Bei einem Auftritt im US-Fernsehen sorgten der Schauspieler Ben Affleck und der Philosoph Sam Harris vor Kurzem für einiges Aufsehen. Dabei ging es um kritische Kommentare von Harris zur Religion des Islam und wie sich Affleck als Verteidiger des Islam profilierte. Es war ein klassisches Beispiel dafür, wie zwei Perspektiven aneinander vorbeireden, wobei jede eine bestimmte Teilwahrheit beanspruchen kann. Als ich dann in Sam Harris‘ Blog die Beschreibung dieses Ereignisses las, wurde mir klar, wie nützlich eine größere integrale Perspektive auf dieses Gespräch wäre.
Der Islam manifestiert sich, wie alle großen Weltreligionen, entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe, auf der sich die jeweiligen Menschen befinden. Natürlich hat der Islam eine bestimmte Form und einen bestimmten Geschmack, der sich gleichbleibend durch alle Interpretationen zieht. Leute wie Harris betonen gern die exotischeren und kontroverseren Aspekte einer Religion, um zu provozieren oder gleich eine ganze Tradition als „schlechte Idee“ zu verwerfen. Aber genauso wie jede Tradition einen spezifischen Geschmack, eine spezifische Form hat, hat jeder Mensch eine Brille, eine Weltsicht, die bestimmte Elemente der Tradition in den Vordergrund stellt, je nach der Welt, die er oder sie eben erkennen kann. Es gibt nicht die eine Version des Islam, die entweder „gut“ oder „schlecht“ ist, sondern es gibt mindestens fünf verschiedene Versionen des Islam, und das liegt an den unterschiedlichen Verständnisebenen. Keine dieser Ebenen ist beliebig. Die Ebenen sind durchaus gleichbleibend und stehen in Beziehung zu ganz bestimmten Ebenen der psychologischen Entwicklung.
Ob wir uns auf das Werk „Stages of Faith“ des in Harvard lehrenden Forschers John Fowler beziehen oder auf die Modelle des amerikanischen Philosophen Ken Wilber, überall finden wir eine sehr ähnliche Metrik, mit der sich fünf elementare Entwicklungsstufen untersuchen lassen. Sie werden bezeichnet als: magisch (Stufe 1), mythisch (Stufe 2), rational (Stufe 3), pluralistisch (Stufe 4) und integral (Stufe 5). Jede Stufe hat bestimmte Eigenschaften und Kennzeichen, unter denen sie in der Welt in Erscheinung tritt. Außerdem gibt es von jeder Stufe gemäßigte und extreme Ausprägungen.
Der Islam manifestiert sich entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe, auf der sich die jeweiligen Menschen befinden.
In der Diskussion zwischen Affleck und Harris geht es nicht nur darum, den Unterschied zwischen Extremisten und Moderaten zu begreifen, also „gute Muslime“ gegen „böse Muslime“ zu stellen. Diese binäre Betrachtungsweise ist nicht mehr von Nutzen. Nötig ist vielmehr die kritische Einsicht, dass der Islam (und alle anderen religiösen Traditionen) sich durch einzelne Menschen verwirklicht, die sich auf unterschiedlichen Stufen der Entwicklung bewegen, mit je ihrer eigenen Weltsicht und ihrem Entwicklungsstand. Und was noch wichtiger ist: Wir müssen zu der Einsicht gelangen, dass es Wege gibt, die hervorgehoben werden sollten, weil sie Menschen helfen können, sich durch dieses Spektrum von der magischen über die mythische, die rationale und pluralistische bis hin zur integralen Version ihrer jeweiligen Tradition zu bewegen. Im Lauf dieser Entwicklung entfaltet sich die Interpretation des Glaubens von eher restriktiven, egozentrischen und ethnozentrischen Ausrichtungen hin zu solchen die eher mitfühlend, offen und weltzentrisch sind.
Harris sollte es erlaubt sein, sein Urteilsvermögen einzusetzen und damit bestimmte Aspekte des Islam zu kritisieren, ohne dass Affleck wie ein schlimmer Fundamentalist auf ihn losgeht. Um aber etwas zu erreichen, müsste Harris, zumindest aus einer integralen Perspektive heraus betrachtet, seine Kritik mit einem Verständnis der unterschiedlichen Entwicklungsstufen verbinden. Auf diese Weise vorgebracht, würde jegliche Kritik eher wie eine Ermutigung für die Menschen wirken, sich weiter zu entwickeln und zu wachsen, statt Entzweiung hervorzurufen und den Wunsch, die anderen auszulöschen.
Wenn wir all das bedenken, dann sehen wir die Aufgabe für diejenigen, die eine ganzheitliche, integrale Weltsicht haben: nämlich ein „Förderband“ innerhalb ihrer jeweiligen Tradition zu entwickeln. Das bedeutet, direkt mit Imamen, Rabbis, Pfarrern, Lamas und Swamis zusammenzuarbeiten, um das gesamte Spektrum der Interpretationen unter der Perspektive der Entwicklung anzuerkennen. Indem diese Förderbänder weltweit und in allen spirituellen Traditionslinien bekannt gemacht werden, schaffen wir Wege für Einzelne und für Gemeinschaften, innerhalb ihrer spirituellen Tradition zu bleiben und gleichzeitig eine Verbindung mit ihrer eigenen rationalen (und noch weiter gehenden) Ausrichtung zu finden.
Das ist eine Brücke der Hoffnung, die die Kluft zwischen Religion und Vernunft überspannt. Viele von uns sind bereits darüber gegangen. Die integrale Theorie bietet eine Perspektive, eine Möglichkeit, uns allen den Weg etwas zu erleichtern.