Die Sinnlichkeit des Waldes

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

November 6, 2020

Featuring:
Johanna Macy
Ursula Seghezzi
David Seghezzi
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Issue:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
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Unter den Bäumen zu uns selbst finden

Ursula und David Seghezzi führen Menschen in unmittelbare Erfahrungen der Wildnis. Was sie dort finden, eröffnet vielen einen neuen Blick auf den Sinn ihres Lebens. Wir fragten die beiden Naturmystiker, was uns die Wildnis lehren kann.

evolve: Ihr arbeitet mit der Erfahrung unseres Eingebettetseins in die Natur. Ihr bringt die Menschen in Verbindung mit den Rhythmen der Natur und des Waldes. Deshalb möchte ich mit der Frage beginnen, ob Wald Sinn macht. Ist die Begegnung mit dem Wald auch eine Sinnerfahrung?

David Seghezzi: Ja, der Wald macht Sinn, wobei man infrage stellen müsste, ob das Wort »machen« hier richtig ist. Sinn hat für uns mit Sinnlichkeit zu tun. Ohne Sinnlichkeit, ohne Berührung, ohne unsere fünf oder noch mehr Sinne ist es schwierig für den Menschen, Sinn zu erfahren. Deswegen ist das wie ein Fundament, wenn wir mit Menschen arbeiten und sie in die Natur begleiten. Unsere Anregungen sind sehr auf Sinnlichkeit, Berührbarkeit, körperliche Erfahrung ausgerichtet. Sinnlichkeit ist unsere Brücke, um als Menschen mit der Welt Beziehungen und Resonanz zu erfahren.

Ursula Seghezzi: Wir haben in unserem Buch »Naturmystik« unterschieden zwischen dem kleinen Sinn und dem großen Sinn. Unter dem kleinen Sinn verstehen wir, dass man als Einzelner, als Gruppe oder als Gesellschaft definiert, was in Bezug auf uns selbst sinnvoll ist. Es liegt aber auch eine Gefahr darin, dass man selbst den Sinn definiert. Im Extremfall kann es so weit kommen, dass man fragt: War es sinnvoll, ein Drittes Reich zu etablieren? Für viele Menschen war das Dritte Reich sinnvoll und hat Sinn gestiftet, aber es war selbstreferenziell und abgetrennt von größeren Zusammenhängen.

Im großen Sinn gehen wir in die größtmögliche Ausdehnung von Wahrnehmung auf andere Menschen, andere Kontinente oder andere Lebewesen, die ganze nicht-menschliche Welt. Hier beziehen wir Lebenszyklen und Lebensräume mit ein und der Wald als Organismus ist ein erfahrbarer großer Lebensraum.

Indem ich mich möglichst weit ausdehne in meine Bezugnahme, bette ich meinen Platz und meine Bewegung sinnstiftend ein. Diese Einbettung gelingt uns nicht ohne sinnliche Erfahrung von dem, was die großen Zyklen, die großen Rhythmen, die großen Lebensräume von anderen Wesen als mir selbst sind. Dann ist die Gefahr weniger groß, dass ich in einer Ideologie lande, die mir einen scheinbaren Sinn stiftet.

Die Illusion der Getrenntheit

e: Die Besonderheit eurer Arbeit besteht ja d­arin, diese Begegnung mit dem Mehr-als-Menschlichen als Sinnerfahrung zu erschließen, auf die wir uns einlassen müssen. Denn wir sind es gewohnt, uns allein in unseren menschlichen Bezügen wahrzunehmen und zu definieren. Was macht der Wald mit uns, wenn wir den Wald hier als Metapher des Mehr-als-Menschlichen nehmen?

US: Die Sinnkrise in unserer Zeit ist eine Krise unseres Weltbildes. Weltbilder prägen unsere Wahrnehmung. Das Weltbild der letzten Hundert Jahre basiert auf Trennung. Die sinnliche Wahrnehmung, z. B. im Wald, mit nicht-menschlichen Wesen oder anderen menschlichen Wesen, lebt aber in der Beziehung und Durchlässigkeit. Die Atemströme der Bäume gehen durch uns hindurch und wieder zu den Bäumen. Wenn wir wirklich getrennt wären, dann wären wir sofort tot. Diese Illusion der Getrenntheit hat uns in die Misere geführt, in der wir heute sind, und die Sinnkrise ist ein Ausdruck davon. Sinnliche Erfahrungen des Einbezogenseins in einen größeren Rhythmus sind über die Natur sehr schnell möglich. Es ist eine Evidenzerfahrung, eine mit allen Sinnen gemachte Erfahrung davon, dass wir nicht getrennt sind. Diese Erfahrung des Eingebundenseins ist ein Schlüssel, um aus der Sinnkrise herauszufinden.

DIE ATEMSTRÖME DER BÄUME GEHEN DURCH UNS HINDURCH UND WIEDER ZU DEN BÄUMEN. 

e: Was zeigt sich in dieser Erfahrung, das über eine menschliche Verbundenheit hinausgeht?

DS: Wir haben vom kleinen und großen Sinn gesprochen haben. Der kleine Sinn hieße zum Beispiel, dass ich ganz in mir bin und mir irgendwelche Ziele stecke. Wenn Menschen aber vier Tage und vier Nächte allein im Wald verbringen, fasten und eine WaldZeit (auch Visionssuche genannt) durchlaufen, erleben sie ihr Kleinsein. Sie sind in diesem großen Wald gleichzeitig ganz klein, unbedeutend und ganz zugehörig. Wir erfahren, dass wir ganz klein sind, es aber ganz auf uns ankommt, dass wir gemeint sind. Dann entsteht irgendwann bei vielen Menschen eine Freude, nichts Besonderes sein zu müssen und gleichzeitig die eigene Einzigartigkeit zu spüren. Diese Einbettung kommt dann nicht mehr vom Kopf, sondern sie lebt in der Intuition, im Körperwissen oder in der Seele als Erfahrung. Wenn so die eigene Welterfahrung in ein stimmiges Ganzes kommt, stellt sich die Erfahrung von Sinn ein. Es ist eine schöne Erfahrung, wenn ich empfinde, dass ich mich in eine größere Ordnung einfüge und meinen Platz erkenne. Es ist ein stiller Genuss, der Welt so beizuwohnen, mit ihr zu sein und gleichzeitig die Welt zu sein.

US: Insofern wandelt sich die Frage: »Macht der Wald Sinn?« in: »Der Wald bewirkt Sinn«. Es ist diese Wirkung, die sich einstellt, wenn ich dabei bin. Es geht nicht um richtig und falsch, weil dies Kategorien sind, die wir Menschen definieren müssen, sondern um Stimmigkeit. Ist es stimmig? Ist es ein Einschwingen in einen größeren Zusammenhang von Leben? Wir leben häufig in künstlichen Umgebungen, deshalb spüren wir diese natürliche Schwingung nicht so oft. Im Wald, wo mehr Natur ist als Mensch, kann sich der Erfahrungsraum eines stimmigen Ichs öffnen, das stimmige Mitschwingen.

OHNE SINNLICHKEIT, OHNE BERÜHRUNG IST ES SCHWIERIG FÜR DEN MENSCHEN, SINN ZU ERFAHREN.

Unser natürlicher Zustand

e: In dieser Stimmigkeit kommt die Frage nach dem Sinn von einem anderen Platz. Und der Sinn zeigt sich in einer anderen Dimension. Meine Vermutung ist, dass eure Arbeit auch damit zu tun hat, uns in dieser anderen Dimension als Menschen wieder bewusst einzubetten. Ist das eine richtige Vermutung?

US: Ja, wir bezeichnen dieses andere als Naturmystik oder spirituelle Dimension, aber im Grunde ist es unser natürlicher Grundzustand des Menschseins. Angefangen bei der Physis über die Emotionen bis zu unserem energetischen Feld sind wir in Schwingung und können uns einschwingen. In diesem Schwingungsraum, spirituellen Raum oder Seelenraum sind wir verbunden mit einer Dimension, die über das Materielle hinausgeht. Darin entsteht ein Sinngefühl, das sich in Genuss, stiller Freude und Lebendigkeit äußert.

DS: Wichtig ist hier natürlich auch, wie der lebendige Raum ist, in den ich als Mensch hineingehe. Es macht natürlich einen riesigen Unterschied, ob ich an einen wilden Fluss gehe oder ob der Fluss eher ein begradigter Kanal ist. Dann schwingt wahrscheinlich weniger an Lebendigkeit, Freude, Genuss und Stimmigkeit, sondern eher Traurigkeit, Leere oder Beklemmung. Es ist gar nicht mehr so oft möglich, in Landschaftsräume gehen zu können, die etwas Urtümliches, Wildes, aus sich selbst heraus Gewachsenes haben. In solchen Landschaftsräumen schwingt dann etwas anderes an. Resonanz bedeutet, dass die Schwingung oder die Energie des Wilden und Urtümlichen, das einer Landschaft innewohnt, auch in uns wieder anschwingt: unsere eigene Wildheit, das Urtümliche in uns, das Nicht-Kultivierte und das Bunte. Wir brauchen solche Naturräume und Erfahrungsräume, damit diese Seiten in uns auch lebendig sein können. Aber es gibt nicht mehr so viele von diesen wilden, urtümlichen naturseelischen Räumen, in denen diese Vielfalt noch da ist. Daraus erwächst bei Menschen oft eine Entschlossenheit, sich dafür einzusetzen, dass diese Räume in der Natur bestehen bleiben oder wieder größer werden können.

e: Ich möchte auf dieses Bild vom Kanal und vom Fluss zurückkommen. Weil die Erfahrung ja unmittelbar eine andere ist. Der begradigte Kanal dient einem Nutzen, während ein wilder, mäandernder Fluss eine gewisse Nutzlosigkeit hat. Er ist nicht auf einen Nutzen angelegt, sondern lebt aus dem Wilden, das einfach so ist. Heute richten wir die Welt grundlegend auf den Nutzen aus. Selbst in der Natur sehen wir den Nutzen der Erholung. Die Erfahrung, von der ihr sprecht, und der Sinn, der sich dort zeigt, ist aber ein anderer.

DS: Das Besondere an dem wilden Fluss ist, dass es keinen vorgefertigten Plan gibt, wie er zu fließen hat, sondern es ergibt sich aus der Beziehung, aus der Landschaft. Beim Kanal gibt es einen Plan und einen Nutzen. Wir betrachten aber uns selbst auch auf diese Weise. Da gibt es keine Möglichkeit mehr, abzuweichen und der Stimmigkeit zu folgen. Stimmigkeit und Freude empfinden wir, wenn wir die Freiheit erfahren, dass unser eigenes Leben wie dieser Fluss nicht vorgefertigt, festgelegt, verzweckt, nur auf einen Nutzen ausgerichtet ist, sondern hierhin und dorthin wandern kann. Wenn wir unseren ureigenen Lebensweg finden mit seinem eigenen Fließen, entstehen Sinn, Freude und Stimmigkeit.

US: In unserer Ausbildung haben wir folgendes Experiment gemacht: Die Teilnehmenden sollten drei Naturwesen begegnen, z. B. einem Stein, einem Baum, einer Pflanze. Sie sollten dann zuerst in die Wahrnehmung der Getrenntheit gehen und dann in die Wahrnehmung der Verbundenheit. Bei der Wahrnehmung der Getrenntheit kam sofort dieses Nutzdenken. Ich kann den Baum nutzen. Das heißt, vorgelagert ist eine Empfindung von Getrenntheit, woraus dieses Gefühl des Nutzens entsteht. Es war erschütternd für uns alle, wie tief wir vom Nutzen geprägt sind.

Sinn für alle

e: Diese Sinnerfahrung, die ihr ansprecht, hat aber nicht nur eine persönliche Bedeutung. Wenn ich sie in den Kontext unserer Zeitkrisen stelle, wirft sie die Frage auf, wie wir als Weltgesellschaft zusammenleben wollen. Welche Bedeutung hat diese doch sehr persönliche, individuelle Erfahrung für die Art und Weise, wie wir Kultur und Gesellschaft gestalten?

US: In der Ausbildung war es als Einzelübung angelegt, weil man ja Erfahrungen von erschütternder Getrenntheit oder beglückender Verbundenheit mit der Natur in sich einzeln erleben muss. Dann aber haben wir unsere Erfahrungen in der Gruppe ausgetauscht und uns auch gefragt, wie solche Erfahrungen uns als Menschengemeinschaft in unserem Mitsein und Mitwirken in der Welt verändern. Wenn wir nicht nur über Sinn reden, sondern solche Erfahrungen machen und teilen, stellt sich von allein ein anderes Gemeinschaftsgefüge ein und auch eine andere Entschlossenheit mitzuwirken. In unserer Gruppe stellt sich sofort ein Feld ein, eine besondere Atmosphäre, die ich »herzlich« und »bescheiden« nennen würde. In dieser Atmosphäre fragten wir uns: Was wäre, wenn du deine Arbeit so gestaltest, dass sie bedeutsam ist für das Überleben von allem, dass sie Sinn macht für alle? Dass du nicht als Einzelkämpfer*in arbeitest, sondern in einem Feld, das dich trägt, das du aber gleichzeitig auch mitträgst.

DS: Die Tiefenökologin Joanna Macy spricht von drei Ebenen, auf denen wir am Wandel mitwirken können. Die erste Ebene sind Notfallmaßnahmen, wo man gegen die schlimmsten Zerstörungen kämpft, z. B. dass Regenwald gerodet wird oder hier im Wendland Atommüll gelagert werden soll. Dieses Dagegen ist sehr kraftvoll. Die zweite Ebene sind alternative Lebensformen, indem man in Leuchtturmprojekten solche Praktiken wie die Gemeinwohlökonomie umsetzt. Die dritte Ebene ist die Veränderung unseres Weltbildes, des Bewusstseins, der Kultur des Miteinanders.

Ich glaube, unsere Arbeit richtet sich auf diese tiefste Ebene. Wenn sich dort im einzelnen Menschen etwas verändert und wir uns darüber austauschen, wird es zu einer neuen kollektiven Erfahrung. Aus diesem veränderten Bewusstsein werden sich auch die anderen Ebenen verändern. Daraus entstehen Alternativprojekte, wo Menschen sich sehr handfest einsetzen oder ihren Lebensstil verändern. Oder es wächst die Entschlossenheit, an bestimmten Stellen aktiv zu werden und sich zusammen mit anderen Menschen für eine konkrete Notsituation einzusetzen.

Ein neues Weltbild zu denken, ist relativ leicht, wenn man kognitiv geschult ist, aber es ist etwas ganz anderes, es von innen zu fühlen, im Wald, mit der mehr-als-menschlichen Welt und mit anderen Menschen. Das ist sozusagen der politische Same unserer naturmystischen Arbeit.

ES IST EIN STILLER GENUSS, DER WELT SO BEIZUWOHNEN, MIT IHR ZU SEIN UND GLEICHZEITIG DIE WELT ZU SEIN.

e: Ich habe die Vermutung, dass eure Arbeit weniger eine Arbeit am Weltbild ist als eine Arbeit am In-der-Welt-Sein. Bilder kann ich formulieren, aber an meinem In-der-Welt-sein kann ich mich nur beteiligen. Es ist weniger der Reflexionsprozess, der hier etwas verändert, sondern mein Sein im Wald. Ich lasse mich auf eine bestimmte Realität ein und merke, dass die gar nicht so getrennt ist von mir.

US: Ja, das ist unser Zugang. Und wir legen auch viel Wert darauf, das Erlebte hinterher zu reflektieren, damit wir es bewusst in unsere Tätigkeit umsetzen können, dass es nicht nur ein tolles Erlebnis war, das dann schnell verschwindet. Diesen Vorgang des Hebens ins Bewusstsein kann man als Urheberschaft bezeichnen. Wenn wir Erfahrungen ins Bewusstsein urheben, stellt sich Sinn ein, indem ich solche Erfahrungen von Verbundenheit auch formuliere, teile, bewusst mache.

e: Ich hatte eingangs gefragt: Macht der Wald Sinn? Und eure Antwort war: Nein, »machen« kann der Wald den Sinn nicht. Lasst mich meine Schlussfrage so umformulieren: Ergibt der Wald Sinn? Und wenn ja, welchen?

US: Es hängt wesentlich damit zusammen, wie ich als Mensch in und mit dem Wald bin und ihm begegne. Wenn ich mich einlasse, mich auf den Waldboden setze und in diese Atmosphäre hineintauche, dann kann er Sinn geben. Er gibt ein Gefühl von Verbundenheit, Lebendigkeit, Stimmigkeit und am Ende auch Ausrichtung: mein Leben so auszurichten, dass diese Verbundenheit die Grundlage von allem und für alle ist.

DS: Der Wald schenkt uns auch ein Gefühl der Liebe zur Welt. Daraus entsteht dann oft auch ein Gefühl von Heiligkeit für diese Welt. Der Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl sagte einmal: »Das Hier und Jetzt ist das Heilige Land.« Es geht nicht darum, in der Zukunft irgendwo hinzukommen, sondern was wir jetzt erfahren, kann, wenn wir uns ganz darauf einlassen, eine heilige Qualität haben. Dieser Begriff ist zwar durch Religionen und die Kirche heute sehr belegt, aber er beinhaltet eine eigene Schönheit: Etwas wird heil und wird ganz. Insofern schenkt uns der Wald in jedem Augenblick eine Erfahrung von Heiligkeit und Ganzheit, wenn wir uns darauf einlassen.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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