Die Politisierung des Körpers

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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January 12, 2015

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Ausgabe 05 / 2015
|
January 2015
Vom Körper den wir haben zum Leib der wir sind
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Kampf um unsere Menschlichkeit


„Gender“ ist ein Wort, das erst in den letzten Jahrzehnten mit dem Aufstieg der Frauenbewegung entstanden ist und meint, dass unsere Rollen als Frauen und Männer von der Kultur geprägt werden. Elizabeth Debold wirft einen Blick auf Versuche, diesen Begriff politisch zu nutzen, und auf die Möglichkeiten für eine neue Geschlechterbeziehung, wenn wir erkennen, dass wir unsere Genderidentität formen können.

Die Frauen in den sozialistischen Ländern wurden früher von Frauenrechtlerinnen im Westen oft etwas beneidet: Immerhin gab es Vollbeschäftigung für Frauen und öffentlich finanzierte Kinderbetreuung. Als ich mit einer Freundin zu einem Vortrag anlässlich der jährlichen Cornelia Goethe Colloquien über Feminismus im postsozialistischen Europa ging, war ich nicht auf das vorbereitet, was ich dort zu hören bekam. Natürlich wusste ich, dass es in diesen Ländern Probleme gibt, weil sie zwischen Westen und Osten hin- und hergerissen sind, und dass die katholische Kirche wieder an Einfluss gewinnt. Aber mir war nicht klar, wie viele Kleriker den Begriff Gender – insbesondere das Wort „Genderideologie“ – als eine Parole nutzen, um eine konservative nationalistische Identität und Ideologie zu organisieren und zu formulieren.
Interessant, ich habe mich oft gefragt, warum so wenige Menschen die radikalen Implikationen unseres sich entwickelnden Verständnisses von Gender erkennen. Nun scheinen die Traditionalisten im postsozialistischen Osteuropa zu dieser Erkenntnis aufzuwachen und reagieren in alarmierender Weise. Aber was ist eigentlich so radikal an Gender? Gender, der englische Begriff, der meist in akademischen Kreisen benutzt wird, bedeutet nicht Geschlecht, wie das Geschlecht eines Tieres. Gender bezieht sich auf unser meist unbewusstes inneres Gefühl des Ich-Seins, das in Ideen und Glaubenssätzen darüber eingebettet ist, was es in einer bestimmten Kultur heißt, ein Mann oder eine Frau, männlich oder weiblich zu sein. Allgemein könnte man sagen, dass wir mit einem Geschlecht geboren werden, unser Gender aber erst erlernen. Die Idee, dass es einen Unterschied zwischen dem Geschlecht (als Rolle, die durch die Rolle in der Fortpflanzung definiert wird) und Gender ist sowohl tief verwirrend als auch befreiend. Die Kluft zwischen beidem öffnet einen extrem politisierten Raum der Möglichkeiten, der in den letzten 50 Jahren den menschlichen Geist dazu veranlasst hat, neu darüber nachzudenken, was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein, und wie wir zusammenleben. Bischöfe in ganz Europa sehen diese Kluft als einen bedrohlichen Riss in der Struktur der Gesellschaft. Ihr Wunsch, diesen Riss wieder zu schließen, hat gefährliche Implikationen für ganz Europa.

Feindbild Genderideologie

In einem überraschend drastischen und unverblümten Hirtenbrief der Bischöfe Polens vom 29. Dezember 2013 beschreiben sie „Genderideologie“ und „Genderismus“ als „das Produkt vieler Jahrzehnte der ideologischen und kulturellen Veränderungen, die tief im Marxismus und Neo-Marxismus verwurzelt sind.“ Ein anderer Brief der kroatischen Bischofskonferenz stellt fest: „Er schuf sie als Mann und Frau!“ Damit meinten sie, dass Gott Mann und Frau schuf, damit sie unterschiedliche Rollen einnehmen, die in der Ehe geheiligt werden. Gender ist eine „unmenschliche Revolution“, die „ein Ausdruck einer ‚Kultur des Todes‘ ist, die die Vorherrschaft Gottes bedroht und die Zivilisation zerstören könnte. Ein Kommentator im polnischen Kulturmagazin „Kultura Liberalna“ erklärt, dass „Gender“ zu einem „schmutzigen Wort geworden ist, das eine ganze Reihe von Angriffen im öffentlichen Diskurs in Polen nach sich gezogen hat.” Und auf einer polnischen Webseite ist zu lesen: „Genderismus ist wie Kommunismus. Wir müssen uns auf einen langen Kampf einstellen!“

Zum ersten Mal in der Geschichte ist das Gebären und Aufziehen von Kindern nicht einfach eine selbstverständliche Rolle, sondern eine Option.


Natürlich könnte man argumentieren, dass man von Bischöfen, die von den beiden letzten sehr konservativen Päpsten ernannt wurden, reaktionäre Aussagen erwarten kann. Aber doch ist die Schnelligkeit, mit der sich diese Anti-Gender-Ideologie in Europa ausbreitet, überraschend. Andrea Pető von der Central European University in Budapest zeigte bei der Veranstaltung an der Goethe Universität Poster von Menschen, die auf der Straße gegen „Genderideologie“ protestieren, so als wäre es eine Art von Faschismus, gegen die man sich aggressiv wehren müsste. Pető bemerkte, dass der Brief der polnischen Bischöfe in der Slowakei, in Kroatien, Ungarn, Slowenien, Österreich und sogar Frankreich positives Echo fand. Sie zitierte die Arbeit der polnischen Feministin Agnieszka Graff, die beobachtet, dass die Kirche mit dem „Stadion“ zusammenarbeitet. Die Fußballhooligans reagieren mit Wut auf die ständige Aushöhlung ihres Stolzes, ihrer Macht und ihrer Position inmitten einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und den neuen Bewegungen für Frauenrechte. Natürlich sind auch die Nationalisten mit an Bord. Diese Situation erinnerte mich sofort an die Zeit der Weimarer Republik in den 1930er Jahren. Vorausschauend sagte Graff schon 2007: „Es geschieht etwas sehr Beunruhigendes: Frauenrechte werden mit einem Verrat am Polnischsein gleichgesetzt. Polnischsein bedeutet, dass unsere Frauen anders sind als die Schlampen im Westen und unsere Männer sind richtige Männer und nicht irgendwelche Transvestiten oder Transsexuelle aus Berlin.“ Das Resultat, das sich immer stärker bemerkbar macht, ist eine gefährliche Mischung aus moralischer Selbstgerechtigkeit, verwundetem Machismo und patriotischem Eifer in einer Allianz zwischen der reaktionären Kirche, den Fußballhooligans und den Neo-Nationalisten.
„Er schuf sie als Mann und Frau!“ ist eine Aufforderung zur Beibehaltung traditioneller Rollen im Angesicht der homosexuellen Ehe und den Veränderungen, die durch die Bewegung für Frauenrechte in Gang gesetzt werden. Ironischerweise sind in den Ländern, die früher die Gleichberechtigung von Frauen und Männern bei der Arbeit umsetzten, die Frauenrechte in Gefahr. In der schwierigen Anstrengung dieser Länder, sich wirtschaftlich zu behaupten, haben Frauen Boden eingebüßt. Wenn Frauen und Männer arm und arbeitslos sind oder einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen und keine staatliche Unterstützung erhalten, kann eine romantische Vergangenheit an Attraktivität gewinnen, in der Frauen Mütter waren und sich um ihre Männer kümmerten, die wiederum die Familie ernährten. Die Bischöfe bezeichnen dies als den „natürlichen“ Zustand.

Ein Anfang ohne Trennung

Aber das Geschichtsverständnis der Bischöfe geht nicht weit genug zurück. Die Idee, dass der Mann natürlicherweise der Herr und Gebieter der Familie ist und dass Frauen abhängige Fürsorgerinnen sind, den Männern untergeordnet, ist eine kulturelle Vereinbarung, die sich vor etwa 10.000 Jahren mit der Entwicklung der Landwirtschaft einstellte. Das scheint ewig her zu sein, aber wenn man es genauer betrachtet, sieht es anders aus: Trotz unserer Neigung, uns prähistorische Zeiten nach dem Muster der „Familie Feuerstein“ vorzustellen, zeigt die neueste Forschung, dass die archaischen Menschen nicht einmal ein Bewusstsein für Geschlechterunterschiede als stabile Denkkategorie hatten. In „Das Denken der Seele & der Zauber des Geistes“ beschreibt Willy Sutter dieses undifferenzierte Bewusstsein: „“Der archaische Mann ist der Faustkeil, den er in den Händen hält; die archaische Frau ist die Beeren, die sie pflückt, der archaische Mann ist die Frau, mit der er sich paart, und die archaische Frau ist der Mann, mit dem sie lagert. Die funktionale Geschlechteraufteilung, die es vermutlich gegeben hatte, hatte keine bewusstseinsmäßige Entsprechung.“

Eine Studie nach der anderen zeigt, dass sich viele Frauen lieber ganz dem Muttersein widmen würden, wenn sie es könnten.


Männer waren für die Besamung und Frauen für das Gebären der Kinder zuständig, beides fand im Kampf ums Überleben statt. Sutter merkt an, dass sich vor 12.000 Jahren, als Gartenbau und Landwirtschaft begann, in den Höhlenzeichnungen zwei unterschiedliche Geschlechter zeigen. Er erklärt: „Es fällt auf, dass in der spätmagischen Phase auch Darstellungen von Phallen und Vulven auftauchen. Nun gibt es im Bewusstsein offensichtlich nicht mehr nur Kräfte oder allgemein Menschen, sondern Männer und Frauen. Das deutet nicht nur auf erste Fruchtbarkeitskulte hin, sondern auch auf beginnendes Geschlechterbewusstsein. Natürlich sind es immer schon die Frauen gewesen, die Kinder geboren haben und die Männer sind diejenigen mit dem Penis. Aufkommendes Geschlechterbewusstsein heißt nun aber, dass die Menschen sich dessen auch bewusst werden. Das Bewusstsein entwickelt such also merklich weiter.”
Als 10.000 Jahre später der christliche Gott erscheint, ist der Rollenunterschied zwischen Männer und Frauen fest etabliert. Die Männer waren nicht länger diejenigen, die für die Besamung zuständig waren, sie waren Patriarchen, Handwerker und Väter. Sie hatten in der Kultur eine genderspezifische Rolle entwickelt. Die Sorge der Männer um die Vaterschaft führte dazu, dass die Männer die kulturelle Produktion kontrollierten, die auch zum Kontext für das Gebären und Aufziehen der Kinder durch die Frauen wurde. Für die folgenden 10.000 Jahre – und auch die 190.000 zuvor – war die weibliche Verkörperung als die Gebärerin der Kinder ihre wichtigste Funktion. Der kulturelle Kontext hat sich im Laufe der Zeit verändert, aber die Gleichsetzung der Frau mit dem Gebären und Aufziehen der Kinder veränderte sich nicht.
Warum gehe ich soweit in die Vergangenheit zurück? Um zu zeigen, wie groß die Veränderung ist, in der wir uns gerade befinden. Zum ersten Mal in der 200.000 Jahre währenden Geschichte unserer Spezies ist das Gebären und Aufziehen von Kindern nicht einfach eine selbstverständliche Rolle, sondern eine Option. In den vergangenen 50 bis 100 Jahren konnten immer mehr Frauen sich engagieren und Verantwortung für das Wissen, die Systeme, Konventionen, Moralvorstellungen und Beziehungen übernehmen, die unsere Kultur ausmachen – und dies ist nur einem kleinen Prozentsatz der Frauen weltweit möglich. Erst mit den Methoden der ungefährlichen und rechtlich abgesicherten Geburtenkontrolle wurde dieser große Übergang möglich. Zum ersten Mal können Frauen ihre Identifikation mit Sex und dem Gebären und Aufziehen der Kinder lockern, um neue Rollen einzunehmen, neue Fähigkeiten zu entwickeln und gemeinsam mit den Männern die Kultur zu schaffen. Die Frauen beginnen, ihre Genderidentität zu verändern und neu zu schaffen.

Wiederentdeckung der Menschlichkeit

Als wir die Goethe Universität verliessen, fragte ich meine Freundin, die als Coach mit vielen Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft arbeitet: „Wie viele Frauen würden sich dafür entscheiden, zuhause zu bleiben und sich ganz dem Muttersein widmen, wenn sie es könnten?“ Sie dachte zwei Sekunden nach und sagte: „Etwa drei von vier.“ Ich musste an das „Norwegen-Paradox“ denken: Eines der Länder mit starken feministischen und egalitären Bewegungen konnte die Vorliebe der Frauen für „weibliche“ Berufe und Teilzeitarbeit nicht verändern. Eine Studie nach der anderen zeigt, dass sich viele Frauen lieber ganz dem Muttersein widmen würden, wenn sie es könnten.

Der Wunsch des menschlichen Geistes, das Ganze unserer Menschlichkeit zu umfassen, ist unaufhaltbar.


Aber auch Männer sagen mittlerweile oft das Gleiche: Sie würden lieber zuhause bleiben und sich um die Kinder kümmern. Unsere Arbeitsplätze sind meist zu seelenlosen Orten ohne Werte geworden. Das trostlose Leben in einer entfremdeten Arbeitswelt im Gegensatz zur Erfüllung, die man beim Aufziehen der Kinder erlebt, macht das Zuhause für beide Geschlechter zu einer attraktiven Option. Die große Historikerin Gerda Lerner einst schrieb einst dazu: „Die Attraktivität der neuen Konservativen ist ihr Versprechen, dass sich im häuslichen Umfeld nichts verändert. Die Menschen haben Angst vor Veränderungen in diesem Bereich, weil es die letzte humanisierende Kraft in unserer Gesellschaft ist und sie berechtigterweise darauf hinweisen, dass dieser Bereich bewahrt werden muss.“
Es ist eine kraftvolle Erkenntnis, wenn wir sehen, dass Frauen und Männer die Menschlichkeit schützen wollen. Wenn man diese Menschlichkeit dadurch schützen will, dass man Frauen als ungleich sieht, damit sie sich auf das Häusliche beschränken, wie es der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan fordert, oder einen Krieg gegen die „Genderideologie“ ausruft, dann versucht man aber, die Zukunft zu retten, indem man in die Vergangenheit geht. Bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Unsicherheit und den ethnischen Konflikten wird die Versuchung, sich am Vergangenen zu orientieren, unvermeidlich sehr groß sein.
Gender deutet hin auf eine Kluft zwischen den Chromosomen, die unsere Rolle in der Fortpflanzung bestimmen, und unseren Möglichkeiten in der Welt, die wir kreieren. Diese Kluft fordert uns heraus, eine „humanisierende Kraft“ in die Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu bringen. Der Wunsch des menschlichen Geistes in jedem von uns, das Ganze unserer Menschlichkeit zu umfassen, ist langfristig gesehen unaufhaltbar. Korrupte Regierungen und schwierige Wirtschaftslagen bringen Frauen vielleicht dazu, sich mit Teilzeitarbeit und selbst organisierter Kinderbetreuung über Wasser zu halten. Aber dies wird Frauen nicht davon abhalten, eine Stimme und eine Wirkung im öffentlichen Leben erreichen zu wollen. Gleichermaßen werden Krieg und Manipulation nicht ewig die Suche von Männern nach einer tiefen Fürsorge vereiteln. Unsere „Enkulturation“, das unmerkliche Hineinwachsen in die Kultur, hat unseren Körper und Geist mit einer Genderidentität geprägt, die in der Vergangenheit ganz anders war und in der Zukunft ganz anders sein kann. Dabei müssen wir wachsam sein und dürfen inmitten der Unsicherheit und des Chaos der Gegenwart nicht die Vergangenheit romantisieren. Unsere Entschlossenheit zur Geschlechterbefreiung ist auch eine Verpflichtung gegenüber dem tiefen Wert der Demokratie.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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