro bis Apple, vom Südseetraum bis zu den marktkonformen Identitäten, die wir auf Facebook und Instagram von uns selbst fabrizieren. Aber im Zentrum dieses Bilderzyklons herrscht Stille. Wir dürfen uns keine Bilder machen, wie wir unsere Gesellschaft und unsere Kultur gestalten wollen. Der Algorithmus funktioniert nur, wenn wir uns ganz den blinden Kräften des Marktes anvertrauen. Der Algorithmus regelt das für uns. Gestalterisch einzugreifen, ist eine Art Sünde. Oder wie es Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt formulierte: »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.« Das ist die zentrale Botschaft der Markt-Religion. Aber dieser Glaube ist brüchig geworden. Die eskalierenden Krisen der Gegenwart haben ihn erschüttert. Genauso wie am Ende des Mittelalters die große Erzählung der katholischen Kirche die Gläubigen in Europa nicht mehr überzeugen konnte, ist heute der Glaube an den Markt erschüttert. Und es kommt noch etwas hinzu. Eine der zentralen Einsichten der Postmoderne war die Erkenntnis, wie sehr jede Kultur im Kern von den zentralen Narrativen und Symbolen zusammengehalten wird, die ihr zugrunde liegen. Auch der ausschließliche Glaube an die mathematische Wissenschaft, die den modernen Fortschrittsgedanken bestimmte, und unser postmoderner Glaube an den Markt sind solche Narrative, die wir uns selbst gesetzt haben.
Wir beginnen gerade besser zu verstehen, dass alle Zivilisationen im Kern von großen sozialen Imaginationen zusammengehalten werden. Deswegen können wir jetzt zum ersten Mal darüber nachdenken, wie wir bewusst neue Bilder und Narrative schaffen, die in der Lage sind, den Herausforderungen unserer Zeit eine tragfähige Basis zu geben. Wir brauchen eine gemeinsame imaginative Basis, die der Einsicht Rechnung trägt, dass man die Wirklichkeit nicht allein in mathematischen Formeln verstehen kann.
Solange der Marktmythos unser höchster Gott ist, wird er zu einem gefährlichen Mythos, denn er will uns dazu zwingen, unsere gesellschaftliche Gestaltung allein seiner Blindheit anzuvertrauen. Und noch etwas macht ihn gefährlich. Er überzeugt nicht mehr. Und weil wir keine neuen Bilder unserer Zukunft haben, breiten sich gerade veraltete Mythen in pathologischen Formen aus. Der Nationalismus der Rechtspopulisten, die fundamentalistisch-religiösen Strömungen und krude Verschwörungsmythen zeugen davon, dass wir keine realistischen Träume für die Zukunft haben. Die Klimakrise lässt uns aber keine Zeit, diesen Gärungsprozess, den es immer im Übergang zwischen einer alten und einer neuen Zivilisation gibt, lange auszudehnen.
Unsere Vorstellungskraft ist eine befreiende Kraft. Können wir sie als soziale Praxis entwickeln? Vor ein paar Wochen hatte ich das Glück, ein Experiment der sozialen Imagination zu erleben. Auf einer Konferenz in Berlin leitete die Sozialaktivistin Phoebe Tickell eine sehr einfache, aber tiefgreifende Übung für das, was sie »Moral Imagination« nennt. Wir saßen in Reihen vor der Bühne und drehten uns in jeder zweiten Reihe um, sodass wir uns zu zweit gegenübersaßen. Einer der beiden war aufgerufen, er oder sie selbst zu sein, die andere jemand, der oder die etwa 300 Jahre später in der Zukunft lebt. »Die Menschen haben überlebt«, sagte Tickell: »Was würdet ihr jetzt zueinander sagen?« Wir wechselten uns ab und kamen ins Gespräch. Was würden wir uns voneinander wünschen? Wofür sind wir dankbar? In diesem imaginativen Raum brach etwas durch – Fürsorge, Trauer, Erleichterung, Engagement, Hoffnung. Ein gemeinsames zutiefst menschliches Verständnis, wie wir in dieser Welt sein wollen.
Der vielleicht wichtigste Mythos des Marktes besagt, dass er »ein natürliches« System ist, ein Naturgesetz.
Die Kraft der Demokratie zeigt sich, wenn wir miteinander darüber in einen Dialog treten, wie wir eigentlich leben wollen. Die dialogische Befreiung unserer Vorstellungskraft war immer das Herz der Demokratie. Wenn unsere moralische Vorstellungskraft eine gesellschaftliche Kraft wird, entsteht etwas, das den Markt in seine Grenzen weist. Gerade auch Vernetzungsmöglichkeiten des Internets erlauben heute die Geburt einer neuen Zivilgesellschaft.
Walter Ötsch spricht davon, dass die nächste Revolution eine moralische Revolution sein wird. Denn abseits der blinden Kräfte des Marktes kommt eine Gesellschaft in die Sichtbarkeit, in der wir uns über unsere moralischen Vorstellungen und vielleicht auch auf eine weniger effiziente und nachhaltigere Wirtschaft verständigen können. Die Logik des Marktes kann die Welt nur in Geldwerten erfassen. Aber wir Menschen können uns verständigen, und zwar in allen Dimensionen unseres Menschseins von den Widrigkeiten des Alltags bis zu unseren Ahnungen davon, was wirklich heilig ist. Was es dazu braucht, ist eine Kultur, in der wir unsere gemeinsame Vorstellungskraft, unsere soziale Imagination neu in die Gesellschaft einbringen. Ernst Bloch nannte es die Kraft der konkreten Utopie, von konkreten Träumen, von der Heimat, die in der Zukunft liegt. Der philippinische Soziologe Nicanor Perlas spricht von einer globalen Zivilgesellschaft als dritte Kraft neben Staat und Wirtschaft. Was schweißt die Zivilgesellschaft zusammen? Ideale wie Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit verbinden die meisten von uns, auch wenn sie für uns oft sehr unterschiedliche Dinge bedeuten.
Eine globale Zivilgesellschaft braucht aber auch Strukturen, in denen unsere Träume klar und konkret artikuliert und verankert werden können. Die neuen Experimente im Bereich des gemeinsamen Wohnens, die gerade viel Aufmerksamkeit finden, sind konkrete Beispiele dafür, auch viele Netzwerke, die über das Internet entstehen. Und natürlich braucht es eine Kultur des Streits. In unseren dialogischen Räumen werden auch unsere fixen Vorstellungen, unsere Ängste und Pathologien sichtbar. Der Streit darüber, was der Welt schadet und was ihr guttut, wird nie aufhören. Aber wir können auch diesen Streit kultivieren.
Wenn das Bilderverbot fällt und wir uns letztlich nicht in allem dem Markt ausliefern, können wir uns zusammenfinden, um Räume zu kultivieren, in denen sich unsere soziale Imagination und unsere moralische Vorstellungskraft zeigen. Dann werden diese Räume zu einem neuen Fundament einer offenen, demokratischen Gesellschaft.