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October 19, 2016

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Ausgabe 12 / 2016:
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October 2016
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Wie der Sohn eines Wehrmachtsoffiziers zum jüdischen Glauben fand

Unser Leben ist voller unvorhersehbarer Wendungen, aber manchmal spürt man doch in alldem das Geführtsein von einer inneren Stimme, die man vielleicht manchmal nicht versteht und manchmal überhört. Wie das Aufbrechen eines seelischen Rufs ein Leben verändern kann, zeigt Bernd Wollschlaegers Lebensweg. Seine Erfahrungen werfen zugleich einen erhellenden Blick auf ein umfassenderes Leben, das Leben unserer Kultur, die Entwicklung Deutschlands in den letzten 100 Jahren.

Bernd Wollschlaeger wird 1958 in Bamberg geboren, als Sohn eines Wehrmachts- offiziers, des Panzerkommandanten Arthur Reinhard Wollschlaeger. Wie viele Wehrmachtssoldaten kam sein Vater gebrochen und desillusioniert aus dem Krieg zurück, hielt aber an den Werten seiner soldatischen Erziehung in der NAPOLA, der Nationalpolitischen Lehranstalt, der Kaderschmiede der Nationalsozialisten, fest. In dieser Atmosphäre wuchs Bernd Wollschlaeger auf, seinen Vater sah er als Helden.

Ein Ereignis verunsichert den heranwachsenden Bernd, und der Rahmen dafür ist einer dieser Lebenszufälle, die man sich nicht ausdenken kann. Denn ­Arthur Wollschlaeger, der ehemalige Wehrmachtsoffizier, mietet in Bamberg ausgerechnet im Haus der Witwe von Claus von Stauffenberg eine Wohnung, die der Familie zu günstigen Konditionen angeboten wird. Für den Vater ist Stauffenberg nach wie vor ein Verräter. Sein Porträt hängt im Hausflur und der kleine Bernd fragt sich, was es mit diesem stattlich aussehenden Mann auf sich hat, der seinen Vater so wütend macht. Eines Tages geht Bernd gegen das Verbot seines Vaters zu Nina von Stauffenberg, um es besser zu verstehen.

Dieses erste Fragen nach der Vergangenheit, der Vergangenheit seines Vaters, aber auch der deutschen Vergangenheit, ist der Beginn einer jahrelangen Suche nach der Wahrheit. In einem Nachkriegsdeutschland, in dem über die Verbrechen der Nazis und der Wehrmacht weitgehendes Stillschweigen gewahrt wird. Noch ein anderes Erlebnis der Kindheit wird prägend für Bernds weiteres Leben: Bei einem Arztbesuch in einem alten Haus in Bamberg entdeckt er ein unbekanntes Symbol, das ihn magisch anzieht: »In der Verzierung über der Tür bemerkte ich einen großen goldenen Stern. Er sah einfach und schön aus – zwei ineinander verschränkte Dreiecke, die ein Hexagramm bildeten. Noch nie zuvor hatte ich solch ein Symbol gesehen und fragte meine Mutter, was es sei. Sie hatte den Stern schon bemerkt, wandte ihren Blick ab und schien erschrocken, er schien ihr sogar Angst zu machen.«

In seinen Teenagerjahren, wo eine ganze junge Generation mehr über die Vergangenheit der Eltern erfahren will, beginnt auch Bernd, Fragen zu stellen und nach der Wahrheit zu suchen. Und wie es seinem Wesen zu entsprechen scheint und worin er wohl auch seinem Vater gleicht, tut er es mit letzter Konsequenz. Bernd liest alles, was er über die Zeit der Nazidiktatur finden kann, und vor allem auch über den Holocaust. Es stürzt ihn in eine existenzielle Krise, dass sein Volk und sein Vater solch ein unaussprechliches Verbrechen begangen oder zumindest nichts dagegen unternommen haben. Als er seinen Vater, der mittlerweile seine Erinnerungen zunehmend im Alkohol ertränkt, immer wieder darauf anspricht, erntet er zunächst Schweigen, dann Wut. Aber Bernd lässt nicht locker: »Es war falsch, dass du all die Jahre darüber geschwiegen hast. Wir können nicht einfach vergessen und weitermachen, als wäre all dies nicht geschehen. Es ist geschehen und diejenigen, die es erlitten haben, verdienen, dass ihre Geschichte erzählt wird. Du hast mich gelehrt, Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Nun ist es Zeit, auch kollektiv Verantwortung zu übernehmen und sich den Konsequenzen dieses Handelns zu stellen.«

Bernds Interesse am Judentum und am jüdischen Volk wächst unaufhaltsam, irgendetwas scheint ihn unerklärlich anzuziehen, bis er schließlich ein Friedenscamp für Juden und Palästinenser in Deutschland besucht. Dort lernt er zum ersten Mal die komplexe Lebensrealität der Menschen in Israel kennen, freundet sich mit einem Palästinenser an und verliebt sich in die Jüdin Vered. Diese Begegnungen steigern nur noch seine Faszination für das Judentum und Israel, bis er sich schließlich zu einer Reise nach Israel entschließt. Auch zu dieser Reise wird er von etwas in ihm gezogen, das er noch nicht versteht. Als er nach langer Schiffsreise zum ersten Mal den Hafen von Haifa erblickt, betet er ganz spontan so wie alle anderen Reisenden mit Tränen in den Augen und weiß nicht, warum. Er ist heimgekommen, fühlt er.

Nach den darauffolgenden Tagen in Israel, in denen er noch tiefer die unversöhnlich scheinenden Konflikte zwischen Juden und Palästinensern erfährt, ist er nicht mehr derselbe. Ein Erlebnis wird zum Vorboten einer radikalen Wandlung. Bernd steht an der Klagemauer in Jerusalem mit den vielen betenden Männern und versinkt plötzlich selbst in ein tiefes Gebet. »Sofort vergaß ich die Welt um mich herum und stellte mir die vielen Tausend Menschen vor, die im Laufe der Jahrhunderte an diesem Ort gebetet hatten. Fast konnte ich ihre Stimmen und geflüsterten Gebete hören, ihre Anwesenheit und die rhythmischen Bewegungen ihrer Körper spüren. Plötzlich bewegte sich mein Körper mit ihnen, mein Geist fand Worte des Gebetes, meine Hände berührten die Mauer, um ihre spirituelle Energie zu spüren. Ich verlor mein Gefühl für Zeit und Raum und betete mit einer Inbrunst, die ich noch nie gefühlt hatte. Ich weinte und spürte die Gegenwart Gottes in mir. Ich wurde eins mit denen, die um mich herum beteten.«

Als er aus dem Gebet »erwacht«, kommt ein alter Jude in orthodoxer Kleidung auf ihn zu und fragt ihn, woher er komme. Als er erklärt, dass er Deutscher und kein Jude sei, antwortet ihm der Mann mit eindringlichem Blick: »Ich habe gesehen, wie du gebetet hast. So kann nur ein Jude beten. Wenn du kein Jude bist, wie du sagst, dann hast du vielleicht die Seele eines Juden.« Dann erklärt er Bernd, dass es in der jüdischen Mystik die Idee gebe, dass sich die Seele eines Juden in einem Nicht-Juden verkörpern könne.

Diese Reise nach Israel treibt einen tiefen Keil zwischen Bernd und seine Eltern. Er beginnt ein Medizinstudium, das ihn nicht erfüllt. Vered teilt ihm in einem Brief mit, dass sie einen anderen Mann kennengelernt hat. Bernd fühlt sich verloren. Bis er den Entschluss fasst, wieder zu dem Davidstern zurückzukehren, der ihn als Kind so berührt hat. Hinter der Tür trifft er auf Männer der jüdischen Gemeinde Bambergs, er besucht die Synagoge und immer mehr reift seine Liebe zum Judentum und zum jüdischen Glauben und sein Wunsch, zum Judentum zu konvertieren. Er durchläuft einen langen Prozess der inneren Klärung und der Rituale, bis er schließlich in die Gemeinschaft des jüdischen Glaubens und des jüdischen Volkes aufgenommen wird – er, der Sohn eines Wehrmachtsoffiziers, dem diese Entscheidung seines Sohnes das Herz brechen wird. Bis zum Tod des Vaters finden sie keine Versöhnung, während Bernd seinen Weg mit allen Konsequenzen weitergeht. Er siedelt nach Israel um, gründet eine Familie, arbeitet als Zahnarzt und dient schließlich auch in der Armee Israels.

Schon bald fühlt sich Bernds Frau in Israel nicht mehr sicher und die Familie zieht in die USA, nach Florida, wo Bernd Wollschlaeger heute lebt. Vor Jahren kam er zum ersten Mal wieder nach Deutschland zum Grab seiner Eltern. Eine Aussöhnung war zu Lebzeiten nicht möglich, zu radikal hatte Bernd mit der Welt seiner Eltern gebrochen. »Ich versuchte, den Schmerz zu spüren, den mein Vater gefühlt haben musste, als er seinen Sohn verlor, und ich vergab ihm und mir selbst unsere Unfähigkeit, miteinander zu sprechen. Ein einfaches Wort, eine Geste, ein Zugeben von Fehlern, ein Versuch, mich zu verstehen – all das hätte uns vielleicht den Weg zu einer echten Beziehung eröffnet. Aber es sollte nicht sein, und nun stand ich hier, um den Riss zu heilen oder zumindest zu verstehen.«

Bernd Wollschlaegers Geschichte ist ein Vermächtnis dafür, dass »Veränderung möglich ist, gegen alle Widerstände«, so der Untertitel seines Buches »A German Life«, das im Frühjahr auch in deutscher Übersetzung erscheinen wird. Wenn wir, so möchte man hinzufügen, auf den tiefen Ruf der eigenen Seele hören.

»Ich verlor mein Gefühl für Zeit und Raum und betete mit einer Inbrunst, die ich noch nie gefühlt hatte.«

Author:
Mike Kauschke
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