Wie wir zu Waren werden
In unserer Kultur wird das Äußerliche des Körpers insbesondere für Frauen oft zum Maßstab, um Selbstwertgefühl und Anerkennung zu finden. Für die Politologin Regula Stämpfli ist es ein „Jahrgangs-, Kilo- und Zentimeterverhältnis“, das unser Menschsein eindimensional verzerrt.
evolve: In Ihrem Buch „Die Vermessung der Frau: Von Botox, Hormonen und anderem Irrsinn“ untersuchen Sie die Wirkung von Körperstandards auf Frauen. Frauen finden sich immer mehr in einer Situation, wo sie nicht das „richtige Maß erreichen“. Können Sie mehr darüber sagen? Und denken Sie, dass einige Frauen anfälliger für diesen Druck von außen sind?
Regula Stämpfli: Alle Frauen sind betroffen, immer mehr auch die Männer. Wir leben in einer Zeit, die so sehr auf Aussehen fixiert ist, dass niemand wirklich merkt, wie sehr wir Menschen zu Waren umfunktioniert werden. Frauen sind heutzutage wie Joghurts, die ein bestimmtes Datum, eine bestimmte Konsistenz, Größe, Dichte etc. aufweisen müssen. Ich nenne dies „Jahrgangs-, Kilo- und Zentimeterverhältnis“. Selbstverständlich haben die Frauen und immer mehr Männer Probleme, diesen normierten und sterilen Warenanforderungen gerecht zu werden. Aber statt dass sie die Gesellschaft ändern, werkeln sie an sich selber rum. Auch medial ist der Druck im Vergleich zu vorigen Jahrhunderten massiv gestiegen. Frauen werden überall mit einem Idealkörper konfrontiert, den selbst die dargestellten Models nicht aufweisen können.
e: Woher kommt diese Fixierung auf den Körper der Frau?
RS: In meiner Dissertation zur Stellung der Frauen von 1914 bis 1945 formulierte ich den Satz: „Männer verkörpern den Staat, Frauen die Kultur.“ Die Körperlichkeit von Frauen war immer eine Frage der Kultur. Frauen haben keinen Körper, sie müssen den Körper je nach Gesellschaftsidealen anpassen. Klar doch: Die Kultur prägt auch die Männer und deren Einstellungen zu ihrem Körper. Doch die Frauen wurden über die Geschichte hinweg aufgrund ihrer mangelnden Staatlichkeit – sprich kein Wahlrecht, kein Erbrecht, kein eigenes Vermögen, kein Recht auf Bildung etc. – immer wieder auf ihren Körper verwiesen. Erst die Französische Revolution brachte ein neues Verständnis vom Menschen, das sich schließlich im 20. Jahrhundert so äußern konnte, dass auch Frauen endlich am Staat teilnehmen durften. Doch nach wie vor steht bei Frauen der Körper im Vordergrund. Ein Beispiel: Die erfolgreichste und damit best verdienende Bloggerin Chiara Ferragni macht ihr Geschäft mit Bildern. Gut aussehen und wenig Text war noch immer ein Erfolgsrezept für Frauen (lacht).
Statt die Gesellschaft zu ändern, werkeln wir an uns selber rum.
e: Viele Frauen scheinen nach einer Erfahrung tieferer Verkörperung zu suchen. Es gibt viele Selbsterfahrungsworkshops, Yogakurse u. Ä., die sich an diese Sehnsucht nach Verkörperung richten. Ich frage mich, ob dieser Versuch, sich mehr mit dem Körper zu verbinden, aus einer Haltung der Trennung heraus geschieht und somit eher ein Teil des Problems ist – die Trennung zwischen Geist und Körper. Was denken Sie dazu?
RS: Sich selber spüren, ist ein großes Anliegen von vielen Frauen. Dies rührt daher, dass sich viele Frauen in ihrem Körper nicht wohlfühlen – es sei denn, sie sind frisch verliebt, schwanger oder ungewöhnlich selbstsicher. Ich denke nicht, dass Frauen mit dem Wunsch nach Embodiment die schmerzhafte Dualität von Geist und Körper weitertreiben. Ich interpretiere diese Sehnsucht mehr als die Suche nach der Überwindung des Fremden, das sich via äußerliche Einflüsse wie Schönheitsideale, Macht und Geld immer wieder sprichwörtlich in die Körper und in die Seele von Frauen einfrisst.
e: Ja, und ich denke, diese Dualität ist auch kennzeichnend für die Kultur, in der wir leben. Wie Simone de Beauvoir sagte: Frauen wurden in die den Kulturen, die von Männern geschaffen wurden, in die Rolle der „Anderen“ gedrängt. Welche Wirkung hat dies auf die Subjektivität der Frauen?
RS: Männer sehen, Frauen werden gesehen – also sehen die Frauen sich nur dann, wenn sie gesehen werden. Es ist immer eine Selbstdefinition „second hand“. Nur wenige Frauen sind autonom und scheren sich wie ich nicht um die Meinungen anderer, sondern um die eigene Haut. Ich würde beispielsweise eher für meine Unabhängigkeit als für meine Schönheit sterben. Viele Frauen sehen dies ganz anders, weil für sie die Gesellschaft wichtiger ist als die eigene Entfaltung. Und seien wir ganz ehrlich: Wenn wir in die Geschichte schauen, wissen wir, dass Frauen oft aus Überlebensgründen keinen Subjektstatus entwickeln durften. Simone de Beauvoir war diesbezüglich unfair gegenüber den Frauen. Sie selber achtete die Frauen gerade wegen der von ihr festgestellten Objekthaltung wenig, was historisch gesehen unfein war. Denn ich bin ich überzeugt, dass sich die grässliche Erfahrung der Hexenverbrennungen tief ins kollektive Gedächtnis von Frauen eingegraben hat. Oder die Erfahrung des Einbindens der Füße in China oder die Klitorisbeschneidung in Ägypten, im Sudan und anderen islamisch geprägten Staaten. Diese kollektive und teilweise unbewusst wirkende Erfahrung von Frauen als weibliche Menschen, die, wenn sie die von der Politik und Herrschaft vorgesehenen Pfade verlassen, verstümmelt und vernichtet werden, würde ich nie unterschätzen. Welche Chance zum autonomen Subjekt haben Frauen selbst heute? Schauen Sie doch nur hin, wenn Frauen sich in einem gewissen Alter, also ab 30 Jahren, in wichtigen Themen engagieren? Meist werden sie mit Klischees fertiggemacht und ihre subjektive und autonome sachliche Kritik wird durch persönliche Attacken enteignet.
e: Wie können Frauen zu einer Ganzheit ihrer Subjektivität finden? Durch eine Integration von Geist und Körper?
RS: Werde, wer du bist – so sähe es Bild aus. Unabhängig von Alter, Rasse, Geschlecht, Größe, was auch immer. Geist und Körper sind ja nicht nur dringende Themen bei Frauen, sondern auch bei sogenannten behinderten Menschen, die uns übrigens sehr viel zeigen und erklären können, wie zauberhaft Menschen sind – egal, welches perfekte Jahrgangs-, Kilo- und Zentimeterverhältnis sie aufweisen. Kurz: Es geht nicht um die Verwirklichung der Dinglichkeit der Welt, sondern um einen anderen Blick auf die Welt, die uns allen Menschen dann viel freundlicher entgegenschauen würde. Soll ich zum Schluss ganz banal sein? Statt eine Diät zu machen, lohnt es sich zum Beispiel, einen anderen Spiegel mit schönem Licht zu kaufen (lacht). Und wenn Sie dann täglich diesem zulächeln können, lächelt Ihnen die Welt auch zu.