Die sozialen Medien und wir

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 16, 2020

Featuring:
Prof. Dr. Bernhard Pörksen
Friedemann Schulz von Thun
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 26 / 2020
|
April 2020
Menschliche Reife
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Wir müssen neu lernen, miteinander zu sprechen

Bernhard Pörksen ist ein aufmerksamer Beobachter unseres medialen Klimawandels hin zu Gereiztheit, Erregung und Polarisierung. Sein Plädoyer an uns ist der Aufruf für eine neue Medienmündigkeit. Die Welt der sozialen Medien verlangt von uns eine ganz neue Fähigkeit zum Dialog.

evolve: Die globalen Herausforderungen, die wir momentan erleben – mit der Klimakrise, mit der wirtschaftlichen Herausforderung, jetzt auch noch mit dem Corona-Virus – sind an sich schon eine kulturelle Stresserfahrung. Wir haben aber auch eine neue mediale Situation, in der wir sozusagen als Kultur auf eine neue Art damit umgehen müssen, diese Ereignisse dialogisch zu verarbeiten. Wie können wir angesichts dieser Herausforderungen gesellschaftlich reif miteinander umgehen?

Bernhard Pörksen: Wir erleben eine gigantische Öffnung des kommunikativen Raumes. Auf einmal hat jeder eine Stimme und kann seine Ideen und Vorschläge barrierefrei in die Erregungskreisläufe des digitalen Zeitalters einspeisen. Gleichzeitig erleben wir eine gigantische Vermachtung des kommunikativen Raumes, die Konzentration auf nur ganz wenige Player im digitalen Universum. Google, Facebook, YouTube sind gewissermaßen zu MegaMassenmedien unserer Zeit geworden. Wir als Individuen sind in dieser Gemengelage mit unserem Smartphone zu Sendern und damit medienmächtig geworden. Die Herausforderung besteht darin, dass wir noch nicht medienmündig sind. Das ist der Reifungs- und Entwicklungsschritt, vor dem wir als Individuen, aber auch die Bildungsinstitutionen und gesellschaftlichen Institutionen insgesamt stehen.

Medienmündig werden

e: Was würde Medienmündigkeit in dieser neuen Mediensituation bedeuten?

BP: Zu wissen, dass wir Sender sind und dass die Interaktion von Information nicht völlig berechenbar und kontrollierbar ist. Zu verinnerlichen, dass wir potenziell auf der Weltbühne publizieren, mit einem entgrenzten Publikum. Das bedeutet, die eigene moralische Phantasie zu trainieren, das Zögern zu lernen, die Tugend der Skepsis neu zu entdecken und sich zu fragen: »Was ist glaubwürdige, relevante, veröffentlichungsreife Information?« Wir können so im Sinne eines gelingenden gesellschaftlichen Gesprächs eine Zukunftstugend einüben, die Friedemann Schulz von Thunund ich die »respektvolle Konfrontation« nennen. Also: sich nicht wegducken, nicht opportunistisch ausweichen, sich nicht zurückziehen, sondern sagen, was man authentisch sagen möchte, aber gleichzeitig nicht in die Abwertungsspirale einsteigen! Das wären aus meiner Sicht die wesentlichen Gesichtspunkte eines reifen medienmündigen Umgangs mit diesen neuen, im Kern fantastischen Möglichkeiten: der blitzschnellen Kommunikation, der barrierefreien Interaktion, der kostengünstigen Information.

e: Aber leben wir nicht in einer Zeit, wo der öffentliche Diskurs in Trümmern liegt? Gerade wenn wir uns die Mediendynamik zur Corona-Krise anschauen, zeigt sich diese Spannung zwischen News und Fake News, zwischen Beschwichtigung und Dramatisierung.

DIE SPRACHE DER RESIGNATION IST WEIT IN DIE GESELLSCHAFTLICHE MITTE HINEIN VORGEDRUNGEN.

BP: Ja, es gibt natürlich Sphären des öffentlichen Miteinander-Redens in den sozialen Netzwerken, die schlicht schockieren. Und man kann hier nur diagnostizieren: »Furchtbar, wie hier geschrieben, gehetzt, attackiert wird, mit welchen Fantasien und Techniken der Erniedrigung hier gearbeitet wird gegenüber Minderheiten, gegenüber Frauen, gegenüber Flüchtlingen«. Und doch: Mir ist bei der Auseinandersetzung mit den Dystopien der Gegenwart, dieser Vorstellung des totalen Diskursruins, des Verlöschens des öffentlichen Gesprächs in einem postfaktischen Spektakel, deutlich geworden, dass diese Vorstellungen selbst ein Problem werden können, weil sie sich in selbsterfüllende Prophezeiungen verwandeln können. Sie können dazu beitragen, dass die Engagierten weiter entmutigt werden und so zu dem Diskursruin beitragen, den man eigentlich verhindern möchte. Wenn wir wie Eva Menasse sagen: »Die Öffentlichkeit liegt in Trümmern«, oder vom postfaktischen Zeitalter sprechen, verwenden wir die Sprache der Resignation, die weit in die gesellschaftliche Mitte hinein vorgedrungen ist. Hier sprechen Menschen, die der Auffassung sind, wir müssen für Autonomie, für Mündigkeit, für einen anderen Reifungsprozess der Gesellschaft eintreten, mit apokalyptischem Furor. Man warnt mit einer solchen Massivität, Wucht und Dramatik, dass man eigentlich nur noch zu dem Schluss kommen kann, dass sich das Engagement nicht mehr lohnt. Die apokalyptische Beschreibung des Diskurses ist dann ein weiterer Schritt zum Diskursruin.

WIR LEBEN KOMMUNIKATIONSANALYTISCH BETRACHTET IN EINER GESELLSCHAFT DER GLEICHZEITIGKEITEN.

Ich denke, der Totalpessimismus ist sachlich unangebracht, weil wir kommunikationsanalytisch betrachtet in einer Gesellschaft der Gleichzeitigkeiten leben. Es gibt die mediale Welt von Hass und Hetze, von enthemmter Aggression, von Pöbelei. Dann gibt es eine zweite mediale Welt der moralisierenden Empfindlichkeiten, besonders in manchen akademischen Milieus. Denken Sie an das Gedicht von Eugen Gomringer auf der Häuserwand einer Berliner Hochschule; es wurde übermalt, weil es als sexistisch attackiert wurde, aus meiner Sicht eine völlige Übertreibung und Fehlinterpretation des Gedichts. Hier gibt es also eine moralische oder moralisierende Hypersensibilität – jenseits der Welt von Hass und Hetze. Aber es gibt noch eine dritte Welt, für die auch Sie mit evolve stehen: Hier geht es um echte Wertschätzung, Respekt, den dialogischen Austausch und die authentische Begegnung. Diese Welt findet öffentlich kaum statt, sie hat in diesem Sinne keine große Presse, sondern sie ist in der Praxis selbst erlebbar, in Redaktionen, in Universitäten, in Unternehmen, in Schulen.

Eben deshalb denke ich, dass wir uns von diesen Dystopien wegbewegen sollten, hin zu einem anderen gesellschaftlichen Engagement der Mitte. Wir dürfen nicht zulassen, dass das kommunikative Klima von den Rändern her bestimmt und von den Lauten und Extremisten dominiert wird. Das heißt in der Konsequenz, dass sich die gesellschaftliche Mitte mit einem ganz anderen Engagement einschalten sollte.

Die engagierte Mitte

e: Welche Möglichkeiten haben wir, als Individuen aber auch im Gesellschaftlichen, diesen Diskurs der Mitte zu stärken?

BP: Als Individuen haben wir die Möglichkeit, uns unserer eigenen kommunikativen Praxis zu vergewissern. Wir können uns darüber klar werden, wie wir aus diesem Abwertungsspiel aussteigen können, wie wir uns der Gefühlsansteckung und der hysterisierenden Kommunikation entziehen. Wir können dialogische Kompetenzen einüben, die für Friedemann Schulz von Thun bedeuten, dass die Wahrheit zu zweit beginnt. Wir können das Zögern lernen und uns nicht in den »kommentierenden Sofortismus« hineinbegeben, wie ich dies nenne. Das heißt: nicht zu schnell reagieren, entschleunigen, den zweiten Gedanken denken und nicht der ersten Reaktion, dem unmittelbaren Reflex zu folgen. Und vor allem die pauschale Abwertung des Anderen, die Diffamierung des »ganzen Menschen« vermeiden. Denn das ist ein sicheres Rezept, um ein Gespräch zu ruinieren, weil die pauschale Abwertung immer kränkt.

Das sind aus meiner Sicht nützliche Maximen, die sich auf der Ebene des Individuums einüben lassen, und auf der Ebene der Gesellschaft braucht es eine Bildungsoffensive. Wir brauchen ein eigenes Schulfach, in dem Medienmündigkeit auf der Höhe der digitalen Zeit eingeübt wird. Dazu gehören Inhalte wie die Medien- und Machtanalyse, in der wir Medien als Werkzeuge der Welterkenntnis verstehen lernen, von der Erfindung der Schrift bis zum Buchdruck, von der Zeitung zum Radio bis hin zum Fernsehen und zum Internet. Medien, so gilt es zu erkennen, bestimmen darüber, wie wir miteinander debattieren, was wir unter Autorität und Wahrheit verstehen. Ein zweiter Aspekt wäre die Medienpraxis, also die Auseinandersetzung mit der Frage: »Was ist eine seriöse Quelle?« »Was verdient, überhaupt veröffentlicht zu werden?« »Was ist ein ausreichend respektvoller Streit?« »Was ist ein sinnvolles Argument?« Im Grunde genommen gilt es, die alte Kunst der Rhetorik wieder an die Schulen und Hochschulen zurückzuholen. Ein weiterer Aspekt ist eine angewandte Irrtumswissenschaft, um den eigenen Geist gegen die Verführung durch den Irrtum, die Anfälligkeit durch Manipulation und Propaganda zu immunisieren.

WIR DÜRFEN NICHT ZULASSEN, DASS DAS KOMMUNIKATIVE KLIMA VON DEN RÄNDERN HER BESTIMMT WIRD.

e: Gleichzeitig warnen Sie vor einer gewissen Mythologisierung des Dialogs. Eine Haltung, die sagt, wir müssen einfach alles mit allen bereden und jeden in den Diskurs einbeziehen. Aus Ihrer Sicht ist das genauso eine Sackgasse wie die Polarisierung. Warum?

BP: Weil es Menschen gibt, mit denen man nicht wird reden können, also Extremisten oder Ideologen, die verhärtet sind und ein Minimum an dialogischer Offenheit nicht entwickeln wollen oder können. Man wird nicht alle für den Dialog gewinnen können und es wäre aus meiner Sicht in einer Gesellschaft, die auch Tabus und rote Linien braucht, nicht einmal sinnvoll, so zu tun, als könne man mit allen ein Gespräch führen. Überdies können wir im Miteinander-Reden entdecken, wie unterschiedlich wir tatsächlich sind. Schon Sokrates sagte: »Sprich, damit ich dich sehe.« Im Reden und Sprechen wird der Andere auch als Anderer kenntlich und die fundamentalen Unterschiede werden überhaupt erst wahrnehmbar, die sonst womöglich in einem Gefühl wohliger Unklarheit verborgen blieben. Deshalb sollten wir nicht so tun, als wäre Dialog immer und unter allen Umständen eine Art Weltformel zur Rettung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Das Dilemma des Dialogs

e: Aber formulieren Sie hier nicht ein sehr fundamentales Dilemma: Einerseits sprechen Sie von einer Kultur des Dialogischen, andererseits machen Sie den Punkt, dass es auch Positionen gibt, wo dieses Dialogische nicht hält. Wie kann sich in dieser Polarisierung, in der es Positionen gibt, die sich dem Dialogischen bewusst entziehen, dieses dialogische Prinzip entfalten? Wie gehen wir um mit den Grenzen des Dialogs?

BP: Durch ein Höchstmaß an Klarheit, durch ein möglichst hellwaches Bewusstsein im Umgang mit diesem Dilemma. Wir sollten versuchen, mit möglichst vielen zu sprechen, und gleichzeitig anerkennen, dass man nicht mit allen reden kann und vielleicht auch nicht mit allen reden sollte. Ein Vorschlag auf dem Weg zu dieser Klarheit ist eine Unterscheidung, die Friedemann Schulz von Thun vorschlägt: die Unterscheidung von Verstehen, Verständnis und Einverständnis. Ich glaube, das ist ein guter Dreischritt auf dem Weg zur Klärung der Dialogvoraussetzung. Bin ich bereit, den anderen zu verstehen? – sonst braucht man gar nicht erst anfangen. Bin ich bereit, ihm ein Minimum an Verständnis entgegenzubringen, seine Motive und Empfindlichkeiten nachzuvollziehen? Und: Bin ich auch mit seiner Position einverstanden? – Das ist noch einmal eine ganz andere, vollkommen offene Frage.

e: Dieses Dilemma kann man ja auch so formulieren, dass es Ihnen in Ihrer Dialogorientierung um eine Verteidigung der offenen Gesellschaft geht. Die Frage ist, wie die offene Gesellschaft ihre eigene Offenheit in Offenheit verteidigen kann?

BP: Wir brauchen eine andere Auseinandersetzungsfähigkeit in der gesellschaftlichen Mitte. Sie ist gefordert wie nie. Die gesellschaftliche Mitte muss für diese Sprache der Mäßigung und für die Techniken der Abkühlung werben. Ich persönlich glaube, dass im Zentrum die Zukunftstugend der respektvollen Konfrontation steht, von der ich schon gesprochen habe: auseinandersetzungsfähig werden – ohne pauschal abzuwerten. Wir brauchen Räume, Gelegenheiten, Orte, um dies zu trainieren. Aber wenn man die Zonen der Dialogbereitschaft ausweitet, wofür ich unbedingt plädiere, wird man am Ende nicht mit allen reden können und mit allen reden wollen. Das heißt, die offene Gesellschaft wird ihre eigenen Grundlagen der Toleranz nur dann garantieren können, wenn sie gegenüber massiver Intoleranz intolerant ist. Es ist nicht schön, sich dies einzugestehen. Aber ich habe mich viel mit politischem Extremismus beschäftigt und Ende der 90er-Jahre meine Doktorarbeit über die Sprache der Neonazis geschrieben – zu einem Zeitpunkt, als sich der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund als rechtsterroristische Organisation formierte. Dieser Erfahrung entnehme ich, dass es jenseits des unbedingten Willens, den Dialog und das Miteinander-Reden immer zu versuchen, auch Tabus und rote Linien geben muss. Letztlich geht es auf dem Weg zu diesem Reifungsschritt um eine möglichst nuancenreiche, dialektische Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, dazu gehört das Gespräch, die respektvolle Konfrontation und manchmal eben auch die Intoleranz gegenüber der Intoleranz.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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