Die planetarische Zukunft verändert uns bereits

Our Emotional Participation in the World
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Kolumne
Published On:

April 5, 2021

Featuring:
Eugene Thacker
Jeremy D. Johnson
Lynn Margulis
Marshall McLuhan
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Ausgabe 30 / 2021:
|
April 2021
Kunst öffnet Welten
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Das Neue kommt häufig in der Verkleidung des Alten daher. Marshall McLuhan sagte oft: »Wir betrachten die Zukunft durch den Rückspiegel.« Möglicherweise können wir die Zukunft nicht direkt sehen, aber vielleicht müssen wir das auch gar nicht. Schließlich spüren wir sie bereits, besonders in diesem Jahr. Noch nie hat es sich zwischen der Pandemie, einem Wirtschaftseinbruch, sozialen und politischen Unruhen und der ständigen Bedrohung durch die Klimakrise stärker so angefühlt, als würden die ­Dinge »auf ­Meta gehen«. Der Philosoph ­Eugene Thacker schrieb in The Dust of This ­Planet: »Die Welt wird immer undenk­barer.« Wir wissen, dass es sich nicht nur um­ ­eine Krise der materiellen Systeme und ­Lieferketten oder nur um ein Scheitern der ­­
Wirtschaftsideologien handelt. Aber irgendetwas von alledem ist daran beteiligt: eine Krise der Kultur und des Bewusstseins.

Und wir sollten uns bewusst machen, wie sich diese Krise für uns anfühlt.

An der Art und Weise, wie die Gegenwart aufbricht, können wir eine Menge über die Zukunft erfahren. Und so lade ich Sie ein, das zu tun, was Donna Haraway vor­schlägt, um mit der Situation umgehen zu können – nämlich für einen Moment »bei den Problemen zu verweilen«. Es mag für diese Meta-Krise keine direkten Lösungen geben, weil wir nicht klar erkennen können, wohin uns unsere Reise als Spezies führt. Aber vielleicht ist das auch nicht der Punkt. Ansätze wie die Entwicklung von komplexem Denken, systemischem Denken oder integraler Metakognition – die alle wertvolle und hervorragende Antworten auf die Krise bieten – lassen uns nicht notwendigerweise erkennen, wie wir ein neues Bewusstsein verkörpern können. Ich schlage vor, dass wir etwas radikal Einfaches tun und den direkten Kontakt zur »prallen Gegenwart« halten. Wenn wir empfindsamer für die Gegenwart werden – wie es die Künstler als Kultur­schaffende schon immer sind – dann können wir uns auf alle möglichen zukünftigen Ereignisse einstellen, so McLuhan. Wir können uns auf jede latente Zukunft einstellen, die wir uns in unserer »sozialen Vorstellung« erträumen.

DAS PLANETARISCHE BEWUSSTSEIN TAUCHT ZUERST ALS EINE GEFÜHLSSTRUKTUR AUF.

Dazu leben wir bereits in der Zukunft oder – um genau zu sein – ist die Zukunft bereits in uns lebendig. Wir sind dabei, wie Kim Stanley Robinson kürzlich im »New Yorker« schrieb, eine neue »Gefühlsstruktur« zu entwickeln. Die Pandemie gestaltet unsere Vorstellungen um. Sie durchbricht den Rhythmus des modernen Lebens und damit unser Zeitbewusstsein. Experten und Journalisten merken an, dass die Quarantäne unser Zeitgefühl auf den Kopf stellt und die Arbeitswoche in eine »Zeitsuppe« verwandelt. Inzwischen bringen uns die Verwerfungen in der globalen Ökonomie zu der Frage: Ist unsere Art zu leben wirklich kompatibel mit dem Rest der Erde? Welche anderen regenerativeren Wirtschafts- und Gesellschaftsformen sind möglich? Letztes Jahr ist wahrscheinlich das erste mit vielen beunruhigenden, immer intensiveren ­»Schockerlebnissen«, welche unsere Weltsicht verändern werden. Und jedes Mal, zwischen Blitz und Donner, halten wir inne und fragen uns, ob es eine andere Art zu leben gibt.

In gewissem Sinne sind wir bereits auf dem Weg zu einem »planetarischen« Bewusstsein.

Wir wissen, dass die menschliche Noosphäre aufs Engste mit der Biosphäre verbunden ist. Es ist wohl nichts entscheidender für unser Überleben als Spezies, als eine Form des planetarischen Bewusstseins zu entwickeln. Jedoch scheinen wir das erst durch den Zusammenbruch des Alten zu lernen. Michaël Bauwens, Peer-to-Peer- und Gemeinwohlforscher, beschreibt diesen Prozess als eine »pädagogische Katastrophe«, eine Krise der Lehre. Die Angst, die wir gegenwärtig spüren, lädt uns dazu ein, ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln: »Das ganze ›System‹ fällt auseinander, nicht wahr?« Und hier ist dann das versteckte Juwel zu finden: »Es gibt ein Ganzes, zu dem ich gehöre!« Wie Robinson es im Sinne der Gaia-Hypothese der Biologin Lynn Margulis und des britischen Wissenschaftlers James Lovelock so wunderbar formulierte: »Wir sind Gesellschaften, die aus Gesellschaften bestehen.«

Das planetarische Bewusstsein taucht zuerst als eine Gefühlsstruktur auf, als Negativ seiner selbst. Wenn wir bei diesem Bild verweilen – wenn auch durch ein dunkles Glas betrachtet – könnte uns dieser so wichtige Sprung gelingen – vom bloßen Verlust unserer Vergangenheit hin zu einer Mit-­Gestaltung der Zukunft.

Author:
Jeremy D. Johnson
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