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January 12, 2015
Über den Film „Birdman (oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“
Am Ende meines Lebens hoffe ich, dass ich nicht das Gefühl haben werde, es vergeudet zu haben. Ich hoffe, dass ich der Welt mehr gegeben als genommen habe. Ich hoffe, dass ich einen einzigartigen und bedeutungsvollen Beitrag gegeben habe. Natürlich bin ich mit dieser Hoffnung, der Welt etwas Besonderes geben zu können, nicht allein. Joseph Campbell sah diesen Wunsch als den Gipfel aller großen Mythen in der Geschichte der Menschheit (was heute als “Heldenreise” bekannt ist). Dieser Wunsch ist faszinierend, weil seine Erfüllung für unsere Psyche genauso lebenswichtig sein könnte, wie Nahrung und Schutz für unsere Biologie. Der einflussreiche amerikanische Psychologe William James sagte einmal: „Die Wahrnehmung der Wirklichkeit, hat den Menschen immer dazu veranlasst, die Welt im Grunde als eine Bühne für Heldentum zu sehen.“ Können wir uns als Menschen in unserem ganzen Potenzial entwickeln, wenn wir uns nicht selbst auf diese Heldenreise begeben? Der mexikanische Filmemacher Alejandro Gonzalez Inarritu untersucht in seinem preisgekrönten Film „Birdman (oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ die Komplexität, die sich zeigt, wenn wir diesem Impuls folgen.
Ironischerweise thematisiert „Birdman“ unseren Wunsch nach Heldentum in einem fiktiven Umfeld, in dem Filme mit Superhelden Hochkonjunktur haben. Riggan Thomson (gespielt von Michael Keaton) ist ein ehemaliger Superstar, der in einem Superheldenfilm namens „Birdman“ die Hauptrolle spielt. Er lehnt ab, in „Birdman 4“ wieder diese Rolle zu übernehmen. Daraufhin versandet seine Karriere und einige Jahrzehnte vergehen. Er sieht, wie jüngere Schauspieler in neuen erfolgreichen Superheldenfilmen spielen. Sie bekommen auch die Aufmerksamkeit der Kritiker, die ihm immer versagt blieb. In seinen Sechzigern setzt Riggan den Rest seines Rufs und Geldes ein, um eine bekannte Kurzgeschichte ins Theater zu bringen, wobei er die Rolle des Hauptdarstellers, Produzenten, Drehbuchautors und Regisseurs übernimmt.
Indem er seiner Sehnsucht nach Heldentum folgt, begegnet er wie jeder Held beängstigenden Herausforderungen. Der Film spielt während der zunehmenden Anspannung der drei letzten Tage vor der Premiere. Die Öffentlichkeit reagiert zumeist zynisch auf Riggans Vorhaben. Bei einer Pressekonferenz fragt ein Reporter, ob das Theaterstück ein verzweifeltes Projekt der Eitelkeit eines abgewrackten Superhelden ist. Riggans Tochter beschuldigt ihn, dass das Stück nur ein unbedeutendes Denkmal für sein Ego ist. Selbst die innere Stimme des Birdman, den er früher verkörperte, bezeichnet sein Vorhaben als vergeblich.
In „Birdman“ wird die Grenze zwischen stärkerem Selbstvertrauen und unstillbarer Selbstbezogenheit verwischt.
Zur Verteidigung Riggans springt ihn sein bekannter Schauspülerkollege Mike Shiner (brillant gespielt von Edward Norton) bei und antwortet dem Spott eines einflussreichen Kritikers: „Er geht da raus und riskiert alles. Was machen Sie?“ Keatons natürliche Darstellung macht es dem Zuschauer leicht, sich mit Shiners Interpretation von Riggan zu identifizieren: Ein Mann, der leidenschaftlich darum bemüht ist, einen einzigartigen und wertvollen Beitrag in der Welt zu leisten. Keaton spiegelt unsere universelle Sehnsucht für diese Form der Selbstverwirklichung und dem Mut, den wir brauchen, um ihr zu folgen.
Aber „Birdman“ zeigt auch, dass wir in unserem Heldentum blind dafür werden können, womit wir unsere Großartigkeit nähren. Fast jeder Protagonist im Film versucht, Aufmerksamkeit zu bekommen – mit welchen Mitteln auch immer. „Du verwechselst Liebe mit Verehrung“, bemerkt Riggans Exfrau. In „Birdman“ wird die Grenze zwischen stärkerem Selbstvertrauen und unstillbarer Selbstbezogenheit verwischt. Mike Shiner ist das Gegenbild von Riggans Kampf um Selbstvertrauen: Er ist als Schauspieler akzeptiert und innerlich frei vom Bedürfnis nach der Anerkennung anderer. Aber seine Beziehungen sind eine Katastrophe, denn er ist fast vollkommen unfähig, Empathie für jemanden zu empfinden, und isoliert sich in seinem Egoismus.
„Birdman“ ist beunruhigend, weil die Protagonisten in ihrem Wunsch nach Selbstverwirklichung aus grundlegenden narzisstischen Bedürfnissen schöpfen. Es ist natürlich, dass wir Riggan wünschen, dass er die inneren und äußeren Hindernisse überwindet. Aber was will er eigentlich erreichen und mit welchen Folgen für sich selbst und andere (wie es sich im vieldeutigen Ende des Films zeigt)? Wo verläuft die Linie zwischen dem tiefen menschlichen Bedürfnis, von anderen anerkannt zu werden, und dem unstillbaren Verlangen, die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen? Diese Frage ignorieren wir oft, weil es herausfordernd ist, die eigenen Motivationen zu beleuchten. „Birdman“ bietet uns keinen Ausweg aus der tieferen Reflexion über unsere wahren Beweggründe.
Deutscher Kinostart von „Birdman“: 29. Januar
www.birdmanthemovie.com