Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 2, 2021
Es gibt eine ganze Reihe von Diagnosen unserer Zeit als Umbruchszeit – aufgrund der wirtschaftlichen Dynamik, des digitalen Wandels, des Verlustes und des Zurücktretens der klassischen Religionen aus dem öffentlichen Leben. Hier kommt ein Buch, das einen Schritt weiterführt.
Johannes Hoff will in seinem Werk nämlich neben der Diagnose und der Analyse den Weg weisen. »Das Himmelreich leidet Gewalt«, heißt es im Neuen Testament. Daher will, daher muss das Heilige verteidigt werden, angesichts der naturalistischen und transhumanistischen Glaubensrichtungen, die für viele Menschen so selbstverständlich geworden sind, dass sie nicht einmal als Religion oder Religionsersatz erkannt werden. Zu dieser Verteidigung des Heiligen angesichts unserer digitalen und transhumanistischen Gegenwartskultur ist Hoff angetreten. Konzeptuell ist ihm diese Verteidigung sehr gut gelungen. Seine Argumente sind fundiert. Seine Kenntnis der Tradition ist atemberaubend tiefgründig – das Literaturverzeichnis umfasst geschätzte 1200 Titel, zumeist große Texte. Werbetechnisch? Eher nicht. Wenn man diesen Text mit Bestsellern wie »Homo Deus« von Yuval Harari vergleicht, dann verlangt er dem Leser um Hausnummern mehr Mitdenken, Widerstand, Zwischengedächtnis ab und ist weniger gefällig. Das liegt daran, dass der Text kein simples Narrativ präsentiert, dem man bei einem Glas Rotwein am Abend 100 Seiten lang gerne folgt, weil es einem genauso gefällig die Gehirnwindungen hinunterrinnt wie der Rijoa durch die Gurgel. Der Text ist eher wie ein Korb voller Nüsse, die man erst knacken muss, bevor man sie genießen kann (die aber dann durchaus sehr gesund sind). Und das ist nicht jedermanns Sache. Wenn man sich aber diese Mühe macht, dann wird man reich belohnt. Hoffs Sprache hilft dabei: Sie ist sehr präzise, gut durchdacht und kommt mit einigen wirklich treffenden Wendungen daher, sodass die Lektüre intellektueller, wenngleich nicht seichter Genuss ist.
»Nicht die Frage nach dem Menschen erlaubt uns zu begreifen, was das Wort ›heilig‹ bedeutet; es ist vielmehr umgekehrt: Nur die Frage nach dem Heiligen erlaubt uns zu verstehen, was das Wort ›Mensch‹ bedeutet.« (S. 538) Das ist die Zentralthese des Buches, auf die Hoff hinarbeitet und die in immer neuen Zyklen auftaucht. Es ist selten in letzter Zeit, dass Theologen – Hoff ist Fundamentaltheologe, Dogmatiker und Philosoph – sich so zu Wort melden, dass auch säkulare Intellektuelle, die nicht an Theologie interessiert sind, aufhorchen sollten. Dieses Buch gehört in die Kategorie, die eigentlich seit Tillich, Rahner und Küng unbesetzt geblieben ist, wenn ich das recht sehe.
Hoff argumentiert sehr stringent. Seiner Diagnose nach ist der Sündenfall des westlichen Denkens bereits im Spätmittelalter zu verorten. Dort ist im Gefolge von Ockhams Kritik an der »Summe der Theologie« des Thomas von Aquin der rational und ästhetisch begründete Kosmos der Antike und des Mittelalters zerbrochen, also etwa um 1350 bis 1400. Die Diagnose halte ich für klug und innovativ. Die Franziskaner des beginnenden 14. Jahrhunderts, William Ockham und Duns Scotus, versuchten nämlich, die Naturalisierung der Religion, also die Verbindung theologischen und philosophischen Denkens, die das Lebenswerk des Thomas von Aquin kennzeichnet, kritisch zu hinterfragen. Sie taten das, weil ihnen die Allmacht Gottes als theologische Lehre wichtiger war als eine Verbindung zwischen Denken und Glauben, wie sie noch das Hauptanliegen von Albertus Magnus und Thomas von Aquin waren. Technisch nennt man diese neue Richtung, die Ockham begründete, die Schule des Nominalismus. Wer das besser verstehen will und dabei noch unterhalten werden will, findet dazu im wohlbekannten Roman von Umberto Ecco »Der Name der Rose« eine schöne Rahmenerzählung. Denn der Hauptheld des Romans ist
William Ockham nachempfunden.
Durch diese Kritik führten diese neuen intellektuellen Kritiker, Ockham, Duns Scotus und andere, eine Spaltung ein – zwischen Natur und Gnade, zwischen Gott und Welt, zwischen Materie und Geist –, in deren Verlauf nicht nur die Allmacht Gottes, sondern Gott selber immer mehr in den Tiefen eines materialistischen Konzepts der Welt versank und damit das Heilige ausgetrieben wurde. Aus ihr tritt uns heute der Transhumanismus entgegen. Darunter ist jene Haltung zu verstehen, die versucht durch Ingenieursdenken den Menschen »zu vervollkommnen«: technisch zu verfeinern durch alle möglichen Implantate, Anwendungen, Schnittstellen zu digitalen Apparaten; den Tod durch medizinische Innovationen hinauszuzögern oder zu verbannen; Superintelligenz zu schaffen, die, wie manche Dystopien befürchten, uns am Ende die Kontrolle aus den Händen nehmen wird; Algorithmen, die uns die vermeintliche Freiheit der Wahl so subtil verdrehen, dass wir gar nicht merken, wie wir manipuliert durch die Welt wanken, gleichsam wie algorithmische Zuchtschweine der Datenkraken, die nur den einen Zweck erfüllen, diese zu bereichern, und sich dabei noch glücklich und frei fühlen. All dies hat Hoff im Blick und weist immer wieder darauf hin, wie diese Entwicklung eine historisch konsequente und damit sachlich logische Entwicklung jener spätmittelalterlichen Weichenstellung war, an deren Ende der Prellbock der Postmoderne steht, vor dem jetzt wir stehen.
Die Rettung des Menschen ist nur möglich durch ein Wiederfinden und Ins-Recht-Setzen des Heiligen.
»Ohne eine spirituelle Revolution, die uns dazu anleitet, unseren Sinn für das Heilige wieder zu entdecken, ist der Mensch nicht zu verteidigen.« (S. 507) Wie genau das geht, muss wohl einem weiteren Band vorbehalten bleiben. Dazu finden sich in diesem Buch vor allem Andeutungen: spirituelle Sammlung, im Rückgriff auf die mystagogischen Ansätze der Antike. Diese finden sich bereits bei Platon und der neuplatonischen Tradition, bei Augustinus, später Meister Eckhart und vor allem bei Nicolaus Cusanus. In der Moderne dient Hoff die Anthropologie Max Schelers als eine Folie. Anhand von Scheler entwickelt er eine wichtige These, dass nämlich Werte und damit Ethik nicht einfach aus einem gesellschaftlichen, politischen und sozialen Diskurs erwachsen oder utilitaristisch fixiert werden, wie das heute die meisten glauben. Vielmehr sind Werte im Handeln, im Austausch mit der Welt, vor allem im Denken, immer schon gegenwärtig.
Geistesgeschichtlich ist das eine sehr interessante Wendung. Denn sie greift eine Tradition auf, die an der Wende zum 20. Jahrhundert neue Wege beschritt. Viele Philosophen und Naturwissenschaftler hatten im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Philosophie Kants oder die idealistische Schule des Denkens, die von Hegel ausging, als unbrauchbar empfunden. Denn die Naturwissenschaft ging einfach ihrer Wege und mündete für viele in einer materialistischen Weltsicht. Die Philosophie Kants war für viele nicht mehr brauchbar.
Franz Brentano versuchte in dieser Zeit, im Rückgriff auf Aristoteles und die scholastische Tradition des Thomas von Aquin die Philosophie neu zu begründen, und zwar empirisch, durch Wendung nach innen sozusagen, und damit den Weg der Naturwissenschaften mit dem der Philosophie zu verbinden. Damit begründete er die Psychologie. Edmund Husserl, sein bedeutendster Schüler, entwickelte daraus die Phänomenologie. Ein anderer Schüler, Carl Stumpf, wurde zu einem Wegbereiter der empirischen Psychologie, und dessen Schüler Max Scheler begründete die Anthropologie, auf die sich Hoff bezieht. Insofern ist Hoffs Ansatz in einer Linie zu sehen mit dieser Aufbruchsbewegung am Ende der Moderne, die versucht, die Aporien genau dieser Moderne zu überwinden, die wissenschaftlich in eine Spaltung zwischen Naturwissenschaft und Geistes- und Kulturwissenschaft, ideologisch in die Kryptoreligion des Materialismus mündete und uns politisch-ökonomisch die Probleme beschert hat, die wir jetzt lösen müssen. Dies beginnt bei drastischen sozialen Ungleichgewichten, geht über die Entmündigung des Menschen durch digitale Bots bis hin zur drohenden ökologischen Katastrophe. Denn wir befinden uns in einer desolaten Situation: »Es dauerte … eine gewisse Zeit, bis man sich dran gewöhnt hatte, schlechte Theorien mit Nobelpreisen zu dekorieren; doch zu guter Letzt gelang es, unser Alltagshandeln so zurechtzustutzen, dass es mit den einschlägigen Theoriemodellen zusammenpasste.« (S. 283)
In einer Zeit, in der lebensferne Modelle, faktenarme Theorien und problematische wissenschaftliche Ansätze mit Preisen ausgezeichnet werden und von den populären Medien gefeiert werden, ist nicht nur das Heilige bedroht, sondern auch der Mensch selbst. »Der Mensch ist nämlich vor allen anthropologischen Definitionsversuchen zunächst einmal das: ein Bild der Namen, Artefakte und Orte, die in ihm einen Sinn für das Heilige erwachen lassen.« (S. 318) Daher ist die Rettung des Menschen nur möglich durch ein Wiederfinden und Ins-Recht-Setzen des Heiligen. Das wäre meine Kurzfassung von Hoffs Buch in einem Satz. Dass es kein triviales Unterfangen ist, dies plausibel zu machen, leuchtet wohl unmittelbar ein. Es benötigt viele Argumente und mindestens ein derart profundes Wissen, wie es diesem Buch zugrunde liegt. Vielleicht gelingt Johannes Hoff ja eine Kurzfassung »ad usum delphini« (das war die Bezeichnung für Bücher, die zum Gebrauch des französischen Thronfolgers, des »dauphin«, redigiert worden waren). Das ist mein einziger Wunsch an den Autor, der ansonsten eine tiefschürfende, gründliche Arbeit geleistet hat, die es verdient, weit bekannt und gelesen zu werden.