Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
February 2, 2024
Die Debatten der Gegenwart sind von moralischen Verurteilungen der jeweiligen Gegenseite geprägt. Warum verfangen wir uns in einem moralisierenden Schwarz-Weiß-Denken und wie finden wir Wege in wirkliche Begegnung?
Das Jahr 2023 war gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit hochkomplexer Krisen. Vom Krieg in der Ukraine über den eskalierten Konflikt im Nahen Osten bis hin zu den sozial, politisch wie ökologisch immer stärker spürbaren Symptomen der Ökosystemkrise.
Tagtäglich waren wir mit den unabsehbaren Konsequenzen vieler kleiner und großer Entscheidungen konfrontiert, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. Wer hätte 1990 gedacht, dass wenige Sätze aus politischen Spitzengesprächen rund um die Zukunft der NATO dreißig Jahre später Argumentationsgrundlage für einen russischen Angriffskrieg werden würden? Wer konnte absehen, welch grauenhafte Folgen die Akzeptanz der Hamas-Herrschaft in Gaza für Israel und die palästinensische Bevölkerung nach sich ziehen würde? Hätten die Apostel des neoliberalen Extremismus in den 1980er- bis 2000er-Jahren gleich entschieden, wenn sie sich der schwerwiegenden sozialen, politischen und ökologischen Konsequenzen ihres Handelns bewusst gewesen wären?
Umso bemerkenswerter, dass der Breitendiskurs der heutigen Situation nicht mit Kontextualisierung und Differenzierung begegnet. Stattdessen wird der zunehmenden Krisenhaftigkeit zuvorderst mit Moralisierung begegnet. Wo die Realität sich bei genauerem Hinsehen als Mosaik aus uneindeutigen Grautönen präsentiert, ermöglicht die Moral das Zeichnen eines binären, schwarz-weißen Bildes. So entsteht die Illusion einer einfachen, in richtig und falsch teilbaren Welt. Das Falsche wird Gegenstand pauschaler Missachtung – und seine Bekämpfung zum Imperativ, da es das Richtige bedroht.
Im Russland-Ukraine-Krieg wird auch zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges von beiden Seiten behauptet, der Konflikt lasse uns nichts anderes übrig als die Positionierung für die eine, richtige Seite. Im Israel-Palästina-Krieg mühen sich die Vertreter beider Seiten, Perspektive und Standpunkt der jeweils anderen Seite als per se unmoralisch zu präsentieren. Kontextualisierung und Differenzierung werden beidseitig mit Verharmlosung und Relativierung gleichgesetzt. Auch die Ökosystemkrise wird nach wie vor hauptsächlich als Folge individueller (un)moralischer Konsumentscheidungen betrachtet. Das Symbolische ist wichtiger als die Gesamtbilanz. So gelten Fleischessen und Dieselfahren als verwerflich, das Fahren von Elektroautos und das Essen industrieller Fleischersatzprodukte als gut. Und das, obwohl, systemisch betrachtet, beides unhaltbar ist und von ein und demselben Wirtschaftssystem getragen ist, das strukturell kurzfristigen Verbrauch incentiviert statt das langfristig Sinnvolle.
»Die Moral wird zum Katalysator für weitere Polarisierung und damit Eskalation.«
Der moralisierte Zugang zu den Krisen unserer Zeit, das Teilen der Welt in die Pole Richtig und Falsch, ist auch deshalb bemerkenswert, weil er in keiner Weise dazu beiträgt, diesen Krisen wirksam zu begegnen. Im Gegenteil. Im Ergebnis manifestiert er nur die bestehende Position der jeweiligen Konfliktpartei. Druck erzeugt Gegendruck, wie Joana Breidenbach mit Blick auf diese Dynamik in ihrem Beitrag zu Relational Activism schreibt. Die Moral wird zum Katalysator für weitere Polarisierung und damit Eskalation.
Weshalb erlebt das Moralisieren dennoch eine solche Hochzeit? Der moralische Diskurs lenkt uns auf wohlige Weise vom Gefühl der Ohnmacht ab. Jeder spürt, dass wir individuell nichts bewirken können. Wir stehen inmitten fundamentaler Systemkrisen, die danach verlangen, dass wir kollektiv die Grundlogik unseres Handelns hinterfragen. Das Moralisieren ermöglicht es uns, diesen unbequemen Weg zu vermeiden. Es ermöglicht allen Seiten, an ihrer jeweiligen bisherigen Logik festzuhalten und sich als Teil der richtigen Seite zu fühlen. Wo alles wegbricht, bleibt so immerhin der wohlfeile Sockel der moralisierten Identität.
Etwas Neues ist diese Strategie der moralischen Selbstüberhöhung natürlich nicht. Es ist Kern der modernen westlichen Identität, sich selbst für moralisch besser zu halten als »die Anderen«. Dieses Selbstbild war Grundlage der Kolonisierung ganzer Weltregionen. Es hat den Westen durch den Kalten Krieg getragen, und es hat nach 1990 zur blinden Entgrenzung des kapitalistischen Systems geführt.
Nicht ohne Grund reagieren die nicht-westlichen Teile der Weltbevölkerung so unenthusiastisch auf die von westlichen Politikern und Wirtschaftsvertretern vorgetragenen Reden über die Verteidigung von Universalismus, Menschenrechten und Ökologie. Schließlich haben sie über die gesamte Moderne hinweg die handfeste historische Erfahrung gemacht, dass der Universalismus des Westens das moralische Schild ist, hinter dem sich systematische ökologische und soziale Ausbeutung verbergen.
Dennoch sollte uns die aktuelle Welle der Moralisierung sorgen. Sie polarisiert nicht nur, sondern verschließt auch unser Inneres. Wenn wir die Welt moralisieren, sind wir nur noch für das resonanzfähig, was wir selbst denken und richtig finden. Wir werden also zum Fraktal der Polarisierung, die uns gesamtgesellschaftlich immer gesprächsunfähiger macht. Die Kehrseite der schwarz-weißen Moral ist deshalb die innere Verhärtung gegenüber der »falschen« Seite. Wir verurteilen, anstatt offen hinzuschauen und das uns Fremde verstehen zu wollen.
Wer moralisiert, urteilt. Wer urteilt, verhärtet. Wer verhärtet, verschließt sich dem Mitgefühl. Wer sich dem Mitgefühl verschließt, entkoppelt sich von der eigenen Resonanzfähigkeit. Wer von der eigenen Resonanzfähigkeit entkoppelt ist, reduziert den Selbstkontakt. Und so weiter. Das führt gerade in ambivalenten Krisensituationen dazu, dass ein echter Dialog zwischen den Konfliktparteien immer unmöglicher wird.
Das ist ein echtes Problem. Denn je fragmentierter und vieldeutiger unsere Welt wird, je entgrenzter und brutaler die Konflikte, desto wichtiger sind das Hinhören, der Perspektivwechsel, das Hinterfragen der eigenen Setzungen und Annahmen. Wenn wir verurteilen und uns im Gegenzug moralisch selbst überhöhen, nehmen wir nicht mehr offen wahr. Wir fühlen nicht mehr all das, was jenseits unserer eigenen Ängste und Werturteile noch als Information im Raum steht.
Umso wichtiger ist es aus meiner Sicht, weiter darauf zu beharren: Kontextualisierung ist wichtig. Differenzierung ist unabdingbar. Das offene Zuhören ist Voraussetzung für jede nachhaltige Konfliktlösung. Nur wer der »anderen Seite« innerlich – gerade auch emotional – eine Daseinsberechtigung zuspricht, kann ein Gespräch etablieren, das deeskaliert anstatt weiter zu polarisieren. Eine eigene Haltung kann man dennoch haben, sollte man sogar. Aber eben nur, wenn man bereit ist, sich ebenso kritisch zu hinterfragen wie die angebliche Gegenseite.
Im Wissen darum sollten wir uns aber davor hüten, die Moralisierenden moralisch zu verurteilen. Die Wirkung ihres Weltzugangs mag schädlich sein. Aber auch sie sind getrieben von Motiven, die Aufmerksamkeit im Dialog brauchen: Angst, Ratlosigkeit, vielleicht Wut. Alles Informationsquellen, die wichtig sind, um bewusst und ganzheitlich mit diesem historischen Moment umzugehen.